Stätten des Leids

Stätten des Leids

Im Konzentrationslager Flossenbürg sind über 30.000 Häftlinge ermordet worden. Nach Jahrzehnten der Verdrängung ist das Gelände heute ein Ort der wahrhaftigen Erinnerung

7. 5. 2015 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Waggon mit weiblichen KZ-Häftlingen auf dem Bahnhof Roztoky bei Prag am 30. April 1945 (Quelle: Mittelböhmisches Museum, Roztoky)

„Ich weiß, dass ich gelaufen bin, gelaufen, gelaufen entlang der Strecke und dass ich überhaupt nicht wusste, wohin ich gehe. Als ich irgendeine Ansiedlung sah, irgendein Haus oder so, da hatte ich Angst dorthin zu gehen, weil ich dachte, ja die Deutschen, was werden sie mir wohl antun.“ So erinnert sich Eva Erbenová, eine tschechische Jüdin, an die Situation, als sie sich im Frühjahr 1945 auf dem Todesmarsch eines Morgens vergessen und verlassen alleine auf den Weg in die Heimat machte. Der Tross war offenbar in aller Frühe aufgebrochen und hatte die in einer Stallecke Schlafende unbemerkt zurückgelassen. Das muss für sie ein Glückstag gewesen sein, denn sie überlebte, emigrierte über Paris nach Israel und kann ihre Geburtstage mit drei Kindern, neun Enkeln und elf Urenkeln feiern.

In der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Flossenbürg nahe der deutsch-tschechischen Grenze erfährt der Besucher in zwei hervorragend gestalteten Dauerausstellungen über dieses und viele andere Schicksale bedrückende Einzelheiten. Vor 1995, als der 50. Jahrestag der Befreiung begangen wurde und der Freistaat Bayern erstmals zu einer offiziellen Gedenkfeier einlud, hätten noch die meisten bei der Erwähnung des KZ Flossenbürg gestutzt oder nachgefragt, denn es war in den Nachkriegsjahrzehnten nahezu in Vergessenheit geraten. Dabei war dieses KZ mit seinen 92 Außenlagern, davon viele auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik, keineswegs unbedeutend. Über 100.000 Häftlinge waren hier gefangen, rund 30.000 wurden ermordet oder erlagen den unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, darunter etwa 4.000 Tschechen.

Noch vor dem Kriege, Anfang Mai 1938, wurde das KZ Flossenbürg gegründet. Ausschlaggebend für die Wahl des Ortes war das reiche Granit-Vorkommen in der unmittelbaren Umgebung. Die schon lange bestehenden Steinbrüche und Steinmetzbetriebe hatten sich mit ihren Lieferungen für den Ausbau des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg hervorgetan. Die weiteren megalomanischen Bauvorhaben der Nazis ließen die Nachfrage nach Granit derart ansteigen, dass bei dem seit Mitte der dreißiger Jahre zunehmendem Arbeitskräftemangel in der Nazi-Logik die Errichtung eines KZ – ebenso wie schon ein knappes Jahr zuvor im Falle des KZ Buchenwald – die Lösung bringen sollte. Die Häftlinge, deren Zahl schon 1938 rasch auf weit über 1.000 anwuchs, wurden in der Anfangsphase je zur Hälfte für den Aufbau des Lagers und in den Steinbrüchen eingesetzt. Dort „arbeiteten die Gefangenen zusammen mit zivilen Steinarbeitern, wobei die Häftlinge die härtesten und gefährlichsten körperlichen Arbeiten verrichten mussten“, sagt Jörg Skriebeleit, seit 1999 Leiter der Gedenkstätte. Zahlenmäßig dominierten unter den Gefangenen zunächst Schwerkriminelle, die aus anderen Lagern für das Aufbaukommando Flossenbürg abgeschoben wurden. Später ging der Anteil dieser Häftlingsgruppe immer mehr zurück, aber aus ihnen rekrutierte die SS die Funktionshäftlinge für die „Häftlingsselbstverwaltung“, ein bewährtes Mittel zur brutalen Drangsalierung der großen Masse der Unglücklichen.

Unterste Hierarchiestufe

Die ersten nicht-deutschen Häftlinge wurden am 18. Januar 1940 von der SS vom KZ Sachsenhausen nach Flossenbürg überstellt: zehn tschechische Studenten, die die Gestapo nach den Demonstrationen vom November 1939 zusammen mit über 1.000 weiteren Studenten verhaftet hatte. Wenige Wochen später nahm die Gestapo 150 junge Männer aus dem nahen Domažlice (Taus) als Geiseln – die ersten Häftlinge überhaupt, die nicht aus einem anderen Lager überstellt, sondern unmittelbar in Flossenbürg eingeliefert wurden.

Während der Kriegsjahre veränderte sich die Zusammensetzung der Häftlinge, die Schwerpunkte der Zwangsarbeit sowie die Struktur und Ausdehnung des Lagers in mehreren Schüben erheblich. Seit Anfang 1941 nahm die Zahl der polnischen Gefangenen stark zu, mit Beginn des Russlandfeldzugs setzte dann die Einweisung sowjetischer Kriegsgefangener ein. Beide Häftlingsgruppen bildeten zusammen mit den vergleichsweise wenigen jüdischen Gefangenen die unterste Stufe der Lagerhierarchie, waren mehr als andere den täglichen Misshandlungen ausgesetzt und mussten mehrere Wellen willkürlicher Gruppenexekutionen über sich ergehen lassen. Je länger der Krieg dauerte, desto dringender wurden der Bedarf der Rüstungsindustrie und die Notwendigkeit, wegen des zunehmenden Arbeitskräftemangels auf KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter zurückzugreifen. Dies geschah einerseits durch die Verlagerung von Rüstungsproduktionen in die Konzentrationslager; so verlegte das Regensburger Messerschmitt-Werk immer mehr Teile seiner Flugzeugproduktion nach Flossenbürg. Aber vor allem ermöglichten es die seit 1942 entstehenden Außenlager, Häftlinge in großer Zahl an die Standorte der Betriebe zu transferieren und in der Produktion einzusetzen.

Allein dem nun zum „Stammlager“ promovierten KZ Flossenbürg unterstanden bis 1945 insgesamt 92 Außenlager, davon 18 auf dem heutigen Gebiet Tschechiens und damit die meisten der dort befindlichen 38 Außenlager. Die restlichen 20 Außenlager waren Ableger der KZ Groß-Rosen und Auschwitz. Zwischen den einzelnen Außenlagern gab es erhebliche Unterschiede sowohl hinsichtlich ihrer Größe, der Art der zu verrichtenden Zwangsarbeit und des Anteils der Opfer an ihrer Gesamtbelegung. Das mit Abstand größte Außenlager von Flossenbürg war dasjenige in Litoměřice (Leitmeritz). Es zeichnete sich vor allem aus durch Brutalität und Willkür der Aufseher, durch die unmenschlichen Unterkunfts- und Arbeitsbedingungen und schließlich durch die ungewöhnlich hohe Quote an Todesfällen. Dabei wurde das Lager erst ab März 1944 aufgebaut und praktisch bis in die Apriltage des Jahres 1945 erweitert.

Schlösschen mit Park

Aufgabe der Häftlinge war zunächst die Errichtung unterirdischer Produktionsstätten auf dem Gelände des nahegelegenen Kalksteinbruchs. Hierhin wurden seit Ende 1944 wesentliche Teile der Motorenfabrikation des Auto-Union-Werkes in Siegmar bei Chemnitz verlagert. In den Planungsunterlagen zur Untertage-Verlagerung der Berliner Osram AG nach Leitmeritz (es kam nicht mehr dazu) hieß es lapidar: „Die Arbeiterfrage soll mit Hilfe von KZ-Häftlingen gelöst werden.“ Die letzte Frühschicht der Motorenfabrikation trat noch am 5. Mai 1945 zur Arbeit an. Da aber versank das Lager schon im Chaos der allgemeinen Auflösung. Von zahlreichen anderen Stamm- und Außenlagern kamen unaufhörlich Gefangenentransporte an, die Häftlinge mussten zeitweise im Freien zwischen den Baracken übernachten und wurden zu weiteren Transporten nach Süden in offene Güterwagen gepfercht. Einer dieser Elendszüge fuhr über Roztoky und Prag, wo Tschechen rund 1.000 von ihnen zur Flucht verhalfen. Zum Schluss erreichte die Zahl der Häftlinge in Litoměřice mit rund 9.000 ihren Höchststand; insgesamt hat die doppelte Anzahl das Lager durchlaufen, etwa 4.500 Gefangene fanden hier den Tod. Vom 9. auf den 10. Mai befreite die Rote Armee die letzten noch verbliebenen Häftlinge: ungefähr 1.200 Kranke, zu schwach für einen Todesmarsch ins Ungewisse.

Ein in fast jeder Hinsicht konträres Beispiel stellt das Außenlager Panenské Břežany (Jungfern-Breschan) dar, 20 Kilometer nördlich von Prag. Hier blieb Lina Heydrich in einem kleinen Schlösschen mit weitläufigem Park wohnen, nachdem ihr Mann Reinhard infolge des Attentats vom 27. Mai 1942 ums Leben gekommen war, wenige Wochen nach dem Umzug der Familie in dieses Anwesen. Seit Juli 1942 waren für Umgestaltungsarbeiten Arbeitskommandos abkommandiert, überwiegend jüdische Häftlinge. Erst ab Februar 1944 wurde Panenské Břežany zu einem Außenlager von Flossenbürg: Die jüdischen Häftlinge wurden nach Terezín (Theresienstadt) verbracht, ihren Platz nahmen 15 Zeugen Jehovas aus dem KZ Sachsenhausen ein, die sodann Flossenbürger Nummern erhielten. Einer der jüdischen Häftlinge erinnerte sich später, „dass diese achtzehn Monate, oder wie lange wir dort waren, nicht so schlimm waren wie die kommenden Monate“. Alle 15 „Bibelforscher“ überlebten die Zwangsarbeit.

Die Amerikaner befreiten das Stammlager Flossenbürg am Vormittag des 23. April 1945. 1.208 der zurückgebliebenen Häftlinge konnten noch durch ärztliche Hilfe gerettet werden, für 205 kam jede Hilfe zu spät. Tausende kamen auf Todesmärschen um, allein in Bayern haben amerikanische Soldaten rund 5.000 Tote entlang der Routen entdeckt.

Milderung des Gewesenen

Der Ort Flossenbürg hatte durch das Lager einen infrastrukturellen Modernisierungsschub erfahren. Kein anderes KZ war so eng mit seiner Standortgemeinde verbunden. Zahlreiche Bewohner des Dorfes und seiner Umgebung „liehen“ sich Häftlinge zu Arbeiten auf ihren Privatgrundstücken aus. Das Konzentrationslager war laut Skriebeleit „kein exterritorialer Ort, es beherrschte das Dorf ökonomisch, politisch und sozial“, die Interaktion „lässt sich nur als völlige Dominanz des Lagers über den Ort charakterisieren“.

Heute ist in Flossenbürg nach Jahrzehnten der Verdrängung, Beschönigung und des Vergessens zu einem Ort der wahrhaftigen Erinnerung geworden. Zwei umfangreiche Ausstellungen wurden 2007 beziehungsweise 2010 eröffnet. Die erste informiert über die Geschichte des KZ, seine metastasenartige Außenstruktur, das Schicksal der Opfer und die oft erstaunlichen Lebenswege der Täter. In der zweiten Ausstellung erfährt der Besucher von der allmählichen Veränderung der „Erinnerungskultur“: von der „pragmatischen“ Nutzung des Geländes für den Bau von Eigenheimen – auf den „Stätten des Leids“ entstanden „Heime des Glücks“ – und für die Ansiedlung von Industriebetrieben, von einer Gestaltungskonzeption, die sich die „Milderung des Gewesenen“ und die Umwidmung des „Tals des Todes“ zu einem „Tal des Friedens“ zum Ziel setzte, hin zu einer „arbeitenden Gedenkstätte“. Diese verfolgt zwei Schwerpunkte: erstens die wissenschaftliche Erforschung des Lagers und Klärung der Schicksale der Opfer; zweitens die Bildungsarbeit am historischen Ort.

Um der starken Nachfrage nach pädagogischen Programmen besser nachkommen zu können, wurde am 26. April 2015 im Rahmen einer feierlichen Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Lagers im ehemaligen SS-Offizierskasino ein Bildungszentrum als „internationaler Lernort in der böhmisch-bayerischen Grenzregion“ eröffnet. Mit tschechischen Partnerorganisationen arbeitet die Gedenkstätte schon seit Jahren zusammen, bislang insbesondere auf dem Gebiet der archivalischen Recherche: Häftlingsdatenbanken, Sichtung von tschechischen Dokumenten, Interviews mit ehemaligen Häftlingen und Zeitzeugen. Nun wird es auch in der Bildungsarbeit zu einer noch engeren Kooperation kommen können.
Daniel Herman, der tschechische Kulturminister, mahnte in seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung, „es ist notwendig, darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei den Verbrechen und Ermordeten nicht um etwas Lebloses handelt, sondern um Schicksale von konkreten Menschen, die tatsächlich lebten und mit denen uns die Tatsache verbindet, dass jeden von uns dasselbe Schicksal treffen kann.“ Dieser Notwendigkeit kommt die heutige Gedenkstätte Flossenbürg in einzigartiger Weise nach.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hrsg.): Flossenbürg. Das Konzentrationslager Flossenbürg und seine Außenlager. München 2007

Alfons Adam: „Die Arbeiterfrage soll mit Hilfe von KZ-Häftlingen gelöst werden“. Zwangsarbeit in KZ-Außenlagern auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik. Berlin 2013

Jörg Skriebeleit: Relikte, Sinnstiftungen und memoriale Blueprints (unveröffentlichtes Manuskript, Februar 2015)

Kataloge der beiden Ausstellungen in der Gedenkstätte Flossenbürg (2008 und 2011)