Keine Kompromisse

Keine Kompromisse

Vor hundert Jahren ließ Kaiser Franz Josef den Böhmischen Landtag auflösen

25. 7. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: APZ

 

Als die Prager am 27. Juli 1913 ihre Sonntagszeitungen aufschlugen, erfuhren sie von der plötzlichen Auflösung des Böhmischen Landtags und des vom Landtag als Exekutivorgan gewählten Landesausschusses: Kaiser Franz Josef hatte am Vortag in seinem Urlaubsort Bad Ischl zwei entsprechende Verordnungen („Patente“) „kraft Unserer Regentenpflicht“ erlassen und zudem zur Fortführung der Landesverwaltung des Königreiches Böhmen eine Landesverwaltungskommission „allergnädigst zu ernennen geruht“. Da die Katholiken am 26. Juli das Namensfest der heiligen Anna feiern, gingen diese Entscheidungen als „Annenpatente“ in die Geschichte ein.

Die vom Kaiser verfügte Außer­kraftsetzung der Landesverfassung kam indes nicht wirklich unerwartet. Seit Wochen lag es förmlich in der Luft, dass die durch einen jahrelangen deutschen Boykott des Böhmischen Landtags in eine hoffnungslose Schieflage geratenen Finanzen (es hieß, zum 1. August schrumpften die Mittel in der Landeskasse auf bloße 15.000 Kronen zusammen) nach einer energischen und unverzüglichen Lösung verlangten. Von den im Nationalitätenkampf heillos verstrickten Protagonisten auf deutscher und tschechischer Seite war nach aller bisherigen Erfahrung keine plötzliche Besinnung auf ein gemeinsames Interesse zu erwarten. Deshalb leitete die deutschsprachige Zeitung „Bohemia“ ihren Kommentar vom 27. Juli mit den Sätzen ein: „Das langerwartete ist geschehen. Die kaiserlichen Patente, welche der Autonomie Böhmens ein Ende bereiten, sind in der Wiener Zeitung erschienen.“ Und die offiziöse „Wiener Zeitung“ selbst erläuterte, die kaiserlichen Verfügungen bewegten „sich auf einer Linie (…), die nicht innerhalb, sondern neben der Landesverfassung verläuft.“ Ganz ähnlich sahen es auch die tschechischen „Národní listy“ („Nationalblätter“).

Will man nachzeichnen, welche Entwicklungslinien schließlich zu diesem Ergebnis, mit dem niemand so recht zufrieden sein konnte, führten, so kann man sein Fernglas eigentlich beliebig weit in die Vergangenheit richten, aber auch in die verschiedensten Himmelsrichtungen.

Der Preußisch-Österreichische Krieg von 1866 und der folgende Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn von 1867 sind die ersten entscheidenden Wegmarken bis 1913. Die Niederlage in der Schlacht bei Königgrätz (Hradec Králové) Anfang Juli 1866 bedeutete für Österreich auch das Ausscheiden aus dem Deutschen Bund und damit die Notwendigkeit, eine neue Balance der Nationalitäten im Vielvölkerstaat auszutarieren: Die Deutschen im Habsburgerreich sahen sich unverhofft ihres gesamtdeutschen Rückhalts beraubt, während die anderen Völker die Chance erkannten, dem geschwächten Wien substantielle Zugeständnisse in Richtung auf nationale Autonomie abzuringen.

Die Schaffung der Doppel­monarchie in zwei etwas unförmige Hälften, nach dem Grenzflüsschen Leitha auch Zisleithanien und Transleithanien genannt, nagte freilich sehr am tschechischen Selbstbewusstsein: Erschien doch nun die Wenzelskrone gegenüber der Stephanskrone als minderwertig, das Königreich Böhmen nur noch mit Triest oder Kärnten auf einer Augenhöhe! Der österreichisch-ungarische Dualismus geriet zu einer Staatsdoktrin auf Kosten besonders der Tschechen, denn er legte Zisleithanien ein kaum zu lösendes Dilemma in die Wiege: Kompromisse imSinne der wachsenden nationalen Ambitionen der nichtdeutschen Völker waren nur denkbar bei einem gleichzeitigen reziproken Verzicht der Deutschen auf Elemente ihrer Vorrangstellung.

Vor diesem Hintergrund kommt das Scheitern der deutsch-tschechischen Ausgleichsversuche nicht überraschend. Schon der erste und eigentlich umfassendste Ansatz endete im Herbst 1871 in Trümmern. Und das, obwohl die Tschechen in vielerlei Hinsicht über den eigenen Schatten gesprungen waren. Zunächst schien im August 1871 die Einigung zwischen der Krone und der „böhmischen politischen Nation“ über 18 sogenannte „Fundamentalartikel“ eine Neuregelung der staatsrechtlichen Stellung der böhmischen Länder in greifbare Nähe gerückt zu haben. Der Umfang der tschechischen Zugeständnisse (unter anderem die Anerkennung der bislang abgelehnten dualistischen Ordnung und der Verzicht auf die Gleichstellung mit der Stephanskrone) löste allenthalben Verwunderung aus. Möglicherweise waren die Tschechen auch hoffnungsvoll gestimmt durch das im September 1871 feierlich erneuerte Versprechen des Kaisers, sich zum König von Böhmen krönen zu lassen, eine seit langem in Prag erhobene Forderung, um dem staatsrechtlichen Status der böhmischen Länder allerhöchste Anerkennung zu verschaffen.

Umso größer war die Empörung auf tschechischer Seite, als der Kaiser Ende Oktober 1871 seine Zusagen widerrief. Eine Entscheidung, zu der ihn in seinem Kronrat vor allem sein Kanzler Beust und der ungarische Regierungschef Andrássy drängten. Die Erfahrung von 1871 hat sowohl das Verhältnis der Tschechen zum Kaiser – er galt fortan als „treuelos“ – als auch ihre Loyalität zu Österreich nachhaltig beschädigt. Unter dem Strich war die Situation nun schlechter als zuvor. Einen weiteren Versuch zu einem tschechisch-österreichischen Ausgleich im staatsrechtlichen Sinne gab es danach nicht mehr. Was nun folgte, waren Versuche, zu einem Ausgleich zwischen den Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern zu kommen. Dabei nahm die Sprachenfrage einen immer wichtigeren Platz ein. Begleitet wurden die Ausgleichsbemühungen freilich von einer wiederkehrenden, von beiden Seiten je nach aktueller taktischer Situation im Wechsel betriebenen Obstruktionspolitik im Prager Landesparlament und im Wiener Reichsrat.

Eine Art „Politik der kleinen Schritte“ brachte für die tschechische Seite gewisse Fortschritte. Namentlich in der Sprachenfrage machten die Tschechen Boden gut, Wahlrechtsreformen kamen ein gutes Stück voran und stärkten vor allem die Stellung der Tschechen. Dies, zusammen mit angeblichen statistischen Nachweisen einer höheren Geburtenrate der Tschechen, bewirkte auf deutscher Seite Ängste vor einer allmählichen „Slawisierung“ der böhmischen Länder und damit eine zunehmend erbitterte Opposition gegen den Ausgleichsgedanken. Eine eindrückliche Probe ihrer Abwehrhaltung lieferten die Deutschen in der sogenannten Badeni-Krise von 1897. Anlass waren die Sprachverordnungen des österreichischen Ministerpräsidenten vom April 1897, mit denen beide Landessprachen in Böhmen und Mähren im inneren und äußeren Dienstverkehr der Behörden gleichgestellt wurden. Dies hatte zur Folge, dass die Beamten auch in den rein deutschen Gebieten beide Sprachen beherrschen mussten. Viele deutsche Städte erlebten massenhafte Protestaktionen, im Wiener Reichsrat kam es zu Tumulten, auf den Wiener Straßen zu Unruhen. Badenis Sturz brachte auf der anderen Seite die Tschechen in Prag in Rage und auf die Straße, bis schließlich der Ausnahmezustand verhängt wurde.

Die Regierung in Wien musste sich, angesichts der wieder auflebenden Obstruktionspolitik in den Parlamenten, immer stärker auf Paragraf 14 der Reichsverfassung stützen und mit Notverordnungen regieren, um Verwaltung und Finanzen einigermaßen in Gang zu halten. Trotzdem sahen die Folgejahre unter rasch wechselnden Ministerpräsidenten eine Reihe von neuen Ansätzen, teils auch innovative Ideen, um in der Sprachenfrage Kompromisslinien zu finden, doch letztlich führten die Verhandlungen immer wieder auf ein totes Gleis. Bei der Betrachtung der einzelnen Etappen fühlt man sich unwillkürlich an die Brüsseler Verhandlungsnächte der Jetztzeit erinnert: Die Materie ist hochkomplex, sie wird deshalb in viele Einzelpunkte zergliedert, die nacheinander im Verhandlungswege abgearbeitet werden; ist bei einem Punkt Einigkeit erzielt, legt man ihn als „erledigt“ beiseite und wendet sich dem nächsten zu. Aber nichts ist wirklich unter Dach und Fach, solange nicht in allen Fragen Einigkeit erzielt ist. Der Unterschied ist: In Brüssel gelingt es in der Regel, am Ende das Gesamtpaket zu schnüren, im Kampf zwischen Deutschen und Tschechen brach dagegen das kunstvolle Gebäude meist zusammen, weil es bei den letzten „Steinen“ an Verständigungsbereitschaft fehlte.

In eben diese Situation taumelte Böhmen einmal mehr im Jahre 1913. Fürst Thun-Hohenstein verlor nämlich als Statthalter in Böhmen zu Beginn jenes Jahres nach mühevollen Ausgleichsverhandlungen die Geduld, da sie sich wie schon oft in den letzten Fragen eines umfassenden Pakets verhakt hatten. Eine Einigung erschien jedoch diesmal nach bald fünfjähriger Obstruktion der deutschen Mitglieder des Landtags unbedingt geboten, da dessen Beschlussunfähigkeit Böhmen finanziell auszubluten drohte – was von den Deutschen übrigens durchaus beabsichtigt war. Zunächst erarbeitete Thun mit dem Führer der Jungtschechen Karel Kramář (später erster tschechoslowakischer Ministerpräsident) einen Lösungsvorschlag, der den Landtag nicht angetastet hätte, sondern nur einen neuen Landesausschuss, ernannt vom Kaiser aus Abgeordneten des Landtags, installiert hätte. Nachdem dieser Plan am tschechischen Widerstand scheiterte, beschritt Thun mit der Wiener Regierung den Weg, der zu den „Annenpatenten“ und damit zur Einsetzung einer Beamtenkommission zur Verwaltung des Landes führte.

Dieser Weg lag zwar außerhalb der Verfassung, aber er war im Wortsinne not-wendig: Die Sanierung der Landesfinanzen wurde – unter anderem mit Steuererhöhungen und der Einführung einer neuen Bierabgabe – erreicht. Natürlich stießen die Patente auf scharfe Proteste, bei den Tschechen etwas schärfer und grundsätzlicher, bei den Deutschen mehr mit Blick auf die Ausgestaltung im Einzelnen. Doch im Vergleich zur Badeni-Krise oder zur Situation nach dem Scheitern des „großen“ Ausgleichs 1871 blieben die Proteste verhalten. Niemand konnte freilich im hektischen Sommer 1913 wissen, dass der böhmische Landtag nie mehr zusammentreten sollte, und die Deutschen ahnten noch nicht, wie großzügig die Ausgleichskonzepte waren im Vergleich zu den Bedingungen, unter denen sie sich nach 1918 in der neuen Tschechoslowakei wiederfanden. Oder ahnte es ihre Zeitung „Bohemia“? Sie titelte am 27. Juli 1913 „Der Schritt ins Dunkle“.

Karl W. Deutsch, 1912 in eine deutsch-jüdische Familie geboren, 1938 in die USA emigriert und dort über Jahrzehnte eine der herausragenden Gestalten der Politikwissenschaft, brachte die Tragödie auf den Punkt, indem er hinwies „auf die besondere Rolle der politischen Elite eines großen Teils der deutschen Minorität in Böhmen, die den Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen in der österreichisch-ungarischen Monarchie intensivierte und gegen alle von (…) Wien vorgebrachten Kompromissversuche, von den Tagen der Kabinette von Hohenwart und Badeni bis in die letzten Jahre der Monarchie, opponierte. Die Wiedergeburt dieser extremen Haltung findet sich in der bemerkenswerten Popularität der Hitler-Bewegung unter den Sudetendeutschen während der 30er Jahre.“

AUFFÄLLIGE PARALLELEN

Kaiser Franz Josef setzte als souveräner Monarch, angewidert von den zerstrittenen Parteien im Parlament und von einer zwar gewählten, aber unfähigen Exekutive, im Jahre 1913 eine selbst ausgewählte Exekutive ein. Dabei handelte er gegen den Willen der politischen Klasse und aus seiner Sicht einzig im Interesse des Landeswohls. Wahlen zu einem neuen Landesparlament sollten zu einem späteren geeigneten Zeitpunkt stattfinden. Danach sollte alles wieder in den normalen verfassungsmäßigen Bahnen verlaufen. Manches erinnert in dieser Hinsicht an die aktuellen politischen Ereignisse und die von Präsident Miloš Zeman ernannte Übergangsregierung. Auch das tschechische Staatsoberhaupt handelte gegen den Mehrheitswillen des Parlaments. Seine Entscheidung bezeichnete er als „die für die Beruhigung der Lage geeignetste“.