„Die goldenen Zeiten sind vorbei“

„Die goldenen Zeiten sind vorbei“

Auszug aus der letzten Rede von Karel Schwarzenberg als Parteivorsitzender

2. 12. 2015 - Text: Jan NechanickýÜbersetzung: Jan Nechanický; Foto: TOP 09

 

„Wir sind eine Partei, die sich nicht fürchtet und keine Angst davor hat, Schritte zu wagen, die vielleicht der öffentlichen Meinung widersprechen. Schritte, die vielleicht einer durchaus nachvollziehbaren Lust, das Leben zu genießen, widersprechen. Es sind Schritte, die wir unternehmen, wenn wir sie für unser Land als nötig erachten. Und sicherlich ist nun die Zeit für solche Schritte angebrochen, für große Herausforderungen. Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass die 25 Jahre nach 1990 eine goldene Zeit in unserem Leben waren. Aber wie alle goldenen Zeiten, neigt sich auch diese ihrem Ende zu. Jetzt kommen schwierigere Zeiten, sowohl für Europa, als auch für die Tschechische Republik und sicherlich auch für unsere Partei. Das Wichtigste ist – dabei denke ich jetzt an die Äußerungen anderer Parteien oder einiger Politiker in unserem Land –, das Allerwichtigste ist: keine Angst zu haben. Das Credo unseres ersten Präsidenten Masaryk war: „Nebát se a nekrást!“ – „Keine Angst haben und nicht stehlen!“, und er hatte Recht. Vom Stehlen reden wir jetzt nicht, darüber wurde schon viel gesagt. Ich sehe jetzt aber, dass wir uns auch fürchten, dass hier viele Politiker Angst predigen und Hass, der mit Angst immer verbunden ist. Lasst uns furchtlos sein, lasst uns Menschen lieben, das ist die einzig richtige Politik im Sinne unserer Partei. (…)

Jetzt, da wir mehr als ein Vierteljahrhundert wieder in Freiheit leben, vergessen wir manchmal, was es heißt, nicht frei zu sein. Wir vergessen, was es bedeutet ständig von den Entscheidungen anderer abhängig zu sein. Ich bitte Sie darum, gerade jetzt daran zu denken. Jede Generation (…) hatte mit einer großen Herausforderung zu kämpfen und an diesem Kampf hat sich gezeigt, wie stark ihre moralische Basis war. Im Falle unserer Großväter war diese Herausforderung der Nazismus, unsere Väter hatten mit dem Kommunismus zu kämpfen und auch uns steht nun eine Herausforderung bevor: die Flüchtlingskrise in Europa.

Ich möchte sie inständig um etwas bitten: Denken Sie daran, dass aus jedem von uns ein Flüchtling werden kann. Viele unserer Landsleute haben dieses Schicksal geteilt, auch ich selbst war eine Zeit lang ein Flüchtling. Jeder kann in so eine Situation geraten. Dann ist er dankbar, wenn das Gastland ihn freundlich und gütig aufnimmt. Die Tschechen hatten solche Erfahrungen mehrmals gemacht – im Jahre 1938, nach 1948 und nach 1968. Lasst also auch uns freundlich und gütig sein. Diese Frage ist ein wirklicher Prüfstein unseres Charakters. Das heißt natürlich nicht, dass wir unsere Vorsicht und unsere Sicherheit aus den Augen verlieren dürfen. Aber das ist eine andere Sache. Wir sollten im Kopf behalten, dass die, die flüchten, vor den Mördern, vor dem Islamischen Staat flüchten. Und dass hier und da ein Agent des IS sein kann – meine Damen und Herren, aus unserer Geschichte wissen wir, dass Agenten sich überall in der Gesellschaft verstecken können.

Wir sollten also nicht überrascht sein, wenn unter 100.000 Flüchtlingen hier und da ein Agent auftaucht. Die Mehrheit flüchtet aber aus Angst um ihr Leben oder ihre Familie. Ich möchte nicht, dass wir in Europa den Ruf einer undankbaren Nation haben. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank den jungen tschechischen Leuten aussprechen, die nach Serbien, Slowenien, Kroatien oder Ungarn gefahren sind und dort in den Flüchtlingslagern arbeiten. Sie sind es, die die Ehre unserer Nation retten. Die Ehre, die bei uns durch mehrere Äußerungen beschmutzt wurde.

Ich wiederhole es noch einmal, als Parteivorsitzender am Ende seiner Amtszeit möchte ich Sie bitten: halten Sie sich bitte an unsere Grundsätze. Die Leute werden keine Partei schätzen, die das Fähnchen nach dem Wind dreht. Keinesfalls! Halten wir uns an unsere Grundsätze, auch wenn es manchmal unbequem ist. (…)“