„Der Erweiterungsprozess ist nicht abgeschlossen“

„Der Erweiterungsprozess ist nicht abgeschlossen“

Der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák über europäische Perspektiven, die Abhängigkeit von Russland und die Stärke kleiner Staaten

11. 6. 2014 - Text: PZ, Foto: UN Geneva, CC BY-NC-ND 2.0

Unter Ministerpräsident Vladimír Mečiar entfernte sich die Slowakei Mitte der neunziger Jahre immer mehr vom Westen und näherte sich Russland an. Der angestrebte EU-Beitritt im Jahr 2004 geriet damals ernsthaft in Gefahr. Wirtschaftsreformen und umfassende Sparmaßnahmen der konservativ-liberalen Regierung von Mikuláš Dzurinda läuteten jedoch die Kehrtwende ein, die Slowakei wurde gemeinsam mit ihren Nachbarn Tschechien, Polen und Ungarn in die EU aufgenommen. Und hat diesen Ländern seit 2009 etwas voraus: den Euro. Außenminister Miroslav Lajčák sieht darin eine echte Erfolgsgeschichte. Mit Slávka Dzureková sprach der 51-jährige Diplomat über die Vorteile einer erneuten EU-Erweiterung, die Bedeutung der Visegrád-Gruppe und das besondere Verhältnis zum österreichischen Nachbarn.

Am 1. Mai 2004 ist die Slowakei gemeinsam mit neun weiteren Staaten der Europäischen Union beigetreten. Wie bewerten Sie die zurückliegenden zehn Jahre EU-Mitgliedschaft Ihres Landes?

Miroslav Lajčák: Eindeutig positiv. Man muss sich einmal vor Augen halten, dass die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright die Slowakei im Jahr 1997 noch als „schwarzes Loch auf der Landkarte Europas“ bezeichnete. Damals wurden die Verhandlungen mit unseren drei Nachbarn aus der Visegrád-Gruppe über den EU- und Nato-Beitritt eingeleitet. Die Slowakei wurde gar nicht erwähnt. Bereits zwölf Jahre später, 2009, gehörten wir zum engeren Kreis der europäischen Integration, waren nicht nur in der EU, sondern auch in der Schengen- und der Eurozone. Wie sagt man so schön bei uns: Wenn man nicht am Tisch sitzt, steht man auf der Speisekarte.
Also sind wir von der Speisekarte an den Tisch gerückt. Wir sollten uns bewusst machen, was die EU-Mitgliedschaft den Menschen für großartige Möglichkeiten eröffnet.

Neben den vier Grundfreiheiten (dazu zählen ein freier Warenverkehr, die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit sowie ein freier Kapital- und Zahlungsverkehr; Anm. d. Red.) bringt die EU-Mitgliedschaft auch enorme finanzielle Vorteile. Dank der Eurofonds wurden Hunderte von Straßen, Kläranlagen und andere Einrichtungen gebaut, der Lebensstandard hat sich für große Teile der Bevölkerung verbessert. Als wir der EU beigetreten sind, betrug unser Bruttoinlandsprodukt etwa 48 Prozent des europäischen Durchschnitts, gegenwärtig beläuft es sich auf 75 Prozent.

Und wie sehen Sie die Zukunft der Slowakei in der EU?

Lajčák: In der Slowakei ist man sich quer durch das politische Spektrum hindurch einig, dass die EU-Mitgliedschaft im Interesse der Slowakei liegt und das freut mich sehr. Alle etablierten Parteien vertreten diese Ansicht. Wir sind für Gespräche über eine noch stärkere Integration offen. Gegenwärtig wird über die vier Grundpfeiler debattiert: über eine Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion sowie über die demokratische Legitimität. Es geht hier nicht um eine automatische Übertragung weiterer Befugnisse von der nationalen Ebene auf Brüssel; sie soll nur überall dort stattfinden, wo es notwendig ist. Die Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass wir insbesondere im Bereich der Finanzen Reformen brauchen. Wichtig ist aber auch, dass die Europäische Union für die Bürger verständlich ist.

Uns Politikern ist ein bisschen die Fähigkeit abhandengekommen, mit der Öffentlichkeit in einer verständlichen Sprache zu kommunizieren. Gegenwärtig ist es insbesondere unter Intellektuellen angesagt, sich euroskeptisch zu geben. Darauf entgegne ich immer: Zeigen Sie mir eine bessere, erfolgreichere Gemeinschaft als die EU, die ein höheres Maß an politischer Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und Schutz der Menschenrechte erreichen würde.

Was denken Sie über eine Erweiterung der EU um neue Mitglieder? Gemeint sind insbesondere Balkanländer oder die Türkei.

Lajčák: Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die Erweiterung einen der größten Erfolge der EU darstellt. Dadurch haben sich auch Frieden, Prosperität und Stabilität auf weitere Länder ausgedehnt. So wie die Slowakei von der Mitgliedschaft profitiert, würden auch neue Mitgliedsländer sowie die EU selbst von einer erneuten Erweiterung profitieren. Der Erweiterungsprozess ist nicht abgeschlossen. Für die Länder im Westen des Balkans besteht durchaus eine europäische Perspektive, sie haben die Zusage für eine künftige Mitgliedschaft, und diese Zusage sollte eingehalten werden.

Wir verstehen das nicht als humanitäre Hilfe, denn diese Länder müssen zunächst die Bedingungen für eine Mitgliedschaft erfüllen. Jedes Land muss für den EU-Beitritt vorbereitet sein: politisch, institutionell und wirtschaftlich. Dann wird auch das neue Mitglied zu einer Stärkung der EU beitragen. Die Slowakei spricht sich für eine erneute EU-Erweiterung aus. Hätten wir damals nicht die Mitgliedschaft angestrebt, wäre der Reformprozess in unserem Land nie so erfolgreich verlaufen. Und würden die Westbalkan-Staaten keine Perspektive auf einen Beitritt haben, wären sie nicht motiviert, schwierige und aufwändige Reformen einzuleiten.

Gilt das auch für die Türkei?

Lajčák: Jedes europäische Land, das an einer Mitgliedschaft in der EU interessiert ist und die Bedingungen dafür erfüllt, sollte auch das Recht haben, der EU beizutreten. Die Türkei hat Interesse geäußert, doch die Bedingungen bisher nicht erfüllt. Ich bin kein Freund der Diskussion, ob die Türkei beitreten soll oder nicht. Wir sollten abwarten, ob das Land in der Lage ist, die Bedingungen zu erfüllen.

Welche Auswirkungen hat der ukrainisch-russische Konflikt auf die Slowakei beziehungsweise auf die EU?

Lajčák: Für die Slowakei ist die Lage ziemlich kompliziert. Zwei uns nahe stehende Länder sind in einen schwerwiegenden Konflikt geraten – die Ukraine als unser unmittelbarer Nachbar, und Russland, dem in der Slowakei eher positiv begegnet wird. Wir sollten uns die praktisch vollkommene Abhängigkeit der slowakischen Wirtschaft von der Einfuhr von russischem Erdöl und Erdgas über das Gebiet der Ukraine vor Augen halten. Und sowohl Russland als auch die Ukraine stellen für unsere Waren bedeutende Absatzmärkte dar. Wenn sich die Atmosphäre verschlechtern sollte und Wirtschaftssanktionen eingeleitet werden, würde das die Slowakei viel härter treffen als den Großteil der EU.

Die Zusammenarbeit mit den Ländern der Visegrád-Gruppe war stets sehr intensiv. Aber ist sie im Rahmen der EU überhaupt noch relevant?

Lajčák: Natürlich. Ich würde sogar sagen, dass deren Bedeutung immer größer wird. In den V4-Staaten leben heute etwa zehn Prozent aller EU-Bürger. Im Europarat haben wir zusammen 58 Stimmen, was die Stimmen von Deutschland und Frankreich ausgleicht. Wir fassen die Visegrád-Vereinigung als eine äußerst effektive Plattform zur Koordinierung unserer Positionen und Multiplikation unserer Stimmen auf. Und schrittweise erweitern sich die Bereiche, in denen die V4-Staaten zusammenarbeiten.

Wie beurteilen Sie die Beziehungen der Slowakei zu Deutschland?

Lajčák: Deutschland ist unser Schlüsselpartner im Bereich Wirtschaft. Etwa 22 bis 23 Prozent unseres Handels werden mit Deutschland geführt. Deutschland ist ein Schlüsselland der EU, und gleichzeitig ein Land, das die mitteleuropäische Region positiv wahrnimmt und dieser auch seine Aufmerksamkeit schenkt. Mit am wichtigsten aber ist die gemeinsame Philosophie der EU-Erweiterung und deren Prinzipien, die anerkannt und respektiert werden sollten.

Und wie sehen Sie das Verhältnis zu Österreich?

Lajčák: Es ist der einzige Nachbar, mit dem wir eine Währung teilen. Viel Aufmerksamkeit gilt Projekten, die zum Beispiel den grenzüberschreitenden Diensten oder der Infrastruktur dienen. Es entstehen immer mehr Straßenverbindungen, Brücken, Radwege und auch zwischenmenschliche Verbindungen, damit die Bürger auf beiden Seiten der Grenze diese Nachbarschaft als einen Mehrwert wahrnehmen.

Gegenwärtig diskutieren wir mit der österreichischen Regierung über die Organisation eines Wirtschaftsforums. Hierbei geht es um eine gemeinsame Tagung von Regierungsmitgliedern beider Länder, insbesondere der Wirtschafts- und Verkehrsminister. Österreich steht den Slowaken wirklich sehr nahe. Ich freue mich auch über meine persönlichen, außerordentlich guten Beziehungen zu den österreichischen Kollegen. Mit dem ehemaligen Außenminister Michael Spindelegger, der heute Finanzminister ist, treffe ich mich auch privat.

Das Interview erschien zunächst in unserer deutschsprachigen Partnerpublikation „Pressburger Zeitung“ (www.pressburger.eu).

 

 

Zur Person
Miroslav Lajčák wurde 1963 am Fuße der Hohen Tatra, in der Stadt Poprad geboren. Nach dem Jura-Studium in Bratislava schlug er eine diplomatische Laufbahn ein. In Moskau studierte er am Institut für Internationale Beziehungen und arbeitete anschließend für das Außenministerium der damals noch sozialistischen Tschechoslowakei. Anfang der Neunziger kehrte er für drei Jahre als Botschaftsmitarbeiter nach Moskau zurück. In Tokio und Belgrad bekleidete er das Amt des slowakischen Botschafters. 2007 wurde Lajčák zum Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und zum Sondergesandten der EU ernannt. Zwei Jahre später folgte er dem Ruf des slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico und wurde Nachfolger von Außenminister Ján Kubiš. Dieses Amt bekleidet Lajčák als Parteiloser seit 2012 auch in der zweiten Regierung Fico. Die Slowakei sieht er als „vertrauenswürdiges Mitglied“ in der EU und der Nato verankert und ist auf „korrekte Beziehungen“ zu den Staaten bedacht, die diesen Organisationen nicht angehören. In der Ukraine-Krise tritt er für einen Dialog und Ausgleich mit Russland ein. Die renommierte Wochenzeitschrift „The Economist“ meldete vor kurzem, Lajčák habe gute Aussichten, im Jahr 2016 Nachfolger von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zu werden.

 

 

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