„Das Mehrheitswahlrecht wäre schlecht für Tschechien“

„Das Mehrheitswahlrecht wäre schlecht für Tschechien“

Wahlforscher Linek sieht in der Forderung nach Wahlreformen Taktiken zum Machterhalt. Die Auswirkungen seien unberechenbar

8. 1. 2014 - Interview: Maria Sileny

Der Soziologe Lukáš Linek arbeitet seit 2001 am Soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften. Er ist einer der renommiertesten Forscher zu den Themen Wahlverhalten, politische Einstellungen und Parteienzugehörigkeit. Zuletzt erschien seine Publikation „Wähler und Wahlen 2010“. Im Interview mit PZ-Mitarbeiterin Maria Sileny sprach er sich gegen übereilte Wahlreformen aus.

Was halten Sie von den Diskussionen um die Einführung eines Mehrheitswahlsystems für das tschechische Abgeordnetenhaus?

Lukáš Linek: Das Wahlsystem ist nur ein Faktor von vielen, die Einfluss auf die Ausgestaltung der Politik haben. Es ist naiv zu glauben, mit einem anderen Wahlsystem würde sich grundsätzlich etwas zum Besseren wenden. Im Gegenteil: Es könnten Nachteile entstehen, über die sich die Verfechter der Mehrheitswahl möglicherweise nicht im Klaren sind.

Welche Nachteile könnten das sein?

Linek: Empirische Vergleiche zeigen, dass die Wahlbeteiligung in Mehrheitswahlsystemen um fünf bis sechs Prozent geringer ausfällt als bei Urnengängen mit Verhältniswahlrecht. Das wäre schlecht für Tschechien,  die Wahlbeteiligung ist bereits sehr niedrig und würde weiter sinken. Bereits jetzt nehmen ganze soziale Schichten an der Wahl nicht teil, nämlich solche mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsstand. Ein Mehrheitswahlsystem könnte zudem die Zusammenarbeit der Regierung mit dem Parlament erschweren. Denn Abgeordnete wären vor allem ihren Wahlkreisen verbunden. Und würden damit auch völlig unterschiedliche, nicht selten unvereinbare Interessen verfolgen. Regierung und Parteien würde das schwächen.

Sie plädieren dafür, die bestehende Verhältniswahl beizubehalten?

Linek: Ja. Die Wähler sind damit vertraut. Und sie wissen, wie sie in seinem Rahmen das erreichen können, was sie möchten. Man darf nicht vergessen: Wird ein neues Wahlsystem eingeführt, müssen die Wähler erst lernen, wie es funktioniert. Als Anfang der neunziger Jahre das jetzige System eingeführt wurde, haben die Wähler zum Beispiel erst nach und nach gelernt, was die Fünf-Prozent-Hürde bedeutet. Von Wahl zu Wahl sank die Anzahl derer, die kleinen Parteien ihre Stimme gaben. Die politischen Parteien müssten zudem ihre Organisation den neuen Wahlregeln anpassen. Es würde dauern, bis sich Wähler und Parteien das neue System aneignen. Erst danach kämen seine Auswirkungen zum Vorschein. Und die lassen sich im Voraus kaum berechnen.

Befürworter eines Mehrheitswahlsystems gehen davon aus, dass es stabilere Regierungen hervorbringen würde. Kann man das auch auf anderen Wegen erreichen?

Linek: Zunächst sollte die Geschäftsordnung des Parlaments reformiert werden. Tschechien hat die Rechte der Abgeordneten aus den Zeiten der kommunistischen Diktatur beibehalten. Die Abgeordneten hatten damals weitreichende Freiheiten, die aber nur formal galten. In Wirklichkeit hatte die Kommunistische Partei die alleinige Macht inne. Nachdem man dieses System der starken Abgeordneten in die Demokratie übertrug, wurden die einzelnen Abgeordneten tatsächlich stark. So stark, dass sie in ihrer Autonomie die Regierung und die Parteien schwächen. Jeder einzelne Abgeordnete kann Gesetze initiieren und Gesetzesänderungen vorschlagen. Das stärkt auch die Position von Interessengruppen, die über einzelne Abgeordnete Druck auf die Regierung ausüben können. Dann sollte die Arbeitsweise der Regierung reformiert werden. Die Ministerien arbeiten nur für sich, kommunizieren nicht miteinander. Ihr Wirken ist unkoordiniert. Zudem ist die Position des Premiers und des Finanzministers innerhalb des Kabinetts zu schwach. Weil eine Änderung des Wahlrechts auf dem Tisch ist, denkt kaum jemand über solche Reformen nach.

Warum ist man in Tschechien mit dem Verhältniswahlsystem unzufrieden? Deutschland etwa kommt damit seit Jahrzehnten gut zurecht.

Linek: In Tschechien haben die Parteien eine schwächere Bindung an die Wähler, sie sind weniger in der Gesellschaft verankert. Ihre Position ist ungewiss und die Umstände wechselhaft. Die bürgerlich-konservative ODS zum Beispiel war vor sieben Jahren noch eine dominante Partei, die 35 Prozent der Wählerstimmen hinter sich hatte. Heute ist sie mit sieben Prozent am Rande des politischen Spiels angekommen. Die Parteien, die an der Macht sind, wissen um ihre zerbrechliche Position. Und möchten deswegen versuchen, durch eine Änderung des Wahlsystems die momentane Gunst der Wähler zu stabilisieren.