Asyl im Stresstest

Asyl im Stresstest

Deutscher Botschafter: Flüchtlingskrise ist die bislang schwerste Prüfung für die EU

17. 11. 2015 - Text: Josef FüllenbachInterview: Josef Füllenbach; Foto: Deutsche Botschaft Prag

Seit September 2014 ist Arndt Freiherr Freytag von Loring­hoven deutscher Botschafter in Prag. Vorher war er auf Auslandsposten in Paris und Moskau; in der Zentrale schrieb er unter anderem vier Jahre lang die Reden für Außenminister Joschka Fischer und war zuletzt, nachdem er drei Jahre mit dem Amt des Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes betraut war, seit seiner Rückkehr ins Auswärtige Amt 2010 Beauftragter für Grundsatzfragen der EU. Im Gespräch mit PZ-Mitarbeiter Josef Füllenbach erläutert Botschafter Freytag von Loringhoven die aktuellen Schwierigkeiten zwischen der deutschen und tschechischen Regierung im Ringen um die richtige Antwort auf den anhaltenden Zustrom von Flüchtlingen nach Europa, streift aber auch andere Bereiche des Verhältnisses zwischen beiden Ländern und berichtet am Schluss über eine Begegnung mit dem kürzlich verstorbenen Altbundeskanzler Helmut Schmidt.

Herr Botschafter, die erschütternden Ereignisse in Paris am vergangenen Wochenende geben dem Thema Sicherheit in der europaweiten Debatte um Migration und Flüchtlinge eine neue, tragische Dynamik. In Tschechien fragen sich viele, ob Deutschland sich nun anschickt, seinen Kurs zu ändern.

Freytag von Loringhoven: Die Anschläge in Paris haben mich und sicher uns alle zutiefst erschüttert. Das zeigt auch die enorme Solidarität für Paris, Frankreich und seine Menschen, die wir gerade überall in der Welt sehen. Diese furchtbaren  Ereignisse werden die Diskussionen um Migration und Sicherheit sicherlich beeinflussen, das zeigen schon die ersten Reaktionen. Es wäre aber verfrüht und auch falsch, eine direkte Verbindung zu sehen zwischen den Flüchtlingen und den Urhebern dieser Terrorakte. Unsere bisherige Flüchtlingspolitik umzuwerfen – das erlaubt uns unser Verantwortungsbewusstsein für Hilfsbedürftige nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Flüchtlinge ja gerade vor solcher Barbarei geflohen sind. Aber genauso ist klar, dass wir noch stärker als bisher bei den Fluchtursachen – und eine davon ist der IS – ansetzen müssen, aber auch bei der Grenzsicherung. Auf jeden Fall zeigen diese Anschläge erneut, dass die Flüchtlingskrise die vielleicht schwierigste politische Herausforderung für die Europäische Union seit ihrem Bestehen ist.

In den vergangenen Wochen waren aus Deutschland – insbesondere Berlin und München – widersprüchliche Aussagen zur deutschen Position in diesen Fragen zu vernehmen. Wäre Geschlossenheit nicht besser, gerade wenn Deutschland andere von seinem Weg überzeugen will?

Freytag von Loringhoven: Diese Problematik reicht sehr tief in unsere Gesellschaften hinein und ist eng verbunden mit der Frage, wie wir künftig zusammenleben wollen und welchen Platz dabei der Islam einnehmen kann. Dass die Bundesregierung dafür nicht umgehend eine Blaupause in der Schublade hatte, ist vielleicht verständlich. Angesichts der Vielschichtigkeit der Probleme ringen wir um überzeugende Antworten, wie wir einerseits human sein, anderseits aber auch die Flüchtlingsströme verringern können. Und weil das Problem so massiv geworden ist, findet diese Auseinandersetzung eben sehr stark öffentlich statt. Dass dies dann auch in den Nachbarstaaten wahrgenommen wird, ist sicherlich nicht ideal, lässt sich aber nicht vermeiden.

„Die deutsch-tschechischen Beziehungen waren noch nie so gut wie im Augenblick“ – so Außenminister Steinmeier Anfang Juli in Berlin anlässlich der Unterzeichnung der Vereinbarung zum Strategischen Dialog der beiden Länder. Heute, gut vier Monate später, könnten Deutschland und Tschechien in einer der wichtigsten Fragen für die Zukunft Europas, nämlich der Flüchtlingskrise, nicht weiter voneinander entfernt sein. Was ist da schief gelaufen?

Freytag von Loringhoven: Wenn man einen etwas längeren Zeitraum zugrunde legt, dann wird deutlich, dass wir ein festes Beziehungsfundament zwischen Tschechien und Deutschland aufgebaut haben – denken Sie zurück an die neunziger Jahre, an die schwierigen Diskussionen damals über die Gemeinsame Erklärung und die Vertreibung der Sudetendeutschen. Gerade von der Regierung Sobotka kamen von Anfang an Signale einer großen Bereitschaft, in den europäischen Mainstream zurückzukehren und zugleich die Beziehungen zu Deutschland ganz weit nach oben zu rücken. Daher auch die Initiative zum Strategischen Dialog. Es gibt viele Themen, wo wir eng beieinander sind, ich nenne nur die Wirtschaftsthemen, Industrie 4.0, angewandte Forschung, duale Ausbildung. Auch was die Flüchtlingskrise angeht, ziehen wir in manchen Fragen durchaus an einem Strang, zum Beispiel bei der Stärkung der EU-Außengrenzen, der Hilfe für die Türkei oder der Einrichtung von Hotspots. Ich will damit aber die tiefe Meinungsverschiedenheit über die Frage einer fairen Verteilung der Flüchtlinge nicht herunterspielen. Den unterschiedlichen Auffassungen in Deutschland und Tschechien liegen sehr unterschiedliche Erfahrungen unserer Gesellschaften zugrunde. In Tschechien, Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang, sind die meisten Menschen nicht vertraut mit Einwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen.

Aber müsste man nicht von Tschechien als einem Land, aus dem mehrmals Tausende Menschen geflüchtet sind und in anderen Ländern Zuflucht gefunden haben, einen offeneren Ansatz gegenüber Asylsuchenden erwarten?

Freytag von Loringhoven: Es ist ja nicht so, dass Tschechien gar keine Erfahrungen mit Einwanderern oder Flüchtlingen hätte, immerhin vier Prozent der Bevölkerung sind Ausländer. Das ist mehr als in den Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa. Aber der Hauptunterschied ist, dass ein Großteil der Flüchtlinge aus islamischen Ländern kommt und das ist für die Tschechen neu. Weit verbreitet ist hier, so wird mir gesagt, eine Angst vor dem Unbekannten. Es fehlt das Vertrauen mit der Thematik, ganz anders als bei uns, wo wir seit den fünfziger Jahren Erfahrung mit Gastarbeitern aus dem Süden hatten. Aber ich sehe auch nicht, dass sich viele hierzulande aktiv bemühen, den Boden für diese Angst abzubauen. Nur Einzelne versuchen dies.

Wir hören, dass im Rahmen des Strategischen Dialogs eine Arbeitsgruppe gegründet werden soll, die sich mit den Flüchtlings- und Migrationsfragen befasst. Können Sie dazu nähere Informationen geben?

Freytag von Loringhoven: Wir sind uns auf beiden Seiten bewusst, dass wir über dieses Thema viel intensiver miteinander reden müssen. Die konkrete Initiative ist von tschechischer Seite von Herrn Špidla ausgegangen, dem ehemaligen Premierminister und heutigen Chefberater von Regierungschef Sobotka. Bei den Gesprächen soll es um einen umfassenderen Ansatz zu dem Flüchtlingsthema gehen, auch um deren Integration. Daran sollen neben Innen- und Außenministerium auch die Ressorts Bildung sowie Arbeit und Soziales teilnehmen, aber auch Vertreter der Wirtschaft und der Nichtregierungsorganisationen. Wir haben diese weiterführende Initiative sehr begrüßt und planen jetzt ein Treffen am 30. November; auf deutscher Seite wird Staatsminister Roth vom Auswärtigen Amt die Delegation leiten.

Außenminister Steinmeier hat jetzt gefordert, „an den Außengrenzen die verlorene Ordnung wiederzuherstellen”. Eine auch von Tschechien schon lange vorgebrachte Forderung. Meinen beide Seiten dasselbe mit Sicherung der Außengrenzen?

Freytag von Loringhoven: Grundsätzlich sind wir da nicht sehr weit voneinander entfernt. Allen ist klar, dass der Schutz der Außengrenzen unabdingbar ist, wenn wir die Reisefreiheit im Schengenraum als eine der größten Errungenschaften der EU bewahren wollen. Dabei möchte ich betonen: Es geht hier nicht darum einen Zaun um Europa zu bauen, sondern darum, wieder Ordnung und Kontrolle in die Verfahren zu bringen.

Die Ablehnung fester Quoten wird auch damit begründet, dass man sich darauf ohne eine Verständigung über eine Obergrenze der Aufnahmefähigkeit nicht einlassen könne.

Freytag von Loringhoven: Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes begründet ein individuelles Grundrecht – „politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Entsprechend hat jeder Antragsteller ein Recht auf individuelle Prüfung seines Asylantrags. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man eine Obergrenze einführen will, die nicht im Widerspruch mit diesem Grundrecht steht. Wir müssen deshalb durch andere Maßnahmen den Flüchtlingsstrom eindämmen. Und dies geschieht gerade, etwa durch die Beschleunigung der Verfahren und der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern.

Sie haben vor wenigen Tagen an einem vom Innenministerium organisierten Besuch im tschechischen Flüchtlingslager Bělá-Jezová teilgenommen. Was waren Ihre Eindrücke?

Freytag von Loringhoven: Auf Anregung einiger EU-Botschaften hat uns der Innenminister eingeladen, mit ihm zusammen das Lager zu besuchen. Vorangegangen war ein sehr kritischer Bericht der Ombudsfrau, Anna Šabatová, der dann nach Gesprächen mit Innenminister Chovanec zu Verbesserungen geführt hat, von denen wir uns überzeugen konnten: keine Überbelegung mehr, umfangreiche Renovierungsarbeiten, anständige Räume. Frau Šabatová kritisiert weiterhin insbesondere, dass Flüchtlinge dort für ihren Aufenthalt bezahlen müssen, und zwar pro Person und pro Tag 242 Kronen. Positiv war, dass wir mit den Flüchtlingen frei sprechen konnten, der Besuch war transparent.

Die Durchsetzung der Quoten durch Mehrheitsbeschluss im Rat der Innenminister hat in Prag wie ein Schock gewirkt. Wie schätzen Sie die Auswirkungen dieser Niederlage auf das Verhältnis der Tschechen zu Deutschland und zur EU ein?

Freytag von Loringhoven: Wir hätten die Abstimmung im Rat gerne vermieden und haben deshalb mit der tschechischen Seite im Vorfeld eine Reihe von Kompromissvarianten ausgelotet, leider am Ende ohne Erfolg. Aber man muss auch sehen, dass sich Deutschland und andere Länder in einer akuten Notlage befinden, denn die noch im Frühsommer vereinbarte Freiwilligkeit bei der Flüchtlingsaufnahme hat ja nur ansatzweise funktioniert. Ich sehe schon, dass diese Erfahrung nun die weiteren Debatten in Europa sowie das Verhältnis zu Deutschland belasten kann. Daher sind die bevorstehenden Gespräche über Migration so wichtig.

Wird nicht der Ausgang der polnischen Wahlen dazu führen, dass sich Warschau wieder fester mit der Visegrád-Gruppe verbindet, so dass es noch schwieriger wird, in der Verteilungsfrage eine Einigung herbeizuführen?

Freytag von Loringhoven: Ja, das befürchte ich. Unsere Haltung aber bleibt, dass wir eine Lösung finden müssen für eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU. Das steht für uns sehr weit oben auf der Agenda.

Neben dem aktuellen Flüchtlingsthema ist die Energiepolitik ein schwieriger Bereich für das bilaterale Verhältnis: Tschechien fühlt sich von manchen Entscheidungen – Atomausstieg, Gasleitung Nord Stream – zwar unmittelbar betroffen, aber nicht eingebunden. Wird das im Strategischen Dialog thematisiert?

Freytag von Loringhoven: Wir haben vereinbart, im Strategischen Dialog nicht nur Konsensthemen zu behandeln. Die Energiewende ist ein Thema, wo wir zum Teil auseinanderliegen. Das wird einer der Schwerpunkte im Dialog sein, und wir haben die Energiefragen mit dem Klimathema verbunden. Es gibt übrigens schon seit zwei Jahren eine Arbeitsgruppe zu Energiefragen, die ihren Fokus auf die Folgen der Energiewende für die tschechischen Netze legt. Daneben gibt es zwischen Deutschland und seinen Nachbarn einen ständigen Konsultationsprozess auf der Ebene der Staatssekretäre zu den Auswirkungen der Energiewende. Was Nord Stream angeht, so handelt es sich hier um eine Entscheidung der beteiligten Firmen, wobei übrigens der Anteil der beiden deutschen Firmen zusammen deutlich unter 50 Prozent liegt.

Wenn man sich die Palette der Themen anschaut, für die unter dem Dach des Strategischen Dialogs Arbeitsgruppen gebildet werden, dann gibt es darunter ja auch viele, wo es weniger oder gar keinen Zündstoff für bilateralen Streit gibt.

Freytag von Loringhoven: Ja, das ist so. Schon allein die Tatsache, dass wir uns mit Tschechien auf zehn Arbeitsgruppen verständigt haben, zeigt das große Interesse daran, auf verschiedensten Feldern unser Potenzial zusammenzubringen und gemeinsame Projekte zu befördern. Der aktuelle Dissens in der Flüchtlingspolitik sollte die breite Basis der engen und konstruktiven Zusammenarbeit keineswegs überschatten. Zum Beispiel haben wir in diesem Jahr das Thema Industrie 4.0, also die Zukunft der industriellen Produktion, in den Vordergrund gestellt. Auch die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer hat dies als Jahresthema für 2015 gewählt. Ein Grund für das Zusammengehen mit Tschechien in diesem Bereich ist die große strukturelle Ähnlichkeit beider Volkswirtschaften. Damit sind wir geborene Partner für ein solches Projekt.

Vielleicht abschließend noch ein Wort zu unserem vor wenigen Tagen verstorbenen Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Wenn man die Nachrufe auf ihn liest, kann einem nicht entgehen, dass viele in Deutschland, aber auch in Tschechien sich gerade jetzt einen Krisenmanager wie Schmidt an die Spitze der Bundesregierung oder Europas wünschten. Ist Ihnen das auch aufgefallen?

Freytag von Loringhoven: Nun, dieses Image des Krisenmanagers begleitete ihn wohl seit der Hamburger Flutkatastrophe, als er durch sein beherztes Eingreifen als Innensenator Ordnung in die Rettungsarbeiten brachte. Kein Wunder, dass man sich an ihn auch bei anderen Herausforderungen, die auf Deutschland zukommen, erinnert. Ich kann auch von einer persönlichen Begegnung mit Helmut Schmidt berichten. Als ich vor zwölf Jahren in unserer Botschaft in Moskau arbeitete, war er einmal zu Besuch. Was mich damals sehr wunderte, ist, dass er mich auf sein Zimmer gebeten und anderthalb Stunden lang ausgefragt hat. Er war ja schon weit über 80, aber hatte einfach eine geradezu jugendliche Neugier, die ich von einem so erfahrenen Politiker und schon alten Menschen nicht erwartet hätte. Er fragte wie ein Journalist, der alle möglichen Details wissen und wirklich verstehen wollte, wie Russland funktioniert. Es ging ihm ganz um die Sache. Das hatte auch sicher damit zu tun, dass er Russland auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg als Schicksalsthema für Deutschland betrachtete.

Nach langen Jahren als ZEIT-Herausgeber antwortete Helmut Schmidt einmal auf die Frage, ob er sich denn nicht wenigstens ein bisschen als Journalist fühle: „Ich fürchte nicht, und wissen Sie warum? (…) Weil ich es mir einfach nicht abgewöhnen kann, gründlich zu arbeiten.“

Freytag von Loringhoven: Sehr schön. Helmut Schmidt war immer sehr schlagfertig mit Hintersinn.