Zwischen München und Krieg

Zwischen München und Krieg

Am „Tag des Verrats“ kam US-Diplomat George F. Kennan nach Prag. Ein halbes Jahr später erlebte er den Einmarsch der deutschen Truppen. Kennan blieb – bis der Krieg ausbrach

25. 9. 2013 - Text: Stephan HeidenhainText: Stephan Heidenhain; Foto: APZ

 

Am 29. September 1938, genau vor 75 Jahren, trat George F. Kennan seinen Dienst in der US-Botschaft in Prag an. Am gleichen Tag wurde das Münchner Abkommen vereinbart. „Prag war verdunkelt, der Ausnahmezustand erklärt. Die Bestimmungen des Münchner Abkommens wurden, wenn ich mich recht erinnere, am Tag nach meiner Ankunft veröffentlicht. Ich war mit auf dem […] Wenzelsplatz, als sie über Lautsprecher bekanntgegeben wurden, und einer meiner ersten Eindrücke von Prag war der Anblick Hunderter von Menschen, die hemmungslos weinten, als die Unabhängigkeit, deren sich ihr Land erst zwanzig Jahre lang hatte erfreuen dürfen, dergestalt zu Grabe geläutet wurde. […] Innerhalb weniger Stunden besetzte deutsches Militär die Grenzgebiete und rückte gegen das Herzstück der Provinzen Böhmen und Mähren vor. Schon lag Krieg in der Luft; und für mich persönlich begann der Krieg – mein Krieg, gewissermaßen – in diesem Augenblick. Fast acht Jahre vergingen, ehe er zu Ende war.“

Prophet und Kritiker
Wer war George F. Kennan? Er war ein US-Karrierediplomat mittleren Ranges, als er nach Prag an die US-Botschaft kam, die sich schon damals im Schönborn-Palais auf der Kleinseite befand. Dort gibt es keine Spuren mehr von ihm. Kennan ist der Öffentlichkeit schon lange nicht mehr geläufig. Anders in der fünfziger Jahren, da war er sogar auf dem Titelbild des „Spiegel“, als er Ende 1951 zum US-Botschafter in der Sowjetunion ernannt worden war. Laut seinem Biographen John Lewis Gaddis sei Kennan einer der wichtigsten amerikanischen Diplomaten des 20. Jahrhunderts gewesen, denn er habe die US-Politik im Kalten Krieg maßgeblich mitgestaltet.
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Nach seinem Austritt aus dem diplomatischen Dienst im Jahr 1953 verschrieb er sich der Geschichtswissenschaft. Sich selbst betrachtete Kennan als unvollendeten Historiker, sein 1930 in Berlin begonnenes Studium der Russischen Geschichte hatte er nie abgeschlossen und im hohen Alter war er nicht mehr dazu gekommen, seinen dritten Teil der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges zu schreiben. Davon lenkte ihn die politische Wendezeit 1989/90 ab. Dennoch hinterließ er an die 15 Bücher, erhielt 1957 den Pulitzer-Preis und 1982 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Schriftsteller war er aber vor allem für sich: Über achtzig Jahre lang führte er ein Tagebuch und hinterließ so viel Geschriebenes, dass seine Biographen daran verzweifelten. Ein „Prophet“ sei er eigenen Worten zufolge gewesen, immer bereit, alles in Frage zu stellen.

Seine Ansichten kamen oft zur Unzeit. In den Jahren 1946/47 formulierte er maßgeblich die sogenannte Containment-Politik mit, welche die Ausbreitung des Kommunismus einzudämmen versuchte. Später kritisierte er dieses Vorgehen scharf, fühlte sich missverstanden. Auch der US-Außenpolitik stand Kennan ablehnend gegenüber und stellte sich unter anderem gegen den Korea- und Vietnam-Krieg, die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands, die Aufrüstung, die Entspannungspolitik und schließlich auch gegen die völkerrechtswidrige Invasion US-amerikanischer Truppen in den Irak 2003.

Abweisende Worte
Was aber bedeutete für Kennan seine Zeit in Prag bis September 1939? Erstaunlicherweise auch Reflexion und Ruhe: „Mit der Besetzung Prags durch die Deutschen und der darauffolgenden Schließung unserer Gesandtschaft begann der produktivste Abschnitt meiner Tätigkeit als Berichterstatter. Ich hatte keine anderen Pflichten mehr, auch nicht gegenüber dem State Department, als politische Lageberichte zu übermitteln“.

Das Jahr in Prag stellte für ihn den Beginn seiner wichtigsten beruflichen Jahre dar, sein Sprungbrett nach Berlin, Moskau und schließlich nach Washington. In Prag beobachtete er das Scheitern der vom britischen Premierminister Neville Chamberlain betriebenen Appeasement-Politik gegenüber Deutschland. Gegenüber der Sowjetunion formulierte er dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Containment-Politik.

Weder in seinen Prager, Berliner noch Moskauer Jahren war er jedoch ein Held wie Sir Nicholas Winton, der 1938/39 in Prag Transporte von jüdischen Kindern aus der Tschechoslowakei nach England organisiert hatte, oder wie diejenigen Diplomaten, die entgegen ihren Vorschriften Visa für Verfolgte und Flüchtende ausstellten.

Jedenfalls hat Kennan nie über derlei Aktionen berichtet – im Gegenteil, er sah keine andere Möglichkeit, als solche Personen von der Botschaft wieder wegzuschicken. So notiert er nach der Besetzung Prags am 15. März 1939: „Zwei zerzauste Männer kamen grau vor Furcht herein und baten um Asyl. Sie hätten in Deutschland für die Tschechei spioniert, sagten sie, und sie seien der örtlichen Gestapo bekannt. Ihre Gesichter zuckten und ihre Lippen zitterten, als ich sie wegschickte. Zwei deutsche Sozialdemokraten waren die nächsten, Flüchtlinge aus dem Reich. Sie waren wie betäubt vor Angst. Sie schienen einzusehen, dass ich nichts für sie tun konnte, aber sie wollten nicht gehen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass sie dieses Haus, in dem man sie nicht anrühren durfte, verlassen und auf die Straße hinaus müssten, wo sie Freiwild waren. Ein jüdischer Bekannter kam. Wir sagten ihm, dass er gerne bleiben dürfe, bis seine Nerven sich beruhigt hätten. Den ganzen Morgen wanderte er im Vorzimmer unglücklich auf und ab. Am Nachmittag fasste er sich ein Herz und ging nach Hause.“

Kennan ließ unerwähnt, was aus diesen Leuten wurde oder ob er ihnen irgendwie weiterhelfen konnte. Aus Berlin, wo er nach Kriegsausbruch für die US-Botschaft arbeitete, ist hingegen bekannt, dass er bis zu seiner Internierung Ende 1941 Kontakt mit dem deutschen Widerstand hatte. Die Vernichtung der Juden hat er weder in seinen zeitgenössischen noch in seinen späteren Schriften thematisiert.

Verfall und Untergang
Aus seiner diplomatischen Korrespondenz aus Prag in den Jahren 1938 bis 1940, die auch auf Deutsch vorliegt, wird aber deutlich, dass er ein guter Beobachter war und ihn schon früh bewegte, was die Deutschen mit der „Rest-Tschechei“ und dem sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“ vorhätten. Im Januar 1939 berichtete Kennan, dass „die Lage in Böhmen […] immer noch prekär [sei]. Den Deutschen wäre es offenbar lieb, wenn das Gebiet bis auf Weiteres nominell unabhängig bliebe, aber nur unter Bedingungen, die der tschechischen Regierung jede Tätigkeit auf das Äußerste erschweren. Die Nützlichkeit eines tschechischen Regimes hat für Deutschland ihre Grenzen, und früher oder später werden die Deutschen entscheiden müssen, ob sie weiter einen unabhängigen tschechischen Staat dulden wollen, der sich niemals völlig mit der nationalsozialistischen Ideologie identifizieren kann, oder sie es vorziehen, Böhmen zu besetzen und die Fülle der Probleme anzupacken, die ein solcher Schritt mit sich bringt.“

Hitler wählte bald die zweite Möglichkeit. Kennan zufolge war dies ein „entscheidender Wendepunkt in der Geschichte dieser Provinzen“, weil Hitler zum ersten Mal ein Gebiet annektierte, das bis auf die deutsche Minderheit von Nicht-Deutschen, in diesem Falle Tschechen, bewohnt wurde. Es könnte sein, dass Kennan sich an Edward Gibbon erinnerte, den Autor der „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“. Denn wie beim Römischen Reich trug auch beim Dritten Reich oder der Sowjetunion dessen Ausdehnung, insbesondere in ethnisch fremde Gebiete, den Keim des Untergangs in sich.

Historiker schreibt Geschichte
Kennans Hauptaugenmerk galt sein ganzes Leben lang diesen beiden Ländern, Russland und Deutschland. Prag stellte für Kennan eine Zwischenperiode dar, eine Art neutraler Posten, der ihm vielleicht bei der Beantwortung der Frage geholfen hat, wie sich eine Großmacht eines kleinen Landes bemächtigen und warum die anderen europäischen Mächte, die nicht die Politik des „Containment“, sondern des „Appeasement“ verfolgten, dies hinnehmen konnten. Möglicherweise hat er seine in Prag gesammelte Erfahrung auch während der Zeit seines größten Einflusses in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre genutzt, als er die Containment-Strategie formulierte und den Marshall-Plan konzipierte.

Kennan war ein begnadeter Lehrer, Schriftsteller und Historiker, der als einer der wenigen in der Geschichtswissenschaft nahezu ungelernt war, aber selbst Geschichte geschrieben hatte. Als Diplomat war er hingegen mehr Historiker und genauer Beobachter, und kein – nach der alten Definition – „ehrlicher Mann, der ins Ausland geschickt wird, um für sein Vaterland zu lügen“.

Zur Person
George F. Kennan, Jahrgang 1904, stammte aus Milwaukee und trat Mitte der zwanziger Jahre in den neu geschaffenen Auswärtigen Dienst der USA ein, für den er von 1924 bis 1953 und 1961 bis 1963 verschiedene Ämter in Washington, Hamburg, Riga, Prag, Berlin, Lissabon und Belgrad bekleidete. Kennan galt als einer der besten amerikanischen Russland-Spezialisten und prägte nach 1945 die Politik der USA gegenüber der Sowjetunion maßgebend mit. 1946 entwarf er in Moskau sein berühmtes „langes Telegramm“, dessen Inhalt er ein Jahr später in dem Artikel „The Sources of Soviet Conduct“ unter dem Pseudonym „Mr. X“ veröffentlichte. Damit formulierte er den Grundgedanken der Politik des Containment, also der Eindämmung der sowjetischen Einflusssphäre – militärisch durch die NATO und zivil durch den Marshall-Plan. 1952 war er Botschafter in Moskau, Stalin erklärte ihn jedoch nach nur fünf Monaten zur „persona non grata“ und berief ihn ab, nachdem er die Sowjetunion mit Nazi-Deutschland verglichen hatte.

Nach seinem endgültigen Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst lehrte Kennan am Institute for Advanced Study in Princeton. Bis ins hohe Alter widmete er sich historischen Forschungen, insbesondere dem Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion, aber auch den französisch-deutsch-russischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, den er 1979 als „Urkatastrophe Europas“ bezeichnete. Im Februar 1997 erklärte er die NATO-Osterweiterung – noch vor der ersten Runde mit der Tschechischen Republik, Polen, Slowenien und Ungarn – zum „schicksalsträchtigsten Irrtum der amerikanischen Politik in der ganzen Zeit nach dem Kalten Krieg“. Kennan verstarb im Jahre 2005 im Alter von 101 Jahren. Vor zwei Jahren veröffentlichte John Lewis Gaddis eine umfangreiche Biographie über ihn, an der er mehr als 30 Jahre lang gearbeitet hatte. Kennan hatte Gaddis 1981 die Bedingung gestellt, die Biographie solle erst nach seinem Tod erscheinen.