Wirrungen des Alltags
In seinen Erzählungen fängt Jiří Gruša das Leben im Sozialismus ein. Vor kurzem sind sie auf Deutsch erschienen
4. 5. 2016 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: Docpoint
Jiří Gruša (1938–2011) schrieb mit Lebensfreude, Mut und Witz. Dass sein Temperament bereits in seinem Frühwerk angesiedelt ist, zeigen die „Erzählungen“. Als vierter Teil der Werkausgabe, die insgesamt zehn Bände umfassen soll, erscheinen fast alle der zwischen 1965 und 2009 entstandenen Texte hierin erstmals in deutscher Übersetzung.
Nach seinem abgeschlossenen Philosophie-Studium an der Prager Karls-Universität hatte sich der junge Gruša mit unverkennbarem Engagement in die Literaturdebatten eingemischt, die in seinem Land während der vorsichtigen Öffnung zu Beginn der sechziger Jahre möglich waren. Gruša gehörte, wie auch die Schriftsteller Petr Kabeš, Jan Lopatka oder Václav Havel, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, zu den jungen kritischen Stimmen in der Tschechoslowakei. Die Vielseitigkeit seiner Wortmeldungen in Form von Essays, Feuilletons, Erzählungen, Gedichten und auch Übersetzungen charakterisieren einen wachen Geist, der geradezu spielerisch mit der Sprache umgeht.
Früh griff Gruša in seinen Arbeiten die real existierenden Abstrusitäten im Land Kafkas auf. So beschreibt er zum Beispiel unter dem bezeichnenden Titel „Identitätsfindung“ eine Art sanfte Verhörsituation. Es wird nicht gefoltert oder geschlagen, offiziell liegt ja auch kein Verhör vor: „In Wirklichkeit wollen sie nichts von mir, nur, dass ich mir die Tote anschaue, doch gerade das, dass es leicht ist, ihrem Wunsch nachzukommen, zwingt mich, auf der Hut zu sein“. Ein Ratschlag an sich selbst, den Gruša zeitlebens beherzigt hat.
Grušas Lebensfreude spiegelt sich vor allem in seiner Prosa wider und war den Dogmatikern der realsozialistischen Kulturbürokratie ein Dorn im Auge. Während der sogenannten Normalisierung im Anschluss an das abgewürgte Reformexperiment des Prager Frühlings wurde Gruša sogar der Pornografie bezichtigt.
Hinzu kommt die Anziehungskraft kurioser Situationen, bei deren Beschreibung Gruša auch vor der Groteske nicht zurückschreckt. Die Erzählung „Damengambit. Il ritorno d’Ulisse in Patria“ eröffnet er mit der unvermittelten Feststellung, dass sich auf den Tag genau vor sieben Jahren sein fiktiver Freund Benda in der Kirche St. Cyrill und Method erhängt hat. Der Verstorbene wird kurioserweise zum Ansprechpartner im folgenden Text. In Rückblenden entfaltet Gruša darin frühere Erlebnisse und erweckt gemeinsame Abenteuer vergangener Tage wieder zum Leben. Der Erzähler berichtet von seiner Ehefrau und darüber, wie diese sich von einem Verehrer beeindrucken lässt. Die Situation spitzt sich zu und dem Autor wird in seinem Monolog bewusst, dass er Gefahr läuft, sich zu verlieren: „Ich spüre also, wie mein Level durch den Trichterwirbel entflieht, und ich weiß von einigen Stellen in der hiesigen Stadt, die mich anziehen wie die Tiefen einen Schwimmer“. Der gehörnte Ehemann weiß, wovon er schreibt. Er kennt die Adresse seines Nebenbuhlers, des Herrn Dipl.-Tech. Hromádka. Vor dessen Briefkasten hatte er bereits gestanden und er weiß vom kleinen Stadtpark gegenüber dem Bahnhof.
Eine nahezu ausweglose Situation bahnt sich an, der er möglicherweise nur durch die Macht der Worte beikommen kann. Gruša komponiert die Erzählung äußerst geschickt, indem er beispielsweise Briefe in den Text einbindet. Sowohl abgeschickte als auch nicht abgeschickte, Briefe an mögliche Beteiligte wie auch Außenstehende. Sogar der Hund Alf erhält einen.
Wie auch in anderen Erzählungen, etwa in „Onkel Antons Mantel“, „Salamandra“ oder „Lebensversicherung“ zerfransen die Berichte am Ende. Sie zerfließen zu einer besonderen Form von Wachträumen, in denen potentielle Möglichkeiten durchgespielt und zugleich fantasievoll überhöht werden. Auf einmal zeigt sich dann in überraschender Weise, welche Verwirrtheiten der prosaische Alltag bereithalten kann. Das Irreale scheint in der Wirklichkeit angekommen zu sein. Was für Grušas Texte gilt, traf auch auf sein eigenes Leben zu. Als Kritiker des kommunistischen Regimes wurde er mit Publikationsverbot belegt, später gegen seinen Willen des Landes verwiesen. Nach dem Ende des Sozialismus hatte Gruša sogar wichtige diplomatische und politische Ämter in seiner Heimat übernommen. Ein „Homme des lettres“ freilich war er immer geblieben.
Jiří Gruša: Erzählungen/Dramen. Mit einem Vorwort von Cornelius Hell. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 2016, 307 Seiten, 21 Euro, ISBN 978-3-99029-183-2
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?