Geheimes oder Geheimnistuerei?
Spionage

Geheimes oder Geheimnistuerei?

Die TV-Serie „Die Schläfer“ gleicht in vielen Details einem Roman von John Le Carré

31. 8. 2021 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: HBO Europe

Wie haben Geheimdienste im Wendejahr 1989 agiert und reagiert, als sich immer deutlicher abzeichnete, dass die politischen Systeme im Ostblock kollabieren werden? Speziell in der Tschechoslowakei. Darauf versucht die tschechische TV-Serie „Die Schläfer“ (im Original: „Bez vědomí“) eine Antwort zu geben, die bis 24. September in der ARTE-Mediathek zu sehen ist. Hochspannende Unterhaltung in sechs Teilen und über insgesamt sechs Stunden – aber fiktiv.

Im wahren Leben standen die Nachrichtendienste nach 1989 im Zwielicht. Damals verfestigte sich der Eindruck, dass es im Kalten Krieg zwischen 1945 und 1989 keinerlei Geheimnisse zwischen Ost und West gab, weil alle sowieso alles von- und übereinander wussten und jeder seine Spione an höchsten Stellen beim anderen hatte. Weshalb sich ihre Arbeit letztlich zu einem Nullsummenspiel addierte.

Gleichwohl eignen sich Geheimdienste prächtig für Bücher und Bildschirme. Sie regen die Fantasie an, sorgen für eine gruselige Stimmung und lassen Leser und Zuschauer mit dem Gefühl zurück, dass es ein großes Glück ist, wenn sie mit Geheimdiensten nichts zu tun haben. Das gilt auch für den Spionage-Thriller „Die Schläfer“. Wer die sechs Folgen sieht, muss jedoch unweigerlich an John le Carré denken. Verschiedene Handlungsstränge, undurchsichtige Gestalten, Gefahren an jeder Ecke. Und Protagonisten, die beim Zuschauer erst Mitleid erregen, ein paar Minuten später aber äußerst suspekt wirken.

Wer John le Carré in Zusammenhang mit der Tschechoslowakei sieht, muss sofort an seinen Roman „Dame, König, As, Spion“ (im Original: „Tinker Tailor Soldier Spy“) von 1974 denken. Nein, man hätte den britischen Agenten Jim Prideaux, diesen „ältesten Tschechen-Spezialisten“ des britischen Geheimdienstes, damals für kein Geld der Welt in die Tschechoslowakei begleiten wollen. In dieses graue suspekte Land, wo er Kontakt mit dem tschechischen Artillerie-General Števček aufnehmen sollte, der einen Spion im britischen Geheimdienst entlarven wollte. Prideaux sollte mit seinem tschechischen Helfer Max „auf der Straße nach Bílovice bis Křtiny, dann ostwärts nach Račice“ fahren. Fürwahr böhmische Dörfer. Beziehungsweise mährische. Todesgefahren an jeder Ecke.

Und tatsächlich, Prideaux ging in die Falle: „Sie haben also Jim von hinten angeschossen … Sie haben Jim ins Gefängnis gesteckt. Das ist nicht gut für Jim.“ Sagte Max. Auch nicht gut für seine Freunde. „Er fing an aufzuzählen“, schrieb Le Carré, „Přibyl … Bukowa, Mirek, von Přibyls Frau und Bruder … Auch Přibyls Frau … Kolín Jiří, seine Schwester auch, meistens tot. Das war Netz Aggravate.“ Und danach das Spionagenetz Plato. Rechtsanwalt Rapotín, Oberst Landkron, die Stenotypistinnen Eva Kriegiowa und Hanka Bilowa. „Auch meistens tot. Verdammt hoher Preis.“

Gary Oldman in „Dame, König, As, Spion“ (2011) | © Jack English

Bei jedem Wort des Bestseller-Autors hatte der Leser das Gefühl, den Stacheldraht am Eisernen Vorhang mit eigenen Händen zu berühren. „Alliierte nicht gut für Tschecho“, sagte Max bei Le Carré. „Ich will keine verdammten Märchen mehr hören, wie die Engländer müssen die Tschechen befreien.“

Eben jene Briten spielen auch in „Die Schläfer“ eine zentrale Rolle. Agent „Mr. Smith“ hat es, wie Agent Prideaux im Buch von Le Carré, mit einem Verräter im tschechischen Geheimdienst StB zu tun. Hier soll er jedoch nicht einen Spion bei den Briten nennen, sondern gleich selbst für die Briten spionieren. Das vermutet zumindest seine Gegenspielerin Susanne Clayton in der eigenen Botschaft. Und das stört sie, denn Clayton hat ihrerseits einen tschechischen Emigranten als „Agent Provocateur“ eingesetzt. Nämlich Viktor Skála, den sie nach dem politischen Wandel in eine hohe Funktion in der neuen tschechischen Regierung hieven will. Um diesen Skála dreht sich in der Serie alles, obwohl er lange Zeit überhaupt nicht in den Folgen auftaucht.

Er flüchtete mit seiner Frau im Jahr 1977 unter abenteuerlichen Umständen aus der ČSSR, nachdem er als Dissident vom tschechischen Geheimdienst übel schikaniert worden war. Bei einer geheimen Durchsuchung einer Wohnung zerstört der Geheimdienstmann wertvolles Kristall und pinkelt auf das Bett des Inhabers. Da kommt die Fernsehserie dem echten Leben sehr nah: Wie skrupellos der StB vorging, beschrieb etwa die tschechische Autorin Eda Kriseová in ihrer lesenswerten Biografie über Václav Havel anschaulich.

Nach zwölf Jahren im Londoner Exil kehrt Skála mit seiner Frau nach Prag zurück, beide werden alsbald in einen Autounfall verstrickt und Viktor verschwindet spurlos. Die Suche seiner Frau nach ihm ist der rote Faden durch die Serie. So trist und unnahbar die Tschechoslowakei in le Carrés Schilderungen rüberkam, so finster und unwirtlich sieht sie auch in der TV-Serie aus. Verfallene Hinterhöfe, schäbige Gebäude, schmutzige Straßen, staubige Wohnungen, düstere Gestalten in dunklen Klamotten, alte Telefonzellen aus Holz. Regisseur Ivan Zachariáš verknüpft meisterhaft Handlung, Personen und Architektur, schafft damit Atmosphäre und Symbolik von Land und Hauptstadt, noch bevor ein einziges Wort gesprochen wird. Allzu gerne würde man die roten Straßenschilder an den grauen Hauswänden lesen können, um zu sehen, wo sich gerade das Geschehen in Prag abspielt. Nichts ist sicher, überall falsche Spuren. Verfolger, Verfolgte und Verfolgungswahn.

Susanne Clayton und Viktor Skála in Prag | © HBO Europe

In der Tschechoslowakei sei Beschattung kein Problem, erklärte Agent Prideaux, die Sicherheitsdienste arbeiteten ohne Raffinesse. „Wahrscheinlich, weil seit Menschengedenken keine Regierung sich in dieser Hinsicht je hatte Zwang antun müssen.“ Deshalb: Ausschau halten nach schwarzen Škodas und Trios von gedrungenen Männern mit Schlapphüten. „Alte Hunde lernen keine neuen Tricks“, urteilt der britische Geheimdienstchef nun sinngleich über seine tschechischen Gegenspieler in „Die Schläfer“.

Besonders verdächtig, hier wie da: die Russen. Ihre Sicherheitskräfte hätten auf Prideaux in der Tschechoslowakei geschossen, wurde bei Le Carré berichtet. Möglicherweise saß er dann in einem russischen Lager, weil nichts gesprochen wurde und die Wächter Drillichanzüge trugen, blickte Prideaux selbst zurück, nachdem er aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt war. Solch ein sowjetisches Sperrgebiet auf tschechischem Boden entdeckt auch Viktors Frau bei der Suche nach ihm. Atomraketen fahren durchs Bild, eine Leiche liegt in einer Abwasserlache. Russen foltern und töten dort.

Man wolle das Ende des Kommunismus erreichen, sagt Susanne Clayton zu Mr. Smith. Man habe nie gegen den Kommunismus gekämpft, sondern immer nur gegen die Russen, erwidert Mr. Smith. Man brauche die Russen für den politischen Wandel 1989, belehrt der britische Botschafter seine Leute.

Nicht nur deshalb verliert der Zuschauer zwischendurch den Überblick. Fronten verwischen, überall Spitzel, selbst unter Ärzten und Garagenbesitzern. Kaum einer ist, wie er scheint, jeder wünscht irgendwie jeden zum Teufel. Wie über Jahrzehnte auch bei Le Carré üblich. Aus diesem Grund listete er in seinem Roman „Dame, König, As, Spion“ gleich zu Beginn alle Personen und deren Funktionen auf, zum großen Nutzen für die Leser.

Im Vorspann von „Die Schläfer“ werden zahlreiche Darsteller schlafend gezeigt, in einem Bett, auf einem Sessel, einem Stuhl oder Tisch. Bilder mit Symbolkraft. Denn „Schläfer“ heißen im Jargon von Geheimdiensten solche Spione, die im Ausland als normale Bürger leben und oft erst Jahre später durch Agentenführer „aktiviert“ werden. Wer ist also wer in dieser Serie, und wer ist gegen wen oder mit wem? Das fragt sich der Zuschauer praktisch von Beginn an.

Oberst Václav Vlach (Jan Vlasák) | © HBO Europe

Das Drama um die Rolle dieser Geheimdienste rund um das Jahr 1989 spiegelt sich besonders in der Rolle von Oberst Václav Vlach wider. Hervorragend charakterisiert Jan Vlasák einen ausgebrannten Agenten zwischen jahrelang gewohnter Brutalität und wachsender Resignation. Während er noch unbescholtene Mitbürger bedroht, einschüchtert und sogar schlägt, weint er um seine verstorbene Frau und seinen Kollegen, der wegen seines Doppelspiels sterben muss. Er sieht in Vlach den Verräter in den eigenen Reihen. Tatsächlich steht Vlach nicht auf Seiten der Briten, sondern der Russen. Er ist sozusagen der, der Števček im Werk von Le Carré war.

Und wer ist sonst wer in „Die Schläfer“? Das wird ab Folge 5 zunehmend aufgeklärt. Bei Le Carré war am Ende Einsatzleiter Bill Haydon der Verräter. Ausgerechnet Haydon, der beste Freund von vielen und ganz besonders von Jim Prideaux, den er in der Tschechoslowakei ans Messer lieferte. Dabei hatte ihn Prideaux sogar noch gewarnt, dass man ihm ganz dicht auf den Fersen sei. Damit Haydons Verrat nicht aufflog und das Angebot zur vermeintlichen Hilfe durch General Števček stichhaltig war, musste dieser „Helfer“ aus einem Land kommen, das „erst vor kurzem eine Gegenrevolution durchgemacht hatte: die Tschechoslowakei.“ Wie sie 1968 dort geschah. Ebenso wie in „Die Schläfer“ gerade wieder ein politischer und gesellschaftlicher Wandel im Jahr 1989 passiert. Die Logik von Geheimdiensten!

Eine Sequenz in Folge 3 entlarvt den ganzen Irrsinn ihrer Arbeit. Dort gibt der Brief einer Toten Rätsel auf. Es könne sich dabei um eine „Vernam-Chiffre“ handeln, erläutert ein Experte der britischen Botschaft: jeder Buchstabe werde durch einen Zufallsgenerator verschlüsselt. Wie er dies herausgefunden habe, will Mr. Smith wissen. Überhaupt nicht, sagt der Fachmann, weil solch eine Chiffre nicht zu entschlüsseln sei. Der Brief könne aber auch als Signal gewertet werden, erwägt er, quasi ein vereinbartes Zeichen für den Empfänger, um irgendwas zu machen. Wie er dies festgestellt habe, will Mr. Smith wissen. Überhaupt nicht, sagt der Fachmann und fügt an: „Vielleicht handelt es sich bei diesem Schreiben ja auch um einen ganz normalen Brief.“

Táňa Pauhofová spielt die Hauptrolle in „Die Schläfer“. | © HBO Go

Ironie, wie sie auch John Le Carré beschrieb. Ob man „so freundlich sein wolle, ihm die Post aus seinem Club nachzuschicken“ – darum bat der enttarnte britische Spion Haydon, nachdem er überführt war. Im Bewusstsein, sich auf ein Leben in der Sowjetunion nach einem Austausch mit britischen Agenten aus russischen Verliesen einstellen zu müssen. Für seine Ankunft machte er sich bereits Gedanken um seine Kleidung. Er wolle dort nach etwas aussehen. „Diese Moskauer Schneider sind indiskutabel“, bemerkte Haydon, selbst in seiner prekären Lage noch immer ganz Snob, „putzen einen auf wie einen Commis.“ Genau, ließ Le Carré seinen Verhörer antworten. Obwohl „dessen Meinung über Londoner Schneider keineswegs besser war.“

„Gerald“ war bei Le Carré der Deckname des Maulwurfs und Sowjet-Agenten Haydon im britischen Geheimdienst. Und wie es der Zufall will, heißt „Mr. Smith“ bei den „Schläfern“ eigentlich Gerald Lloyd. Nur gegenüber Fremden stellt er sich mit dem englischen Allerweltsnamen vor. Hat angesichts der vielen Parallelen also John le Carré auch das Drehbuch für „Die Schläfer“ geschrieben?

Der Brite ist letztes Jahr verstorben. Doch die Serie mit dem Originaltitel „Bez vědomí“ (auf Deutsch so viel wie: „Ohne es zu wissen“) wurde schon im November 2019 von HBO Europe in Tschechien gezeigt, zum 30. Jahrestag der Samtenen Revolution. Le Carrés Abschiedswerk? Im Vorspann wird Ondřej Gabriel als Drehbuchautor genannt. Falls dies kein Synonym für Le Carré ist, darf man mit einiger Sicherheit vermuten, dass Gabriel die Bücher von John Le Carré sehr oft und sehr gerne gelesen hat.