Interview

„Wir müssen an die Kunst glauben“

„Wir müssen an die Kunst glauben“

Jonathan Meese provoziert mit dem Hitlergruß und will „Stachel im Fleisch“ sein. Werke des deutschen Künstlers sind im Messepalast zu sehen

3. 9. 2015 - Text: PZ, Foto: Jan Bauer, CC BY-SA 3.0

Lange Haare, langer Bart: Man könnte Jonathan Meese mit einem Seher aus der Ausstellung „Künstler und Propheten“ verwechseln, die derzeit im Messepalast zu sehen ist (die PZ berichtete in Ausgabe 31–32/2015). Doch der 45-Jährige lehnt den Vergleich ab, er sieht sich selbst als Anti-Prophet. Einen Namen machte sich der deutsche Künstler mit provokanten Auftritten, bei denen er oft den Arm zum Hitlergruß hebt – eine Geste, für die er sich in Deutschland bereits vor Gericht verantworten musste und freigesprochen wurde. Zu seinen Werken zählen Skulpturen, Malereien, Videoinstallationen und Collagen, in denen er sich mit Persönlichkeiten der Weltgeschichte, Ur-Mythen und Heldensagen befasst. Ende Juli war er mit seiner aktuellen Performance zu Gast in Prag. Die Requisiten – ein Raum voller persönlicher Dinge – und Gemälde von Meese sind noch bis 20. September im Messepalast ausgestellt.

Was bedeutet es für Sie, ein Prophet zu sein? Oder in Ihrem Fall, kein Prophet zu sein?

Jonathan Meese: Ich bin lieber ein Kind, das spielt. Man kann spielen, ein Prophet zu sein. Man kann einen Gläubigen oder einen Aktivisten spielen. Aber in Wirklichkeit sollte man weder das eine noch das andere sein, weil Kunst keine Ideologie oder Religion ist. Sie ist weder Politik noch Spiritismus oder Esoterik. Sie spielt nur mit diesen Dingen. Die Kunst regiert die Zukunft.

Sie sagen, Sie seien kein Prophet. Dennoch sehen Sie voraus, dass die Kunst die Zukunft beherrschen wird. Können Sie uns das erklären?

Meese: Das ist reine Logik. Was sind die schönsten oder radikalsten Dinge in Ihrer Umgebung? Freundschaft, Liebe, Sonne, Natur, ein Planet. Aber über diese Dinge stimmen Sie nicht bei Wahlen ab, sie haben nichts mit Religion gemeinsam. Wir wollen immer, dass ein anderer über uns herrscht, aber es wäre besser, wenn wir unseren eigenen Impulsen folgen würden. So sollte Regieren funktionieren. Tiere bilden keine politischen Systeme aus, bauen keine Kirchen. Trotzdem leben sie in komplizierten Gesellschaften und sind sehr stark. Die Menschheit dagegen schafft Nutzloses. Wir nennen es Politik und glauben, dass es von all unseren Werken das Wichtigste sei. Aber das stimmt nicht. Wir müssen an die Kunst glauben.

Wo sehen Sie sich im Kunstkosmos, der voll ist von Politik, Wirtschaftsregeln und vorherrschenden gesellschaftlichen Konstrukten?

Meese: Ich bin immer der Stachel im Fleisch, der Tropfen auf den heißen Stein – eines Tages wird der Stein brechen. Es hängt nur davon ab, wie lange ich oder jemand anderes die Kraft hat, durchzuhalten. Und wie lange wir die Kraft haben, zu zerstören oder das System zu unterstützen.

Sollten wir nicht vor der Kunst niederknien, wenn sie in Zukunft regieren wird?

Meese: Man soll der Kunst immer Hochachtung entgegenbringen, aber man sollte nie vor ihr auf die Knie fallen. Ich würde nie erlauben, dass jemand vor meiner Kunst niederkniet. Wir sind hier nicht in einer Kathedrale. Niemand soll mein Schaffen zerstören oder stehlen. Jeder sollte selbst schaffen, an seinen Werken arbeiten – im Badezimmer, in der Küche, im Atelier, überall dort sollte man spielen.

Sie haben mit 22 Jahren begonnen, Werke zu erschaffen, als Sie über Kunst noch nicht viel wussten. Nun verweisen Sie bei Ihrer aktuellen Performance auf all die Propheten und auf bestimmte Aspekte der Kunstgeschichte. Wie empfinden Sie die Verschiebung von einer – sagen wir – freiwilligen Unkenntnis zu gezielten Verweisen auf konkrete Tatsachen?

Meese: Wissen ist in der Kunst nicht wichtig. Entscheidend ist der Instinkt und die Liebe zur Kunst. Beides hat sich in meinem Fall nicht geändert, sondern ist stärker geworden. Es ist wie beim Goldwaschen: Die großen Stücke bleiben hängen. Diejenigen, die nicht schwer genug sind, fließen davon. Manche Künstler, die ich einmal geliebt habe, sagen mir heute nichts mehr.

Fällt Ihnen zum Schluss noch etwas ein?

Meese: Die Diktatur der Kunst bedeutet Liebe zur Kunst. Viele können das nicht verstehen. Sobald sie das Wort „Diktatur“ hören, kommt es ihnen schlecht vor. Aber da irren sie sich – diese Diktatur ist gut. Die Sonne ist ein Diktator, Schlaf ist ein Diktator, aber sie sind gute Diktatoren. Außer ihnen haben wir auch schlechte Diktatoren – aus der Reihe der Menschen und der Götter. Aber diese interessieren mich nicht.

Das Gespräch führte Jen Kratochvil, Kurator der Nationalgalerie. Übersetzung: Sophie Kohoutek

Jonathan Meese: My Über Daddys. Messepalast (Veletržní palác, Dukelských hrdinů 47, Prag 7), geöffnet: täglich außer montags 10–18 Uhr, Eintritt frei, www.ngprague.cz, bis 20. September 2015

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