„Wir befinden uns im Krieg“

„Wir befinden uns im Krieg“

Nach den Anschlägen in Paris schüren tschechische Politiker Ängste – Muslime distanzieren sich von Terror

17. 11. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Vláda ČR

Auch Prag ist Paris. Diese Botschaft des Mitgefühls sendeten in den Tagen nach den Terroranschlägen viele Tschechen in die französische Hauptstadt. Hunderte Menschen kamen am Wochenende zur französischen Botschaft, um sich in ein Kondolenzbuch einzutragen und Kerzen anzuzünden. Der Miniatur-Eiffelturm auf dem Laurenziberg erstrahlte in den Farben der Tricolore und zur Schweigeminute am Montag erklangen im ganzen Land die Kirchenglocken. Zwischen all die Solidarität mischen sich hierzulande aber auch viele Stimmen, die Flüchtlinge und Terroristen in einen Topf werfen und damit Stimmung vor allem gegen Muslime machen.

In Deutschland hat nach den Anschlägen in Paris sogar CSU-Chef Horst Seehofer – alles andere als ein Freund großherziger Flüchtlingspolitik – eines verstanden: Man müsse die Flüchtlingsfrage klar trennen von der Bekämpfung des Terrorismus. Viele tschechische Politiker machen diesen Unterschied jedoch nicht. Als Gegner einer EU-weiten Flüchtlingsquote sehen sie in den Anschlägen eher eine Bestätigung ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Migranten. Premierminister Bohuslav Sobotka (ČSSD) etwa sagte, Europa sei bisher nicht ausreichend in der Lage gewesen, bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise die Sicherheit in den Vordergrund zu stellen. Wenn es nicht gelinge, die Sicherheit an den Außengrenzen des Schengenraums wiederherzustellen, müsse jeder Mitgliedstaat der EU seine eigenen Grenzen selbst schützen.

Der Regierungschef widersprach in seiner Reaktion dem Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker, der zuvor betont hatte, die Europäische Union dürfe nun nicht anfangen, Flüchtlinge abzuweisen. Sobotka zeigte sich von dieser Aussage enttäuscht. Tschechien müsse Menschen in Not helfen, sagte er, aber das Land müsse auch an seine eigene Sicherheit denken.

Laut Sobotka werde Tschechien weiterhin die irakische Regierung und die Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützen. Er habe Verteidigungsminister Martin Stropnický (ANO) aufgefordert, zu prüfen, wie Tschechien den Kurden und Jordanien noch helfen könnte. In der Vergangenheit lieferte Tschechien Munition an die Kurden und den Irak, nun will das Land auch Handwaffen zur Verfügung stellen.

Er kündigte zugleich an, dass die tschechisch-slowakische Grenze in Abstimmung mit den Nachbarn stärker überwacht werde. Polizei und Geheimdienst hatten bereits in der Nacht auf Samstag, unmittelbar nach den Anschlägen, bei denen mindestens 129 Menschen ums Leben gekommen waren, erhöhte Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, etwa bei der Bewachung von Flughäfen und öffentlichen Gebäuden. An diesem Dienstag, dem Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie, wollten die Behörden deutlich mehr Polizisten einsetzen als ursprünglich geplant. Am Nachmittag fanden zahlreiche Demonstrationen statt. Sobotka und Innenminister Milan Chovanec (ČSSD) fürchteten, dass Extremisten den Feiertag zu „Provokationen“ nutzen könnten. Das hänge mit der Spannung zusammen, welche die Terroranschläge in Paris hervorgerufen hatten, erklärte der Premier.

Finanzminister und ANO-Chef Andrej Babiš schlug deutlich härtere Töne an. Er forderte, die Außengrenzen des Schengenraums müssten umgehend geschlossen werden, andernfalls sei die Europäische Union bedroht. Die Menschen würden „die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen und es kann zur totalen Katastrophe kommen“. Seiner Ansicht nach habe sich mit den Anschlägen in Paris die Befürchtung erfüllt, „dass im Rahmen der Migrationswellen der Islamische Staat Kämpfer nach Europa schickt, die darauf abzielen, unsere Bevölkerung zu massakrieren. Das ist natürlich ein Akt des Krieges. Wir befinden uns im Krieg“, so Babiš.

Der laut Umfragen dauerhaft beliebteste Politiker des Landes verlangte, der Haushalt für Polizei und Armee müsse weiter aufgestockt werden. Tschechische Politiker sollten seiner Meinung nach außerdem ihre europäischen Amtskollegen überzeugen, sich nicht mehr „politisch korrekt“ zu verhalten, sondern „vor allem an die Sicherheit ihrer eigenen Völker, ihrer eigenen Bürger denken und nicht an humanitäre Hilfe, die natürlich wichtig ist, aber – wie man sehen kann – missbraucht wird“. Eine „Befestigung“ der Außengrenzen des Schengenraums will auch Präsident Miloš Zeman, der als Reaktion auf die Anschläge sagte: „Wir machen schwere Zeiten durch.“

Justizminister Robert Pelikán (ANO) dagegen sieht keinen Zusammenhang zwischen den Anschlägen in Paris und der Diskussion um die Grenzen. Sie für Flüchtlinge zu schließen helfe nicht, da Terroristen sich andere Wege suchen würden, sagte er in einem Interview mit dem Nachrichtenserver „Aktuálně.cz“. Außerdem dürften Flüchtlinge nicht als potenzielle Terroristen angesehen werden. „Sie fliehen genau davor“, so Pelikán. Er war auch einer der wenigen, die am Wochenende betonten, dass nicht der Islam für den Terror verantwortlich sei, sondern „eine Ideologie, eine Abweichung, die mit dem klassischen Islam nichts gemeinsam hat“.

Wie EU-Kommissionspräsident Juncker sieht auch Pelikán keinen Grund, die europäische Flüchtlingspolitik zu verschärfen. „Das waren keine Flüchtlinge, sondern Terroristen“, so der Minister, der vor einigen Wochen die Zustände in tschechischen Flüchtlingsunterkünften kritisiert und sich für die Aufnahme von mehr Asylbewerbern in Tschechien eingesetzt hatte.

Dass die Anschläge missbraucht werden könnten, um gegen Muslime zu hetzen, fürchten auch die Angehörigen der Religionsgemeinschaft hierzulande. Die Islamische Stiftung in Prag distanzierte sich deutlich von den Terrorakten und erklärte, dass Freiheit und Demokratie nicht von Radikalen zerstört werden dürften, weder von Islamisten noch von Rechtsradikalen. „Ein großer Teil der Muslime (in Tschechien, Anm. d. Red.) lebt schon seit Jahrzehnten hier. Die Menschen haben Familien gegründet und ihre Kinder im Geist europäischer Werte erzogen. Deswegen hoffen wir, dass in Tschechien anti-islamische und fremdenfeindliche Tendenzen nicht zunehmen werden.“

Auch die Flüchtlinge, die derzeit in der Einrichtung in Drahonice festgehalten werden, verurteilten die Anschläge. Ein Teil von ihnen war am Dienstag vergangener Woche in Hungerstreik getreten (siehe Interview). Aus Respekt vor den Opfern und ihren Angehörigen, so die Flüchtlinge, unterbrachen sie ihren Protest jedoch am Wochenende. „Wir (…) verdammen die verbrecherischen und feigen Taten, welche die menschenverachtende Gruppe ausübte, die sich selbst Islamischer Staat nennt“, schrieben die Flüchtlinge in einer Erklärung. „Auch wir wurden in unseren Ländern von den Verbrechen derselben Gruppe terrorisiert. Das ist der Grund für unsere Flucht in Sicherheit und Frieden, in Länder der Freiheit und der Demokratie.“

Das sieht mittlerweile auch der Premier so. Am Dienstagmorgen sagte er: „Auch wenn die Anschläge in Paris während der Flüchtlingskrise geschehen sind, müssen wir uns bewusst machen, dass gut organisierte islamistische Radikale die Morde begangen haben. Unser Zorn muss sich gegen sie richten, nicht gegen die Flüchtlinge.“