Wählen in der Stadt Kafkas

Wählen in der Stadt Kafkas

EU-Bürger dürfen auch in Tschechien bei den Kommunalwahlen an die Urnen. Eigentlich. Ein Selbstversuch

2. 10. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: Stefan Welzel

Ich ahne es schon im Aufzug: Die Sache hier wird kompliziert. Ich möchte in den dritten Stock, zur Anmeldestelle für Wähler im dritten Prager Stadtbezirk. Am 10. und 11. Oktober sind in Tschechien Kommunalwahlen, ich bin deutscher Staatsbürger und lebe seit sechs Jahren an der Moldau. Ich will wählen. Dass ich das darf, steht im Vertrag über die Arbeitsweise der EU.

Die Dame an der Rezeption des Rathauses schickt mich in den dritten Stock. Um dorthin zu gelangen, solle ich im Aufzug auf den Knopf mit der Nummer 6 drücken. Ich frage nicht warum. Oben empfängt mich eine nette Dame mit grauen Haaren. Es riecht nach Instantkaffee, in ausgedienten Kaffeedosen sprießen Ableger von Grünlilien, aus dem Radio tönen US-amerikanische Evergreens mit tschechischem Gesang. Ein Beamtenbüro in Tschechien eben.

„Sie sind Ausländer?“, fragt die Beamtin. Ich zücke die Kopien meines Personalausweises und meiner Bestätigung über meinen „vorübergehenden Aufenthalt“ in Prag 3 – und stelle dabei entsetzt fest, dass ich die Originale in Prag 2 im Kopierer vergessen habe. „Gut“, sagt die nette Beamtin und trägt mich ins Wählerregister ein. „Das ging aber einfach, trotz des kafkaesken Aufzugs“, denke ich und mache mich auf den Weg zurück in den Copyshop.

Ungleiche Bedingungen
Am Abend bekomme ich einen Anruf. Ob ich Lust hätte, dem Tschechischen Fernsehen ein Interview zu den Kommunalwahlen aus der Sicht eines EU-Bürgers zu geben. Das Innenministerium hatte vor Wochen beschlossen, dass weiterhin nur EU-Bürger mit „dauerhaftem Aufenthalt“ wählen könnten, nicht jedoch die mit „vorübergehendem Aufenthalt“, Leute wie ich also. Die Ombudsfrau Anna Šabatová nennt das eine „falsche Transposition von EU-Recht“ und „Diskriminierung“. „Das Wahlrecht wird ihnen [den EU-Bürgen, die in Tschechien wohnen] durch das EU-Recht zugesprochen und die Tschechische Republik hat sich zu dessen Einhaltung verpflichtet“, sagt die Öffentliche Verteidigerin der Rechte. Das macht Mut, dem Tschechischen Fernsehen sage ich zu.

Um mich auf mein Interview vorzubereiten, lese ich mir die Argumentation der Ombudsfrau durch. Das EU-Recht sieht vor, dass bei Kommunalwahlen gleiche Bedingungen für alle in der Kommune wohnenden EU-Bürger gelten müssen – egal welcher Nationalität sie angehören.

Für Tschechen gibt es aber nur eine Art von Aufenthalt, für Ausländer in Tschechien gibt es zwei. Den dauerhaften Aufenthalt erlangt man erst nach fünf Jahren und wenn die Ausländerbehörde keine Einwände hat. Weil das tschechische Wahlrecht damit eine Hürde schafft, die weder die EU anerkennt noch für tschechische Staatsbürger gilt, ist das tschechische Wahlrecht laut der Ombudsfrau Šabatová anfechtbar. In einer Pressemitteilung erklärt sie die Vorgehensweise, damit sich ein jeder sein Wahlrecht vor einem Richter erkämpfen kann – und bietet rechtliche Unterstützung.

Drehtermin am nächsten Tag im Park. Ich soll meinen Personalausweis in die Kamera halten, wohl um zu beweisen, dass auch jemand mit meinem Namen Deutscher sein kann. Warum ich denn in Prag wählen möchte, fragt mich die Journalistin. Weil hier mein Lebensmittelpunkt ist und weil mir nicht egal ist, ob mein Steuergeld in Fahrradwege oder in überteuerte und chronisch einsturzgefährdete Autotunnel investiert wird. Und ob ich bereit bin, für mein Wahlrecht zu kämpfen? Ja, sage ich. Aber ich bin schon froh, dass ich das dank der netten Dame im dritten Stock des Rathauses nicht muss, denke ich. Falsch gedacht.

Erfolgreich vor Gericht
Am Abend sehe ich die Hauptnachrichten mit meiner kämpferischen Ansage. Schnitt. Der Pressesprecher des Stadtteils Stanislav Kněnický sagt: „Dem Antrag auf die Eintragung ins Wahlregister von Herrn Martin Nejezchleba kann nicht stattgegeben werden.“ Mein Gefühl im Aufzug hat mich doch nicht getäuscht. Im Rathaus geht es zu wie in Kafkas Schloss.

Eine gute Nachricht hat das Tschechische Fernsehen dann doch noch für mich: ein Slowake mit Wohnsitz in Brünn hat den Gerichtsweg vor mir eingeschlagen und der Richter kam zu einem Schluss: Herr Nagy darf wählen. Das Innenministerium will das Urteil am Wochenende studieren und am Montag dazu Stellung nehmen.

In Tschechien leben laut Statistikamt etwa 160.000 Ausländer aus EU-Staaten. Ihr Recht, an den Kommunalwahlen teilzunehmen, hatte ihnen Tschechien bereits vor vier Jahren verwehrt. Damals machte das niemanden stutzig. „Auch in diesem Jahr ist das Interesse der Ausländer minimal“, gibt Magda Faltová, Leiterin der „Vereinigung für Integration und Migration“, zu. Das ändere aber nichts an der rechtlichen Situation.

„Politische Partizipation ist ein im Ausland bewährtes Mittel, um die Integration von Ausländern zu fördern“, fügt Faltová hinzu. Ihre Vereinigung setzt sich dafür ein, dass alle Ausländer mit Wohnsitz in Tschechien auf kommunaler Ebene wählen dürfen.

Am Montag bekomme ich Post. Der Betreff ist drei Zeilen lang und betrifft Paragraph 4 des Gesetzes 491/2001 Sb. Ein Rechtsanspruch auf Teilnahme an den Wahlen in Prag 3 und zum Magistrat der Hauptstadt sei nicht entstanden, steht weiter unten. Gleichzeitig lese ich in einer Pressemitteilung des Innenministeriums, man respektiere das Urteil des Brünner Gerichts. Ich bin verwirrt und rufe im Rathaus an. Eine verschüchterte Abteilungsleiterin versichert mir, man wolle mir keine Probleme bereiten, aber Vorschrift sei nun mal Vorschrift.

Wenige Stunden später bekomme ich erneut Post – diesmal elektronische. Ich darf wählen. Warum das Innenministerium sich zunächst stur stellt und dann so schnell klein beigibt, frage ich Integrationsexpertin Faltová. Sie meint, es sei für das Ministerium weniger peinlich, ein Gerichtsurteil zu akzeptieren, als zuzugeben, Fehler gemacht zu haben. Außerdem fehle es an politischem Willen, Ausländern in Tschechien mehr Rechte zuzugestehen. Allerdings mache sich zumindest der Menschenrechtsminister Jiří Dienstbier (ČSSD) für eine Lockerung des Wahlgesetzes stark. Gut, denke ich. Die Sozialdemokraten werde ich trotzdem nicht wählen.