Von einer halben zur doppelten Krone
Nur zwei Habsburger herrschten länger über die böhmischen Länder als der heute fast vergessene Jagiellone Vladislav II. Er starb vor 500 Jahren
9. 3. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Fotos: APZ
Fragt man heute Tschechen, was sie mit König Vladislav II. von Böhmen und Ungarn (tschechisch Vladislav Jagellonský) verbinden, stößt man meist auf längeres Nachdenken und – Schweigen. Gelegentlich auch auf die Gegenfrage: Ist das nicht der mit der polnischen Herkunft? Oder: Hat der nicht den Vladislav-Saal in der Prager Burg erbauen lassen? Näheres ist selten zu hören – eigentlich wenig für einen Herrscher, der 45 Jahre lang auf dem böhmischen Königsthron saß und damit – abgesehen von den Habsburgern Leopold I. und Franz-Josef I. – länger als alle anderen böhmischen Herrscher.
Auch von gestandenen Historikern wird die Wissbegier nicht unbedingt gestillt. So hat es zum Beispiel die Zeitschrift „Dějiny a současnost“ („Geschichte und Gegenwart“) fertiggebracht, in ihrem Kalender für 2016, der für jeden Tag penibel ein besonders denkwürdiges Ereignis verzeichnet, zum 13. März daran zu erinnern, dass die Mongolei vor 95 Jahren ihre Unabhängigkeit von China proklamierte, statt hier den 500. Todestag von Vladislav II. anzuführen. Und in einem ausführlichen Beitrag über das vielfältige Gedenkjahr 2016 – im Mittelpunkt steht natürlich der 700. Geburtstag von Kaiser Karl IV. am 14. Mai – hat die Tageszeitung „Lidové noviny“ in ihrer Silvesterausgabe zwar alle möglichen runden und weniger runden Jubiläen vermerkt, aber den nun wirklich runden Gedenktag von Vladislav II. übergangen.
Harsches Urteil
Vladislav II. genießt in der tschechischen Geschichtsschreibung traditionell kein hohes Ansehen, um es zurückhaltend zu formulieren. Diese Tradition wurde von keinem Geringeren begründet als von František Palacký (1798-1876), dem Vater der tschechischen Geschichtsschreibung, dessen Einfluss auf die Historikerzunft bis heute spürbar ist. Ihm zufolge fehlten Vladislav alle Eigenschaften, die ein Herrscher braucht, um „als weiser und starker Mann am Steuer des Staatsschiffes zu stehen und es zu einem gemeinsamen und edlen Ziel zu führen“. Palacký beschloss seine Charakteristik: „Mit einem Wort, Vladislav war als Mensch besser denn als Herrscher und nicht für den Platz geeignet, auf den es dem Schicksal gefiel, ihn zu stellen.“
Die harsche Einschätzung des langjährigen böhmischen Königs schießt etwas über das Ziel hinaus. Palacký wollte der zu neuem Bewusstsein aufstrebenden tschechischen Nation mit seinem Werk das Gemälde einer glorreichen Vergangenheit und damit auch das Fundament eines neuen Nationalbewusstseins schaffen. Jemand, der wie Palacký den Bogen von Karl IV. über den Hussitismus bis zu Georg von Podiebrad (böhmischer König von 1458 bis 1471) als eine insgesamt ruhmreiche, jeden nationalbewussten Tschechen mit Stolz erfüllende Periode begriff und beschrieb, konnte auf den unkriegerischen, kompromissbereiten, der Bildung und den Künsten zugewandten Vladislav nur geringschätzend herabblicken. Erst in jüngster Zeit haben einige Historiker Palackýs Urteil kritisch hinterfragt, so Josef Macek in seinem vierbändigen Werk über das „Zeitalter der Jagellonen in den böhmischen Ländern“ (1992-1999) oder Petr Čornej mit seinem Beitrag zur „Großen Geschichte der Länder der böhmischen Krone“. Doch wer liest solche Wälzer schon?
Kampf um die Krone
Vladislav wurde am 1. März 1456 als erster Sohn des polnischen Königs und litauischen Großfürsten Kasimir IV. aus dem Hause der Jagiellonen und seiner Gemahlin Elisabeth, einer Tochter des Habsburgers Albrecht II., geboren. Insgesamt gingen 13 Kinder aus dieser Verbindung zweier bedeutender Geschlechter hervor; von den sechs Söhnen gelangten fünf auf einen Königsthron. Über seine Mutter war Vladislav ein Ururenkel von Kaiser Karl IV. Fast könnte man sagen, die Wenzelskrone sei Vladislav in die Wiege gelegt worden. Doch so einfach war es nicht, wenn auch Vladislavs Mutter zutiefst davon überzeugt war, dass ihren Söhnen nicht nur die Herrschaft über Polen und Litauen zufallen musste, sondern aufgrund ihrer eigenen Abstammung auch die Wenzels- und Stephanskrone.
Diesen Ambitionen entsprach die Erziehung Vladislavs und seiner jüngeren Brüder. Es ist überliefert, dass Vladislav als Erwachsener fließend Polnisch, Tschechisch, Deutsch und Lateinisch sprach. Neben den Sprachen umfasste das Pensum die italienischen Humanisten, Grundlagen der Philosophie und Rhetorik, Poesie und Literatur. Reiten, Fechten und Jagen durften auch nicht fehlen, und ab dem 14. Lebensjahr hieß es, sich durch Teilnahme an Reisen des Vaters, an Verhandlungen von Landtagen und des königlichen Rates auf künftige Regierungsaufgaben vorzubereiten. Schon ein Jahr früher, 1469, wollte ihn der böhmische König Georg von Podiebrad zu seinem Nachfolger bestimmen. Dem Hussitenkönig ging es darum, mit diesem Schritt die Ansprüche des ungarischen Königs Matthias Corvinus zurückzudrängen, der sich im gleichen Jahr in Olmütz von der katholischen Opposition und den Vertretern der Nebenländer der böhmischen Krone (Mähren, Schlesien, Ober- und Niederlausitz) zum (Gegen-)König auf dem böhmischen Thron hatte wählen lassen. Vladislav brächte als Jagiellone eine beträchtliche politische und militärische Verstärkung mit, um den lästigen Corvinus endlich in die Schranken weisen zu können.
Doch in Krakau wollte König Kasimir für seinen ältesten Sohn keine Krone aus der Hand eines Ketzerkönigs. Die Wenzelskrone würde Vladislav ohnehin wie eine reife Frucht in den Schoß fallen, sobald Georg, ihr letzter Träger aus böhmischem Adel und schon von schwerer Krankheit gezeichnet, das Zeitliche segnen würde. Die Rechnung ging auf. Georg starb im März 1471, und zwei Monate später wählten dessen überwiegend utraquistische Parteigänger in Kutná Hora (Kuttenberg) den erst 15-jährigen Vladislav zum böhmischen König.
Garantierte Einheit
Es war keine leichte Aufgabe, die der Jüngling nun antrat, zumal er gleich mit einem Bündel von Problemen konfrontiert war: dem ungelösten Konflikt mit Matthias Corvinus, der weiterhin die Nebenländer der böhmischen Krone unter Kontrolle hatte und die Wenzelskrone beanspruchte; dem konfessionellen Konflikt in Böhmen zwischen Utraquisten und Katholiken, der von dem in katholischer Frömmigkeit erzogenen Vladislav einen Balanceakt verlangte und für den er aus Krakau kein Rezept erhalten hatte; der fehlenden Anerkennung als König durch den Papst mit der Folge, dass auch manche deutsche Fürsten damit zögerten; dem Mangel an eigenen Gütern in Böhmen und daraus fließende Einnahmen, unverzichtbare Grundlage jeder eigenständigen Politik; und schließlich der Übernahme erheblicher Schulden.
Nach jahrelangem kriegerischem Hin und Her, in das auch polnische und habsburgische Truppen einbezogen waren und das letztlich ohne Sieger endete, kam es 1478 zu monatelangen Verhandlungen zwischen den Diplomaten von Vladislav und Corvinus, deren Ergebnis von beiden im Juli 1479 in Olomouc (Olmütz) feierlich ratifiziert wurde: Beiden wurde der Titel „böhmischer König“ zugesprochen, wobei Vladislav die Herrschaft über das gesamte böhmische Königreich erhielt und Corvinus diejenige über die Nebenländer. Nach dem Tode eines der beiden, sollte der Überlebende über alle böhmischen Länder regieren. Mit dieser wichtigen Bestimmung war für die Zukunft die Einheit der böhmischen Kronländer garantiert, und Vladislav als der Jüngere durfte hoffen, dass das ungeteilte Königtum eben ihm zufallen werde. Ein Segen war vor allem, dass für das böhmische Kernland, seit Beginn der Hussitenkriege immer wieder von Feldzügen heimgesucht und verwüstet, endlich eine lange Phase der wirtschaftlichen und sozialen Erholung anbrach. War die nur vorübergehende Teilung der böhmischen Länder wirklich ein zu hoher Preis dafür?
Kuttenberger Frieden
In Böhmen trat nun der Konflikt zwischen den radikalen Kelchanhängern und den gemäßigten Utraquisten sowie Katholiken in den Vordergrund. Dabei agierte der König nicht immer glücklich, durchschaute wohl auch nicht, wie sehr die konfessionellen mit Ständeinteressen verwoben waren. So ließ er sich von Einflüsterungen seiner Ratgeber zu Repressionsmaßnahmen gegen die Radikalen verleiten, die im September 1483 zum zweiten Prager Fenstersturz führten (die PZ berichtete in Ausgabe 4/2014). Erst 1485 konnten die Streitigkeiten mit dem Kuttenberger Religionsfrieden beigelegt werden, der erneut die Gleichberechtigung der Bekenntnisse garantierte. Vladislav traute den Pragern fortan nicht mehr und zog, auch in Sorge um sein Leben, vom Königshof in der Altstadt (nahe dem Pulverturm) auf die Prager Burg, obwohl diese gerade wegen umfangreicher Umbauarbeiten wenig komfortabel war.
Vladislav war das Glück erneut gewogen. Matthias Corvinus starb im April 1490 in Wien, und da er keine legitimen Nachkommen hatte, war nun der ungarische Thron zur Neubesetzung frei. Mit ungeahnter Energie ergriff Vladislav diese sich bietende Gelegenheit, fast als ob er Corvinus alles früher erlittene Ungemach nachträglich heimzahlen wollte, und zog an der Spitze einer kleinen Streitmacht nach Ungarn. Doch musste es nicht zum Kampf gegen die Rivalen, darunter auch sein jüngerer Bruder Jan Olbracht, kommen, denn der ungarische Landtag rief Vladislav schon im Juni 1490 zum ungarischen König aus. Drei Monate später erfolgte die Krönung mit der Stephanskrone in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár). Freilich hatten die ungarischen Stände als Bedingung durchgesetzt, dass er seinen Regierungssitz von Prag nach Buda verlegt und dass er Corvinus’ verwitwete Gattin Beatrice von Aragón heiratete.
Spätes Glück
Die erste Bedingung wird er gerne erfüllt haben, konnte er doch auf diese Weise dem Prager Glaubensstreit entfliehen. In den ihm noch verbliebenen 26 Jahren reiste Vladislav nur noch dreimal nach Prag. Die langen Abwesenheiten verursachten zwar keinen deutlichen Machtzuwachs der Adelsstände auf Kosten des Königs und der Städte, aber sie begünstigten und beschleunigten diesen Prozess, der in dieser oder anderer Form in vielen Ländern den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markierte. Die im Jahre 1500 verabschiedete Vladislavsche Landordnung schrieb nun auf Jahrzehnte die starke Stellung der böhmischen Adelsstände fest, die erst 1620 mit der Schlacht am Weißen Berg gebrochen wurde.
Der zweiten Bedingung kam er zwar auch nach, allerdings ohne mit Beatrice wirklich eine Ehe zu führen. Diese zog sich nach zehn Jahren resigniert in ihre italienische Heimat zurück. Schon bei seiner ersten Gemahlin, Herzogin Barbara von Glogau, die nicht seine Herzenswahl war, hatte er sich geweigert, die Ehe zu vollziehen. 1500 annullierte der Papst beide Ehen, so dass Vladislav frei war, sich zwei Jahre später auf der Grundlage eines zugesandten Porträts für die Gräfin Anne de Foix-Candale, eine Verwandte des französischen Königs, zu entscheiden und mit ihr eine Familie zu gründen. 1503 kam Tochter Anna auf die Welt, 1506 der ersehnte Thronfolger Ludwig, dessen Geburt die Königin nicht überlebte. Vladislav muss sie aufrichtig geliebt haben, denn nach ihrem Tod wurde er schwermütig, alterte rasch und muss wohl eine beachtliche Leibesfülle angenommen haben, die es dem früher leidenschaftlichen Tänzer und Jäger immer schwerer machte, sich zu bewegen.
Erfüllte Prophezeiung
1515, im letzten Jahr vor seinem Tode, schloss Vladislav mit Kaiser Maximilian I. in Wien die Verlobungsverträge ab, mit denen er seine beiden halbwüchsigen Nachkommen Anna und Ludwig an das Haus Habsburg band und auf diese Weise mithalf, die Voraussetzungen für den späteren habsburgischen Griff nach Ostmitteleuropa zu schaffen. 1526 wählten die böhmischen Stände Ferdinand I. von Habsburg, seit 1521 mit Anna vermählt, zu ihrem neuen König, nachdem Vladislavs Sohn Ludwig II. unerwartet bei einem Feldzug zur Abwehr der Türken gefallen war. Vladislav starb am 13. März 1516 in Buda und wurde in Stuhlweißenburg, der Krönungsstadt der ungarischen Könige, beigesetzt. Am 31. März richteten die Prager Städte eine Trauerfeier aus, die Adelsstände erst knapp zwei Monate später auf der Prager Burg. Immerhin hatte Vladislav die Voraussage der Astrologen verwirklicht, die dem Stand der Sterne bei seiner Geburt entnommen haben wollten, er werde über viele Länder und Völker herrschen. Dass für ihn der Ruhm der Wenzelskrone nicht im Mittelpunkt allen Strebens stand, wollte ihm Palacký nicht verzeihen.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ