Von der Freiheit auf der Insel

Von der Freiheit auf der Insel

Lyriker Lutz Seiler stellt in Prag seinen Roman „Kruso“ vor, für den er in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis erhielt

18. 12. 2014 - Text: Maria SilenyText: Maria Sileny; Foto: Martin Mařák, Goethe-Institut Prag

 

Dunkelheit hat sich über Prag gelegt, das zähfließende Wasser der Moldau scheint schwarz geworden zu sein. Der Abend im Prager Goethe-Institut ist aber dem Meer gewidmet. Er schmeckt nach Salz und riecht nach Abenteuer. Die Hauptrolle spielt eine schmale Insel, die mehr als 600 Kilometer von Prag entfernt in der Ostsee liegt: Hiddensee.

Auf dieser Insel spielt der Roman „Kruso“, der in diesem Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Fast sind die Wellen zu hören, wie sie an der steilen Felsenküste zerbrechen, wenn der Autor Lutz Seiler von Hiddensee spricht, einem ganz und gar besonderen Ort. Dabei geht es nicht so sehr um die Strände, den Bodden oder den weiß-roten Leuchtturm. Das Besondere der Insel beruht auf ihrer gesellschaftlichen Sonderstellung zu DDR-Zeiten. Sie lag sozusagen am Rande der Diktatur. Das Regime hat sie als Nische für Andersdenkende, Aussteiger und Lebenskünstler geduldet, zugleich aber streng bewacht. Nacht für Nacht durchleuchteten Polizisten mit Taschenlampen die Strandkörbe, um nach „Fluchtwilligen“ zu suchen. Denn nur 50 Kilometer weiter liegt die dänische Insel Mön, damals ein Sehnsuchtsziel vieler, die es in die Freiheit zog.

Hunderte haben ihren Fluchtversuch mit dem Leben bezahlt. Andere blieben auf der Insel. Denn, wie Lutz Seiler im Roman schreibt: „Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.“ Da es aber nicht ohne Weiteres möglich war, sich auf der Insel aufzuhalten – Übernachtungsmöglichkeiten gab es kaum –, nahmen die Freiheitssucher es in Kauf, als Saisonkräfte in den dortigen Kneipen zu arbeiten. Und so kam es, dass auf Hiddensee jede Menge Kellner, Tresenleute, Beiköche und Küchengehilfen arbeiteten, die keine waren. Unter ihnen waren Dichter, Maler, Galeristen, promovierte Philosophen oder Soziologen. Den heute 51-jährigen Lutz Seiler zog es zum ersten Mal dorthin, als er Anfang zwanzig war. Der gebürtige Thüringer hatte das Maurerhandwerk gelernt und später Germanistik studiert. Dazwischen lebte er auf Hiddensee – als Tellerwäscher in der Gaststätte „Zum Klausner“. Dort erlebte er die letzten Monate der DDR und die Wendezeit. Diese Erfahrung hat er nun zu einem Roman verarbeitet, der zwar von der Wende handelt, aber kein Wenderoman sein will.

Worum es wirklich geht in seinem knapp 500 Seiten dicken Werk, davon erzählt Seiler an jenem Abend im Saal des Goethe-Instituts am Ufer der Moldau. Er ist aus Wilhelmshorst nahe Potsdam angereist, lebt dort, aber auch in Stockholm bei seiner schwedischen Ehefrau. Als Lutz Seiler auf der Bühne des Instituts Platz nimmt, um mit dem Literaturkritiker Helmut Böttiger ins Gespräch zu kommen, öffnet er erst einmal eine Dose Pilsner Urquell, die er selbst mitgebracht hat, und schenkt sich ein. Ins Lachen des Publikums hinein erzählt er dann vom Trinkverhalten zu DDR-Zeiten. Von süßen Schnäpsen, Eierlikör im Schokoladenbecher, vom süßen Wein. Getränke wie diese haben auch die Saisonarbeiter auf Hiddensee konsumiert, nach Feierabend in den Diskotheken. Für 2,75 Mark pro Stunde habe man damals dort gearbeitet, Getränke wurden angeschrieben, erzählt Seiler. Am Ende des Monats habe der Verdienst bei Null gelegen.

Freiheit der Herzen
Doch ums Geld ging es nicht. Auch nicht um die schwere Küchenarbeit: im Eiltempo Teller waschen, eimerweise Zwiebeln schneiden. Es ging um die Insel und um das Meer. „Damals wollte ich nichts anderes, nur am Meer und auf der Insel sein – zusammen mit Menschen, denen Dichtung etwas bedeutete“, sagt Seiler, der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Lyriker. „Kruso“ ist des Dichters erster Roman. Nicht umsonst erinnert der Titel an Robinson Crusoe.

Denn davon erzählt das Buch: von einem Inselabenteuer und einer Männerfreundschaft, wie die zwischen Robinson und Freitag. In Seilers Roman heißen die Helden Kruso und Ed. Beide verbindet ein Unglück: Ed hat bei einem Unfall seine Freundin verloren und Krusos Schwester ertrank, vermutlich bei dem Versuch, von Hiddensee über das Meer zu fliehen. Und so versucht Kruso all die Schiffbrüchigen des DDR-Regimes davon abzuhalten, es ihr nachzutun. Um das zu erreichen, entwirft er eine eigene Freiheitsphilosophie für eine eingeschworene Gemeinschaft. Magische Rituale gehören dazu: Alle, die auf Hiddensee ankommen, werden für drei Nächte in „schwarzen Quartieren“ untergebracht. Sie stärken sich mit „ewiger Suppe“, die im Topf immerzu auf „ewiger Flamme“ gewärmt wird. Neben Speiseresten werden auch seltsame Kräuter aus dem Garten in die heilige Suppe gegeben. Bis in solche Details hinein verzweigt sich die Frage nach den Wurzeln der Freiheit. In Krusos Philosophie führt die Erfahrung der Insel zu einer Freiheit der Herzen, die schließlich die Unfreiheit der Verhältnisse übersteigen soll …

Eigene Erlebnisse, tatsächlich existierende Orte und Menschen, Momente der Geschichte  sind für Seiler der Ausgangspunkt, der in die Zeitlosigkeit, in die Utopie, ins Fantastische führt. Ja, sagt der Dichter, er gleite beim Schreiben von der Wirklichkeit in die Fantasie, es sei eine einzige Schreibbewegung. Seilers Schreibbewegung ist die eines Bleistifts, der über die Seiten eines Ringblocks gleitet. Ein Jahr hat er gearbeitet, um den Roman auf diese Weise zu verfassen, zwei weitere Jahre an der Rohfassung gefeilt.

Entstanden ist eine Prosa, die, wie Poesie, laut gelesen am besten zum Ausdruck kommt. „Ich muss jeden Satz hundertmal sprechen – bis ich höre, dass er stimmt“, sagt Seiler auf der Bühne in Prag. Der Klang spiele eine große Rolle, so der Lyriker. „Ein Gewebe von Klangbildern“ will er erschaffen und am Ende eine „rhetorische Skulptur“ erreichen. Wenn Lutz Seiler dann aus seinem Buch vorliest, ist „das schwere, asthmatische Atmen der Ostsee“ zu hören und der Duft einer einsamen Kiefer, die rhythmisch vom Lichtkegel des Leuchtturms gestreichelt wird, scheint in der Luft zu liegen.

Lutz Seiler: Kruso. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 480 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-518-42447-6