„Vieles kommt anders als man denkt“
In Hamburg ist er ein Idol, bei Mladá Boleslav ein Hoffnungsträger: Fußball-Profi David Jarolím im Interview
27. 2. 2013 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Sorodorin, CC BY-SA 3.0
David Jarolím (33) hatte das Gespräch zunächst in die Prager Nobelmeile Pařížská verlegt; in eine Espresso-Bar, die Fußballern in der Vergangenheit oft als Treffpunkt diente. Allerdings wurde sie kürzlich umgebaut und ist jetzt ein Verkaufsshop für Kaffeemaschinen – für den Tschechien-Rückkehrer nur eine von mehreren neuen Erfahrungen in der alten Heimat.
Jarolím: Entschuldigung für die Verspätung. Ein Schiedsrichter gab uns in Mladá Boleslav gerade noch neue Informationen über die Regeln. Das ist unglaublich! Regeln und ihre Auslegung ändert man vielleicht im Sommer, aber doch nicht zu Beginn der Rückrunde.
Obwohl die Winterpause in diesem Jahr besonders lang war.
Jarolím: Das war ebenfalls unnötig! Schließlich haben alle Stadien in Tschechiens höchster Spielklasse eine Rasenheizung.
Zwei Gründe mehr für die Frage, was Sie nach Ihrer langen Karriere noch daran reizt, erstmals als Profi in der tschechischen Liga zu spielen.
Jarolím: Ich wollte wegen der Familie nach Prag zurückkehren. Aber ich wollte auch weiter spielen. Es ist eine Motivation für mich, nochmals gute Leistungen zu zeigen. Ich habe damit auch eine gewisse Verantwortung für den Verein übernommen. Darauf freue ich mich, auch wenn die Stadien nicht so voll sein werden wie in der Bundesliga. Obwohl man die tschechische Liga nicht mit der deutschen vergleichen darf – auch hier wird es interessante Duelle geben.
Ihr neuer Klub FK Mladá Boleslav ist ein sogenannter „VW“-Verein. Welche Rolle spielte das finanzielle Angebot dabei, Ihre Karriere fortzusetzen?
Jarolím: Es ist kein Geheimnis, dass Mladá Boleslav von VW beziehungsweise Škoda gefördert wird. Aber ich bin nicht wegen des Geldes dorthin gegangen. Für tschechische Verhältnisse ist das jedoch ein sehr solider und gesunder Verein. Das war mir schon wichtig. Ebenso die sportliche Perspektive. Boleslav steht im Viertelfinale des Pokals und man kann sich noch international qualifizieren.
Zudem ist Boleslav nach dem 1:0-Sieg gegen Příbram am Wochenende weiterhin Tabellenfünfter und kann auch über die Gambrinus-Liga auf die Europa League hoffen. Ihr Vertrag gilt bis Saisonende. Hängen Sie dort eine weitere Saison an, falls dieses Ziel erreicht wird?
Jarolím: Ich schließe es nicht aus, aber wir haben abgesprochen, dass wir uns vor der nächsten Saison wieder zusammensetzen und nach einer Lösung suchen, die beide Seiten zufriedenstellt.
Sie spielten länger in der Bundesliga als jeder Tscheche und stehen mit 318 Einsätzen sogar in den Top Ten aller Ausländer. Ergab sich keine Möglichkeit, diese Zahl zu erhöhen, vielleicht noch Rekordausländer zu werden?
Jarolím: Es war für mich die erste Option im Winter, nochmals in der Bundesliga zu spielen. Leider hat das nicht geklappt. Ich habe bis zum letzten Moment auf einen Verein gewartet, aber alle haben sich schließlich anders entschieden. Das muss man respektieren. Zwar kam ein Angebot vom 1. FC Kaiserslautern, das ist auch als Zweitligist ein großer Name im deutschen Fußball, aber letztendlich habe ich es aus familiären Gründen ausgeschlagen.
Nach Stationen beim FC Bayern und beim 1. FC Nürnberg sagten Sie einmal, Franken gefalle ihnen allein schon wegen der Nähe zu Prag etwas besser als Oberbayern. Ein neuerliches Engagement bei Ihrem Ex-Klub Nürnberg oder gar bei Aufsteiger Fürth erschien auch aus diesem Grund sinnvoll.
Jarolím: Es gab tatsächlich Kontakte und wäre für mich auch interessant gewesen. Aber beide Klubs haben sich ebenfalls anders entschieden. Nach den Gründen dafür muss man nun nicht mehr suchen.
Scheiterte ein Vertrag am Geld?
Jarolím: Nein, nein, nein, das mit Sicherheit nicht!
Mehr als die Hälfte Ihres Lebens verbrachten Sie in Deutschland. Sind Sie von der Mentalität her mittlerweile mehr ein tschechischer Deutscher als ein deutscher Tscheche?
Jarolím (lacht): Schwer zu sagen. Ich denke, die Mentalität ist ähnlich. Ich fühle mich in beiden Ländern sehr wohl. Wenn ich länger in Prag bin, vermisse ich Deutschland schon, konkret Hamburg. Ich hatte anfangs Schwierigkeiten, mich dort einzuleben, nach acht Jahren in Bayern und Franken. Doch jetzt bin ich sehr froh, diese Erfahrungen zu haben, weil jede Region etwas Eigenes hat.
Wo sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen Ihren beiden „Heimaten“?
Jarolím: Am besten kann man das im Sport vergleichen. Ich sehe, dass viele tschechische Spieler im Vergleich zu denen aus anderen europäischen Ländern sehr zuverlässig und diszipliniert sind. Das zeigen auch die Erfahrungen in der Bundesliga, selbst wenn es mal Ausnahmen gab. Tschechische Spieler tun immer sehr viel für den Verein.
Und wo gibt es Unterschiede, haben Sie etwas von den Deutschen übernehmen können?
Jarolím: Ich bin schon mit 16 Jahren nach Deutschland gekommen. Dort habe ich vieles gelernt und automatisch übernommen und kann daher nur schwer vergleichen. Am besten geht es für mich auch hier durch den Fußball und seine Tradition. Für viele deutsche Fans ist Fußball mehr als Sport, beinahe schon das Leben. Da werden Jahreskarten von Generation zu Generation übertragen. Das finde ich schön. Solch eine Euphorie gibt es in Tschechien nicht.
Sie trugen mit Ihrem Landsmann Jaroslav Drobný entscheidend dazu bei, dass der HSV im Jahr 2012 nicht aus der Bundesliga abstieg. Trotzdem wurden Sie anschließend vom Hof gejagt. Ist das für Sie jetzt noch ein Schock?
Jarolím: Neun Jahre beim gleichen Verein sind eine sehr lange Zeit. Meine Vorstellung war es, in Hamburg meine Karriere zu beenden. Das wäre das perfekte Szenario gewesen. Ich wäre auch gerne nur noch für ein Jahr geblieben. Aber gerade im Fußball kann man sich vieles wünschen und es kommt doch anders. Das geht manchmal ganz schnell.
Sie sind schon noch enttäuscht.
Jarolím: Inzwischen ist die Enttäuschung nicht mehr so groß wie im April, als ich es erfahren habe. Es war natürlich schwer! Aber ich habe mich super von den Fans verabschiedet, das letzte Heimspiel war überragend, sehr emotional. Man kann sich vieles kaufen, aber nicht so etwas, das bleibt immer in Erinnerung und ich werde das niemals vergessen. Die Krönung war dann noch, dass wir in der Liga geblieben sind, nach solch einer schweren Saison.
Und trotz dieser schlechten Erfahrung mit dem Führungspersonal wollen Sie beim HSV nach Ihrer aktiven Karriere als Trainer anfangen.
Jarolím: Ich habe nun mal meine schönsten Momente im Fußball in Hamburg erlebt. So viele Spieler waren in Hamburg, aber ich liege nach Anzahl der Spiele in der Vereinstabelle auf dem zehnten Platz (257 Bundesligaspiele, Anm. d. Red.). Darauf bin ich einfach stolz. Im Kopf bleibt auch, dass ich in neun Jahren mit dem Verein sechsmal international gespielt habe.
Trotzdem treffen Sie dann wahrscheinlich wieder auf genau jene Leute, die Sie als Spieler nicht mehr wollten.
Jarolím: So ist der Fußball. Ich war sicher, noch ein oder zwei Jahre lang etwas geben zu können. Sie waren anderer Meinung, das muss man respektieren. Ich wollte keinen Streit, dafür liegt mir der Verein zu sehr am Herzen. Ich wollte nicht, dass das, was in neun Jahren entstanden ist, in wenigen Wochen kaputt geht. Ich hatte mit den gleichen Leuten ja auch über neue Aufgaben für mich nach der aktiven Karriere gesprochen. Ich habe dafür bereits einen Vertrag für drei Jahre unterschrieben. Wahrscheinlich werde ich als Jugendtrainer tätig sein, aber das muss man noch konkretisieren.
Sie spielten in der Saison 2008/09 lange um drei Titel mit, verloren jeweils gegen Bremen im Halbfinale des UEFA-Cups und DFB-Pokals. Enttäuscht, dass es in all den Jahren nie zu einer Trophäe mit dem HSV gereicht hat?
Jarolím: Das tut weh! Auch 2005/06 hatten wir eine tolle Position und griffen den Tabellenführer an. Auch damals verloren wir am letzten Spieltag gegen Bremen. Wir qualifizierten uns zwar noch für die Champions League, wussten aber nicht, ob wir uns darüber freuen oder aufgrund des verpassten Meistertitels weinen sollten. Und 2009 kann man überhaupt nicht beschreiben. Das waren absolut ausgeglichene Spiele, da haben Kleinigkeiten entschieden. Uns hat auch ein bisschen Glück gefehlt, als zum Beispiel ein reguläres Tor nicht anerkannt wurde.
Hinter Stefan Effenberg (110) sind Sie der Spieler mit den meisten Gelben Karten (96) in der Bundesliga. Rudi Völler nannte Sie einst einen „Schwalbenkönig“. Konnten Sie in Ihrer Karriere immer mehr austeilen als einstecken?
Jarolím: Ich denke beides. Ich hatte einen ganz schweren Start in der Bundesliga, hatte eine Knieoperation, war acht Monate lang verletzt. Ich bin meinem damaligen Trainer Klaus Augenthaler heute noch dankbar, dass er mich beim 1. FC Nürnberg wieder aufgebaut hat. Ich brauchte lange, um das geforderte hohe Niveau zu erreichen. Zudem war das Knie noch lange instabil. Auch deshalb lag ich manchmal am Boden. Es war oft nicht Provokation, sondern zuweilen auch persönlicher Schutz.
Jiří Štajner ging von Hannover zurück nach Liberec, war im letzten Sommer schon 36 Jahre alt und trotzdem nah dran, mit Tschechien zur EM zu fahren. Haben Sie noch Ambitionen aufs Nationalteam?
Jarolím: Ich habe auch nicht verstanden, dass Štajner bei der EM nicht dabei war. Man wollte jüngere Spieler vorziehen. Da fehlt es an Respekt, würde ich sagen. Das war ein klarer Hinweis für andere Spieler. Ich wurde unter dem neuen Trainer noch nie nominiert. Deshalb ist das Thema Nationalelf für mich wohl vorbei, selbst wenn ich beste Leistungen zeigen würde.
In der Nationalelf wiederholten Sie selten Ihre tollen Leistungen von der Bundesliga. Experten führten dies darauf zurück, dass Sie oft auf falschen Positionen spielen mussten. Sehen Sie das auch so?
Jarolím: Das könnte ein Grund sein. Vielleicht war noch wichtiger, dass ich oft nicht von Anfang an spielen durfte, obwohl ich in toller Form war und mit dem HSV international spielte. Leider wurde auf andere Spieler gesetzt. Das ist irgendwie komisch gelaufen, ich hätte mehr Spiele machen können – mit Sicherheit. Trotzdem habe ich Erfahrungen bei zwei großen Turnieren gesammelt.
War der Abschied 2009 aus der Nationalelf für Sie enttäuschend?
Jarolím: Was heißt enttäuschend? Ich habe überhaupt nicht gewusst, dass das der Abschied war! Bis heute hat mich keiner angerufen oder es mir klar gesagt. Es hieß einfach nur, dass man auf andere Spieler baut. Das war für mich nicht gerade professionell.
Mitten im Abstiegskampf 2012 verboten Sie Ihrer Tochter Ella vor einem Spiel erstmals, ein Trikot des Papas zu tragen. Sind Sie sehr abergläubisch?
Jarolím: Ich erinnere mich. Immer wenn sie dieses Trikot getragen hat, haben wir die Heimspiele nie gewonnen. Also habe ich zu meiner Frau gesagt, wir müssen etwas ändern. Man hat wegen des Abstiegskampfes sogar zu Hause angefangen zu spinnen.
Fürchten Sie, dass sich Ihr Aberglaube später auf Ella überträgt?
Jarolím (lacht): Das war nur eine Ausnahme. Ich bin nicht immer abergläubisch, nur bei gewissen Sachen. Darüber darf man jedoch nicht sprechen, das muss ein Geheimnis bleiben. Es sind einfach gewisse Dinge, die ich nicht ändern will.
Wann werden Sie zum zweiten Mal Vater?
Jarolím: Im Juni. Diesmal wird es ein Junge.
Zur Person
David Jarolím wurde am 17. Mai 1979 als zweiter Sohn des tschechischen Nationalspielers Karel Jarolím in Čáslav geboren. Seine Kindheit verbrachte er teilweise im französischen Rouen, wo sein Vater beim FC kickte. Mit 16 Jahren wechselte Jarolím von Slavia Prag ins Internat des FC Bayern München. Für den deutschen Rekordmeister spielte er nur einmal in der Bundesliga, ansonsten lief er für die Amateure auf. Der Durchbruch gelang ihm zwischen 2000 und 2003 beim 1. FC Nürnberg, für den er 73 Bundesliga-Partien bestritt. Anschließend ging er zum Hamburger SV, für den er 339 Pflichtspiele absolvierte. Dort wurde der lauf- und zweikampfstarke Mittelfeldspieler in neun Jahren zu einem Idol der Fans. Ab 2008 fungierte Jarolím auch als Kapitän der Mannschaft. Nach der Saison 2011/12 schloss sich Jarolím dem französischen Erstligisten Evian TG an, den er nach nur fünf Liga-Einsätzen im November wieder verließ. David Jarolím stand zwischen 2005 und 2009 in 29 Länderspielen für Tschechiens A-Mannschaft auf dem Rasen und gehörte den Aufgeboten für die WM 2006 und die EM 2008 an. Davor spielte er für die Jugendnationalteams von der U-15 bis zur U-21. (khan)
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