Die Messi-Show
Rückblick

Die Messi-Show

Im November gedenkt man traditionell der Verstorbenen – und erinnert sich in diesem Jahr gerne an einen, der zum Glück noch lebt

1. 11. 2021 - Text: Klaus Hanisch; Titelbild: Nathan Rupert, CC BY-NC-ND 2.0

Als Diego Maradona, der andere argentinische Wunderfußballer, im November letzten Jahres starb, wurde daran erinnert, dass Fans in Neapel noch Jahrzehnte nach seinen wunderbaren Spielen sangen: „Oh Mama, Mama, ich habe Maradoooona gesehen – und bin verliebt.“ Das können schon jetzt – und zu seinen Lebzeiten – alle sagen, die vor genau zehn Jahren dessen „Ziehsohn“ Lionel Messi in Prag spielen sahen.

Wenn er in höchstem Tempo in Richtung gegnerisches Tor sprintet, erinnern seine kleinen schnellen Schritte an Stiche einer Nähmaschine. Doch Lionel Messi fügt nicht zusammen, er reißt auseinander. Nämlich die Abwehrreihen seiner Gegner. Wie Maradona ist auch Messi Spielmacher und Torjäger zugleich, schnippelt und dribbelt, lupft und köpfelt, ist überall und nie zu stellen von den Gegenspielern. Messi demonstriert die Leichtigkeit des fußballerischen Seins – so auch am Abend des 1. November 2011, als der kleine Argentinier mit dem FC Barcelona zu einer Champions-League-Partie gegen Viktoria Pilsen aufläuft.

Lionel Messi ist damals erst 24 Jahre alt und trotzdem schon ein Phänomen. Bereits 2009 hatte er mit dem FC Barcelona alles gewonnen, was überhaupt im Profifußball zu gewinnen ist: Champions League, Klub-WM, spanische Meisterschaft, Pokal und Supercup, europäischer Supercup. Sechs Titel in einer Spielzeit – bis dahin einmalig. Für Messi selbst gab es sogar noch eine siebte Trophäe: Weltfußballer des Jahres.

Ein Jahr nach diesem Triumph schoss er den FC Barcelona mit 34 Toren quasi allein zum spanischen Meister, sicherte sich 2010 zudem erstmals den Goldenen Schuh für den besten Torjäger Europas. Und auch in der folgenden Saison sammelte er sechs Titel: Champions League, Klub-WM, spanischer Meister, europäischer Supercup sowie zwei persönliche Ehrungen als bester Spieler Europas und erneut als Weltfußballer – zum dritten Mal nacheinander, als erster Profi überhaupt.

Nach dem Finale gegen die Katalanen im Mai 2011 sagte Alex Ferguson, dass er in seiner (26 Jahre währenden) Karriere als Trainer nie gegen ein besseres Team gespielt habe als gegen diesen FC Barcelona. Sein Manchester United verlor dieses Endspiel mit 1:3 und war damit noch gut bedient. So beeindruckend spielt Barca in jenen Jahren seine Gegner an die Wand, so überzeugend ist Leo Messi in all seinen Auftritten.

„Die beste Mannschaft aller Zeiten“, schrieb der „Kicker“ folgerichtig über den FC Barcelona in seiner Vorschau auf die Europacup-Saison 2011/12. Die Elf zelebriere einen „betörend schönen Fußball“ und zudem erfolgreich. Wer könne sie je aufhalten, fragt das deutsche Fachblatt. Denn Lionel Messi ist bei Barca umgeben von Spaniern, die zur gleichen Zeit auch mit ihrer Nationalelf das Maß aller (Fußball-)Dinge sind. Nicht allein wegen ihrer einmaligen Titelserie mit der WM 2010 und den EM-Triumphen 2008 und 2012, sondern auch wegen ihres fußballerischen Genies.

Über 20.000 sahen das Spiel in der Synot Tip Aréna. | © khan

Auf den tschechischen Meister Viktoria Pilsen trifft Barca Anfang November 2011 im Prager Eden-Stadion – eigentlich Heimstätte von Slavia Prag. Denn das Stadion in Pilsen ist nicht tauglich für Partien in der höchsten europäischen Spielklasse. Barcelona kann sich in diesem Spiel vorzeitig den Einzug ins Achtelfinale der Champions League sichern. Dementsprechend sind fast alle Welt- und Europameister, die für Barca spielen, mit an Bord.

Lediglich Xavi machte die Reise nach Prag nicht mit. Der Spiritus Rector der Barca-Mannschaft wurde – ein Treppenwitz der Fußball-Geschichte – trotz aller Titel und Künste nie persönlich ausgezeichnet. Weshalb Xavi das Bonmot prägte: „Ich mache Weltfußballer.“ Messi eben! Und der läuft in der tschechischen Metropole auf. Messi will immer, kann immer. „Wenn man ihn nicht spielen lässt, ist er stinkig“, sagte sein Trainer Pep Guardiola vorab. Auch Messis Vater bestätigte dies bei jeder Nachfrage.

Die Titelsammler Carles Puyol und Sergio Busquets stehen ebenfalls auf dem Platz. Und Cesc Fàbregas, der gegen Pilsen ein Tor schießt und sich darüber freut, als ob es sein allererstes wäre. Auch Andrés Iniesta, Schütze des spanischen Siegtreffers im WM-Finale ein Jahr zuvor, macht sich mit seinen Kollegen auf dem Platz warm, kommt allerdings nicht zum Einsatz. Als Messi den Prager Rasen betritt, geht ein Raunen durchs Publikum. Er schlägt beim Aufwärmen nicht wie Maradona den Ball im Mittelkreis dreimal hoch in die Luft, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Er jongliert ihn auch nicht über den Rasen, bis er dessen überdrüssig wird. Vielmehr erweist er sich noch als normaler Teamplayer im Kreis seiner Mitspieler.

Kaum ist das Spiel angepfiffen, wird aber sofort deutlich, wer der Superstar im Eden-Stadion ist. Vor allem durch ihn dominiert Barca Partie und Gegner. Pilsen hat kaum etwas dagegen zu setzen, fast folgerichtig dezimieren sich die Tschechen durch einen Platzverweis schon Mitte der ersten Hälfte selbst. An jenem kühlen Herbst-Abend im November 2011 führt Messi in der tschechischen Hauptstadt vor Augen, dass er bereits auf der Höhe seiner Spielkunst ist. Am Ende steht ein klarer 4:0-Sieg für die Katalanen auf der Anzeigetafel. Dieses Ergebnis ist jedoch nur für die Annalen wichtig. Entscheidend für die, die dabei waren, sind die drei Tore, die Leo Messi erzielt. Wie früher bei Maradona sind auch seine Tore nicht selten Meisterwerke:

24. Minute. Messi wird von Čišovský im Strafraum von den Beinen geholt, der Slowake sieht dafür die Rote Karte. Der Gefoulte schießt den Elfmeter selbst, schiebt locker an Torhüter Pavlík zur Führung ein. Das 200. Tor von Messi für Barcelona. 1:0 für die Gäste.

45. Minute +1. Messi macht das 2:0. Nach einem Doppelpass mit Adriano im Strafraum zieht der Argentinier aus acht Metern ab, Pilsens Keeper ist ohne Chance.

90. Minute. 4:0 für Barca. Nach dem Kopfballtreffer von Cesc Fàbregas zum 3:0 schließlich der Dreierpack von Messi. Piqué bedient ihn mit der Hacke, der Argentinier umkurvt den Keeper und schiebt ein. Tor 202 von Messi. Maradona hatte mit 24 Jahren „nur“ 196 Treffer geschossen.

Čišovský sieht Rot, Messi trifft vom Punkt. | © khan

Das Volk auf den Stadionrängen jubelt, das Szenarium im Eden-Stadion ähnelt Brot und Spielen aus der Römerzeit. Messis Auftritt ist dermaßen überwältigend, fast nicht von dieser (Fußball-)Welt, dass die „Prager Zeitung“ die Eindrücke von ihm und diesem Spiel zwangsläufig in Form einer Glosse wiedergibt:

Auf Messis Schneide

Wenn der beste Fußballer der Welt zu Gast ist, machen Städte immer einen demütigen Kniefall vor ihm. Nicht so Prag. „Hej, Messi“, titelte eine Fachzeitung vor dem Champions-League-Spiel zwischen Pilsen und Barcelona respektlos zur Begrüßung. Was heißen sollte: „Schön, dass du da bist. Aber halte dich bitte zurück!“

Denn Lionel Messi bereitet nichts als Probleme. Entweder er seziert Barcas Gegner mit Tempo-Dribblings und Doppelpässen messischarf. Oder er spaltet eine Elf allein wegen seines Trikots. Wie Pilsen.

Schon vor dem Hinspiel in Barcelona bekundete Václav Pilař seinen natürlichen Anspruch auf den Dress, weil er in Tschechien ja als Mini-Messi gilt. Bekommen hat das Trikot jedoch Milan Petržela, weil er sich bereits in der Halbzeit mit dem Messionar für höchste Fußball-Kultur ins Benehmen gesetzt hatte. Im Gegenzug für den Tausch versprach der Pilsner Angreifer, im Rückspiel eine 100-prozentige Chance allein vor dem Barca-Torhüter liegen zu lassen. Was er auch verlässlich erfüllte.

In dieser Partie sorgte der Superstar des FC Barcelona für größte Unordnung im Pilsner Strafraum und machte damit seinem Namen alle Ehre. Mehrfach ging er dabei durch die Abwehrkette des tschechischen Meisters wie ein Messi durch die Butter.

Wegen der Trikot-Affäre stand der Mannschaftsgeist bei Viktoria Pilsen tagelang auf Messis Schneide. Doch Leo selbst löste die Spannungen. Nachdem er seine Mession bereits in der ersten Hälfte mit zwei Toren erfüllt hatte, gab er Pilař sein Trikot gleich mit dem Pausenpfiff. Und nachdem mit seinem dritten Tor kurz vor Ende die Messi endgültig gelesen war, beglückte er auch noch Pilsens Verteidiger František Rajtoral mit einem Shirt.

Damit kehrte endlich wieder Ruhe in den Reihen der Westböhmen ein. Ewiger Dank sei dem Messias.

Lionel Messi in der Saison 2011/12 | © CC0 1.0

Als sich Maradona im November 2001 aus Neapel verabschiedete, sollen selbst Journalisten auf Stühlen gestanden und „Maradooooo, Maradooooo“ intoniert haben. Auch Messis Auftritt in Prag zehn Jahre später führt zu einem Hype selbst unter erfahrenen Reporterkollegen. Spanische Radio-Kommentatoren, die das Spiel live in die Heimat übertragen, brüllen so laut in ihre Mikrofone, dass sich tschechische Kollegen auf den Presseplätzen mehrfach erschrocken nach ihnen umdrehen. Vor allem nach Toren von Messi. „Gooool, Gol, Gol, Gol, Goooooooool. Messiiiiiiiiii!“

Sein Spiel zu sehen – „einfach nur schön“, schwärmt ein Kollege von der „Bild“-Zeitung, der extra aus Dresden angereist ist. „So schön!“ Für Messi sind die gegnerischen Abwehrspieler wie Slalomstangen, gleich einem Skifahrer kurvt er durch die Pilsener Abwehrreihen. Den Ball dabei ganz eng am Fuß – als ob er ein verlängerter Zeh wäre. Finten, Tricks und Tore.

In der sogenannten Mixed Zone warten Berichterstatter auf Aussagen der Spieler. Sie liegt im „Bauch“ des Eden-Stadions, nahe an den Mannschaftsbussen. Messi bleibt wie immer eher wortkarg, mit Phrasen, dankbar für den Sieg und so weiter. Trotzdem ist ein Prager Fußball-Experte beglückt darüber, dass er „zwei Minuten Messi“ auf seinem Tonband hat. Es klingt beinahe so, als ob er einen Sechser im Lotto hätte.

Zu dem Zeitpunkt hat Trainer Pep Guardiola oben im Presseraum bereits seine Spieltag-Konferenz begonnen. Fragen zu Messis (erneuter) Glanzvorstellung beantwortet er ebenso einsilbig wie lapidar. Auf Spanisch, Englisch und Katalanisch. Guardiola streicht sich kaum durch den Bart, knetet auch nicht nachdenklich sein Gesicht, wie so oft bei Interviews und Pressekonferenzen. Was soll er schon sagen zur Leistung seiner Elf – und zu Messi? Schließlich hat wieder jeder gesehen, welch Genius dieser Argentinier ist.

Barca-Trainer Guardiola nach dem Spiel | © APZ/khan

Lieber schreibt Guardiola seiner tschechischen Übersetzerin am Ende nicht nur ein Autogramm in ihr Heft, sondern noch ein paar Zeilen dazu: „Danke für Ihre Hilfe“. Das erzählt sie mir, als ich sie vier Jahre später während der U21- EM in Tschechien erneut treffe. „Zabiják MESSI“, überschreibt das tschechische Fachblatt „Sport“ am nächsten Tag seinen Spielbericht: „Killer Messi“. Am Ende jener Saison 2011/12, in der Barca in Prag antritt, wird er unfassbare 50 Tore allein in der spanischen Liga erzielt haben.

Auf den Friedhöfen in Neapel wurden angeblich sogar die Toten bedauert, sofern sie Maradona niemals spielen sahen: „Ihr wisst nicht, was ihr verpasst habt.“ Gerade in dem Moment, als Lionel Messi den Platz betrat, klingelte mein Handy. Meine Frau teilte mir mit, dass meine Großmutter in Deutschland gerade verstorben war. Sie wurde genau 100 Jahre alt und war ihr Leben lang ein großer Fußball-Fan. Und sie wusste um meine Leidenschaft für Prag. Dass sie ausgerechnet an dem Tag starb, an dem einer der größten Fußballer aller Zeiten im Eden-Stadion eine große Show auf den Rasen zauberte, hätte sie sicher gefreut.