Vertreibung als Mittel der Friedenssicherung

Vertreibung als Mittel der Friedenssicherung

Mathias Beer gibt einen gelungenen Überblick über die „Flucht und Vertreibung der Deutschen“

22. 1. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Beck-Verlag

 

Das Thema „Vertreibung“ löst auch nach fast 70 Jahren immer noch kontroverse Diskussionen aus. In Tschechien entfachte beispielsweise Karel Schwarzenberg vor einem Jahr mit seiner Aussage im Präsidenten-Wahlkampf einen heftigen Disput, als er die Vertreibung der Deutschen als eine schwere Verletzung der Menschenrechte bezeichnete. In Deutschland wird die 2008 von CDU/CSU und SPD beschlossene Errichtung eines Zentrums der Vertreibung in Berlin weiter für Diskussionen sorgen, wenn es um die Ausgestaltung des Projektes geht.

Mathias Beer hat mit seiner Studie „Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen“ auf 160 Seiten eine gelungene Einführung vorgelegt, die einem breiten Publikum als hilfreiche Orientierung in der Thematik dienen kann. Die Geschichte der Zwangsumsiedlungen beginnt für Beer nicht erst gegen Kriegsende mit den Flüchtlingstrecks aus dem Osten. Zu den deutschen Vertriebenen zählt er unter anderem auch die „Volksdeutschen“ vom Schwarzen Meer bis nach Südtirol, die von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt wurden, ebenso wie die Millionen Zwangsarbeiter, die aus ihrer Heimat nach Deutschland verschleppt wurden.

Im größeren Kontext
In seiner Studie räumt Beer mit Legenden auf, die sich in der Öffentlichkeit hartnäckig gehalten haben: Das betrifft zum einen den Mythos von der schnellen Integration der Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland. Beer legt dar, dass die Vertriebenen Westdeutschland als eine „kalte Heimat“ erlebten, in der sie von den Einheimischen als Fremde behandelt wurden, die man möglichst schnell wieder loszuwerden trachtete. Gegenüber den vor allem von den Vertriebenenverbänden immer wieder propagierten überhöhten Opfer­zahlen – bis zu drei Millionen – hält Beer eine weitaus niedrigere Zahl für realistisch. Ihm zufolge liegt sie weit unter einer Million. Schließlich widerlegt Beer die in den letzten Jahren häufig geäußerte These, der zufolge das Thema Vertreibung ab den siebziger Jahren ein Tabu dargestellt habe.

Wichtig für die deutsch-tschechische Diskussion ist die Beers Arbeit zugrundeliegende Position, wonach die Vertreibung der Deutschen ihre Wurzel in einer vom Nationalismus des 19. Jahrhunderts geförderten Ideologie des ethnisch homogenen Nationalstaates hat. Nationale Minderheiten wurden als Auslöser innen- und außenpolitischer Konflikte gewertet. Danach lässt sich die Vertreibung der Deutschen nicht auf die Ini­tiative einzelner Staatsmänner reduzieren, wie etwa jene von Edvard Beneš, sondern sie wird von Beer in einen größeren Kontext gestellt. Die alliierten Kriegsgegner hätten laut Beer ihre Beschlüsse zur Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen in der Überzeugung gefasst, künftige Kriege durch Umsiedlung von nationalen Minderheiten zu verhindern.

Zum ersten Mal sei diese These 1923 im Vertrag von Lausanne zur Anwendung gekommen, als es um die Umsiedlung von 1,6 Millionen Türken und Griechen ging. Hitler habe dann damit seine Politik des Lebensraumes gerechtfertigt und die Sowjetunion ihre Expansion nach Westen ab 1945. Über die Zwangsumsiedlung der Deutschen waren sich Stalin und die westlichen Alliierten stets einig. Britische Wissenschaftler legten bereits 1940 ein Gutachten unter dem Titel „Transfer as Contribution to Peace“ vor, in dem sie sich für eine Aussiedlung von drei bis sieben Millionen Deutschen aussprachen.

Wandel des Diskurses
Zwar betont Beer wiederholt, dass auch die Rassenideologie, die in den Holocaust mündete, sowie die Vernichtungskriege in Osteuropa bei der betroffenen Bevölkerung die Forderung nach einer Vertreibung der Deutschen geschürt habe. Dennoch bleibt der Autor den Einsteigern in die Thematik anschauliche Belege für die begangenen Verbrechen schuldig. Ebenso versäumt es Beer, auf die Verflechtung der nationalen deutschen Minderheiten mit dem Naziregime etwa in der Tschechoslowakei hinzuweisen, die mit dazu führte, dass die Vertreibung der etwa drei Millionen Deutschen in der tschechischen Bevölkerung massive Unterstützung fand.

Gelungen ist Beer der Überblick über die Wandlungen, die der öffentliche Diskurs über die Vertreibung in der Geschichte der Bundesrepublik erfahren hat. Konrad Adenauer brandmarkte die Vertreibung in den Jahren des Kalten Krieges als ein Verbrechen der sowjetischen und osteuropäischen kommunistischen Regime. Die Ostpolitik der sozial­liberalen Regierung richtete dann den Fokus auf die Deutschen als Täter einer unmenschlichen Kriegsführung und Besatzungspolitik. Schließlich schuf das 2008 von CDU/CSU und SPD gemeinsam eingebrachte Gesetz zur Errichtung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einen zumindest parteipolitischen Konsens.

Der Leser erhält mit einer 13 Seiten umfassenden Bibliografie der wichtigsten Dokumente und Studien zur Vertreibung die Möglichkeit, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. Beck. München 2011, 205 Seiten, 12,95 Euro, ISBN 978-3-406-61406-4