„Vergleiche zwischen West und Ost sind unfair“

„Vergleiche zwischen West und Ost sind unfair“

Ab der neuen Spielzeit ist der Stuttgarter Andreas S. Weiser Chefdirigent an der Staatsoper Prag

14. 7. 2016 - Text: Milena FritzscheInterview: Milena Fritzsche; Foto: Tomáš Brabec

Sein Weg führte Andreas S. Weiser schon oft nach Tschechien. Seit vielen Jahren lebt der gebürtige Stuttgarter in Prag und spricht fließend Tschechisch. Nun übernimmt er die musikalische Leitung der Prager Staatsoper, die 1888 als „Neues Deutsches Theater“ eröffnet wurde. Im Interview mit PZ-Mitarbeiterin Milena Fritzsche spricht Weiser über seinen Werdegang, deutsche und tschechische Musik sowie über Herausforderungen im Orchestergraben.

Ende der achtziger Jahre waren Sie zum Meisterstudium in Prag. Wie kamen Sie als Westdeutscher in die Tschecho­slowakei?
Als ich noch in Stuttgart war, wirkte Václav Neumann dort an der Oper als Generalmusikdirektor. In jugendlichem Übermut fragte ich ihn, ob ich bei ihm studieren könnte. Leichtsinnigerweise sagte er zu. Und nachdem ich in Berlin fertig studiert hatte, kam ich auf sein Angebot zurück. Ich wollte mich nicht auf ein Jahr festlegen, aber das ließen die Systemunterschiede zwischen West- und Osteuropa nicht anders zu.

Wie war damals Ihr Eindruck von der Tschechoslowakei und Prag?
Rückblickend würde ich sagen, ich war ein bisschen naiv, was die politischen Fragen anging und versuchte, das auszublenden. Für mich war es eine geniale Chance, bei Neumann zu studieren und bei so einem fantastischen Orchester wie der Tschechischen Philharmonie zu hospitieren. Die Bedingungen waren andere als gewohnt und ich musste viele Kompromisse machen. Aber trotzdem war das eine Zeit vollkommen frei von Ablenkung. Ich habe das genossen und mich auf die Musik konzentriert.

Inwiefern hat Sie diese Erfahrung geprägt?
Das Leben war natürlich durch gewisse politische Einschränkungen beeinträchtigt. Unter denen mussten meine Freunde hier in Prag immer mehr leiden. Etwa die begrenzte Reisefreiheit. Das war keine schöne, aber eine bereichernde Erfahrung für mich vor dem Hintergrund, dass ich nach der Wende in der ehemaligen DDR war.

Die Jenaer Philharmonie wählte Sie als Chefdirigenten aus.
Das kommunistische System von innen erlebt zu haben, hat mir schon ein bisschen geholfen, die Menschen zu verstehen, die so etwas hinter sich hatten. Was die permanente Unfreiheit mit ihnen macht, kann man nur begreifen, wenn man es selbst erlebt hat.

Hat sich das auch bei den Musikern bemerkbar gemacht?
Der künstlerische Enthusiasmus ist überall groß. Allerdings gibt es auch rein technische Aspekte. Man konnte zum Beispiel im Osten nicht so gute Instrumente kaufen. Allein deshalb hatten die Orchester Nachteile. Außerdem gab es keine internationale Konkurrenz. Das war gemütlich, aber nicht unbedingt zielführend, was Wachstums- oder Reifungsprozesse betrifft. Solange sich das Budget der Theater und Orchester so unterscheidet, ist der Vergleich zwischen West und Ost unfair.

Der Unterschied ist also immer noch deutlich zu spüren?
Allein schon, wenn man die Einkommenssituation der Orchestermusiker in Tschechien und in Deutschland vergleicht. Das ist unglaublich.
Bei der Tschechischen Philharmonie setzte Chefdirigent Jiří Bělohlávek Gehaltserhö­­h­u­n­gen durch.
Ja, aber nur für sein Orchester. Die Musiker verdienen jetzt so viel, dass sie davon leben können. Das kann man von keinem anderen Orchester in Tschechien sagen – wirklich, ohne Ausnahme.

Alle anderen Musiker müssen dazuverdienen?
Ja, selbst die anderen Prager Orchester. Wenn man die Gehälter umrechnet, bleibt man im dreistelligen Eurobereich – brutto wohlgemerkt. Konzertmeister verdienen mehr, aber 2.000 Euro bekommt hier keiner.

Dann ist es auch ungleich schwe­rer, internationale Musiker anzulocken?
Natürlich zahlt die Tschechische Philharmonie nicht wie Wien oder Berlin, aber doch inzwischen schon so, dass zunehmend auch ausländische Teilnehmer zu Probespielen kommen. Ich weiß zwar nicht, wie die das machen, denn geprobt wird natürlich auf Tschechisch, also müssen sie die Sprache lernen. Aber das entwickelt sich allmählich.

Die Proben mit dem Orchester der Staatsoper beginnen im September, aber Sie haben bereits als Gastdirigent mit ihm zusammen­gearbeitet. Haben Sie schon ein Gefühl für das Orchester?
Ich besuche häufig Vorstellungen, um die Musiker besser kennenzulernen. Das Orchester hat sich in den vergangenen Jahren enorm entwickelt. Klar gibt es überall noch Potenzial und Möglichkeiten, etwas zu verbessern und zu verfeinern. Zusätzlich haben wir jetzt aber auch das Problem mit der Rekonstruktion.

Ausweichorte sind zwei Spielstätten, das Nationaltheater und das Musiktheater Karlín.
Wir werden uns an die akustischen Möglichkeiten der Säle anpassen müssen. Ich denke, das Nationaltheater wird nicht extrem anders sein als die Staatsoper, aber auch da muss man erst einmal ein Gespür bekommen.

Als erstes Projekt steht für Sie Puccinis „Tosca“ an. Im Januar 2017 dirigieren Sie die Premiere der neuen Inszenierung. Was ist an der Oper aktuell?
Über „Tosca“ gibt es sehr unterschiedliche Meinungen in der Musikgeschichte, manche sehen die Oper sehr abfällig, irgendwie reißerisch. Bei Puccini verfallen die weiblichen Hauptrollen meistens einer starken Liebe, die sie aber nicht realisieren können und daran zu Grunde gehen. Man hat Puccini vorgeworfen, nicht mit seinen Figuren mitzuleiden. Manche Kritiker sagen, das ist publikumswirksam, Sex and Crime in gewisser Weise. Man wird Puccini aber nicht gerecht, wenn man den Blick darauf reduziert. Das Wichtigste ist und bleibt selbstverständlich seine Musik.
Es gibt auch schöne poetische Momente.
Wenn Sie in „Tosca“ an den Anfang des dritten Akts denken: Die Morgenstimmung, die schönen Kirchenglocken, als drohte keine Hinrichtung. Auch die Kombination aus Bühnen­musik und dem Geschehen vorne auf der Bühne im zweiten Akt – das sind sehr theaterwirksame Geschichten. Es ist nicht nur die oberflächliche Gewalt, die Nähe zu Fernseh­serien suggeriert, sondern die Mischung aus allem, die Puccini auch heute noch so interessant macht.

Die derzeitige Inszenierung von „Tosca“ an der Staatsoper wird seit 1999 gespielt. Ein Stück neu einzustudieren, das das Orchester bereits so gut kennt, ist sicher nicht ganz einfach. Wie kann man die Routine der Musiker durchbrechen?
Ich habe neulich eine Tosca-Aufführung gesehen, eine sehr gute Vorstellung. Es wird mehr darum gehen, auf dem Vorhandenen aufzubauen, als einen völlig neuen Ansatz zu entwickeln. Ich denke da an bestimmte Eigenschaften Puccinis als Komponist, wie er mit Klangfarben arbeitet und Übergänge kunstvoll gestaltet. Vielleicht gibt es da noch Möglichkeiten, zum Beispiel den Kontrast zwischen den poetischen Momenten und der Brutalität stärker herauszuarbeiten.

Haben Sie als Dirigent Einfluss auf die Programmplanung?
Es gibt schon einen Entwurf, der weit in die Zukunft reicht. Ich persönlich denke, es wäre gut, an unsere Tradition als das ehemalige deutsche Theater anzuknüpfen und uns ein bisschen mehr als bisher um das deutsche Repertoire zu kümmern. Außerdem würde dazu auch die zeitgenössische Oper gehören. Das sind Standards für mitteleuropäische Opernhäuser und ich fände es schön, wenn wir uns hier etwas breiter aufstellen könnten.

Keine einfache Position, wenn man selbst aus Deutschland kommt.
Für mich spielt das keine Rolle und ich habe auch hier in meinem Umfeld bei den Kollegen nicht festgestellt, dass das heute noch relevant ist. Es war auch bei den Gesprächen zu meiner Berufung kein Thema.

Was fasziniert Sie an tschechischer Musik?
Die Zeit bei Václav Neumann war für mich prägend, als wir sehr intensiv tschechische Musik gespielt haben, auch tschechische Opern. Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů sind natürlich ganz große Vertreter nicht nur tschechischer Musik. Besonders bereichernd bei Neumann war für mich die intensive Beschäftigung mit Gustav Mahler. Ich glaube, auch die Sprache spielt eine Rolle. Wenn Sie in einer Sprache denken, die wie das Tschechische immer alles auf der ersten Silbe betont, prägt das Ihr rhythmisches Empfinden auf eine ganz andere Art, als wenn Sie eine variable Betonung haben, wie zum Beispiel die Deutschen. Und die böhmische Melodik ist einfach fantastisch. Die Komponisten haben nie die Bodenhaftung verloren und den Spagat zwischen ernster und Unterhaltungs­musik geschafft. Besonders ist auch, was Brahms schon bewunderte: Die Basslinien bei Dvořák sind völlig freie Melodien, aber sie erfüllen die Funktion eines Basses, was die Harmonie betrifft. Da ist Dvořák bis heute unübertroffen.

Gibt es Ihrer Meinung nach tschechische Komponisten, die in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdienten?
Josef Bohuslav Foerster ist sehr interessant. Er wird so langsam in Deutschland, aber auch hier in Tschechien mehr wahr­genommen. Er hat auch ein fantastisches Buch geschrieben: „Der Pilger“. Teils als Autobiographie beschreibt er, welche Musiker er getroffen, welche Werke und Uraufführungen er gehört hat. Das wäre vielleicht einer, den man auch in Deutschland noch entdecken könnte.

Zurück zur Oper. Wie unterscheiden sich die Anforderungen an den Dirigenten in einem Konzert von denen im Orchester­graben?
Ein Symphoniekonzert geht maximal zwei Stunden, bei einer Oper müssen Sie von drei und mehr Stunden ausgehen. Da muss man mit seinen Kräften anders haushalten. Natürlich ist es technisch die größere Herausforderung, man muss auch anders proben, man kann sich nicht um alle Details kümmern, vieles müssen die Musiker selbst beisteuern. Der Dirigent muss zwischen dem Sänger, der sozusagen hinten beim Pförtner steht, und dem Orchester, das vor ihm sitzt, koordinieren, damit es im Publikum gleichzeitig erklingt. Das Ziel ist sicherlich, sich durch diesen Technik-Dschungel durchzuarbeiten und zurück zur Musik zu gelangen. Die allgemeine Herausforderung, als Operndirigent einfach nur zu organisieren und zu verhindern, dass Pannen passieren, sollte als Anspruch nicht ausreichen.


Zur Person
Andreas Sebastian Weiser (* 1963) studierte an der Universität der Künste in Berlin, absolvierte 1987/1988 ein Meisterstudium bei Václav Neumann an der Tschechischen Philharmonie und wirkte anschließend als Zweiter Dirigent beim Rundfunk­orchester in Prag. Von 1990 bis 1998 war er Generalmusikdirektor der Jenaer Philharmonie. Danach kehrte er nach Tschechien zurück. Zuletzt leitete er seit 2012 die Philharmonie in Hradec Králové. Als neuer Chefdirigent der Staatsoper Prag übernimmt Weiser ab September die „Rigoletto“-Inszenierung und führt im Januar 2017 die Premiere von „Tosca“ auf. Aufgrund der Rekonstruktion der Staatsoper sind die Spielstätten zunächst das Nationaltheater und das Musiktheater in Karlín. Zudem dirigiert Weiser im Ständetheater das Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ des zeitgenössischen Komponisten Zbyněk Matějů.   (mf)