„Uns fehlt die Erfahrung von 600 Länderspielen“

„Uns fehlt die Erfahrung von 600 Länderspielen“

Nationalelf-Manager Oliver Bierhoff über die WM-Qualifikation gegen Tschechien und sein „Golden Goal“ vor 20 Jahren

5. 10. 2016 - Text: Klaus HanischInterview: Klaus Hanisch; Foto: ČTK/Michal Doležal

Die Tschechen sind nicht gut auf ihn zu sprechen. Ihr EM-Torhüter von 1996, Petr Kouba, würde ihn wohl kaum treffen wollen, glaubt Oliver Bierhoff heute, und Tschechiens Legende Pavel Nedvěd bezeichne ihn gar als „schwarze Bestie“. Dies gab der Manager der deutschen Nationalelf in einem Interview zum Jubiläum seines „Golden Goals“ im Sommer zum Besten. 20 Jahre nach jenem denkwürdigen EM-Finale in London, das Einwechselspieler Bierhoff mit zwei Treffern zugunsten Deutschlands gegen Tschechien entschied, stehen sich beide Teams am Samstag in der Qualifikation für die WM 2018 wieder gegenüber. In einem Exklusiv-Interview mit der „Prager Zeitung“ sieht Oliver Bierhoff darin mehr als nur eine „Pflichtaufgabe“ für den Weltmeister und Gastgeber.

Der Weltmeister startete standesgemäß mit einem 3:0-Sieg in Norwegen, Tschechien spielte zuhause gegen Nordirland nur 0:0 und befindet sich zudem im Neuaufbau. Das Heimspiel gegen die Tschechen klingt nach einer reinen Pflichtaufgabe.
Die Tschechische Republik gehört zu den großen europäischen Fußballnationen. Unsere Spiele gegeneinander waren immer packend und ich bin mir sicher, diesmal wird es nicht anders werden. In der Weltrangliste liegt die Mannschaft von Karel Jarolím vor Schweden und Russland. Klar ist auch, dass etwa der zurückgetretene Petr Čech eine tragende Säule der Mannschaft war und die Verletzung von Vladi­mír Darida definitiv auch eine Schwächung darstellt. Unser Qualifikationsspiel in Hamburg vor hoffentlich großer Kulisse jedenfalls betrachten wir keinesfalls als Pflichtaufgabe. Ich persönlich freue mich auf ein technisch anspruchsvolles und unterhaltsames Spiel.

Bundestrainer Löw ließ nach dem Norwegen-Spiel keinen Zweifel daran, dass Tschechien, Nordirland und Norwegen nur um den zweiten Platz hinter Deutschland spielen werden. Sehen Sie das genauso und ist nach dem EM-Aus im Halbfinale gegen Frankreich neues Selbstbewusstsein eingekehrt?
Zwei Jahre sind jetzt seit dem WM-Titelgewinn vergangen. Seitdem haben unser damaliger Kapitän Philipp Lahm, der deutsche Rekordtorschütze Miroslav Klose, Per Mertesacker sowie zuletzt Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski ihre Karrieren in der Nationalmannschaft beendet. Grob gerechnet haben wir also 600 Länderspiele Erfahrung verloren. In Oslo hat unsere Mannschaft eine starke Leistung gezeigt, das hat mir gut gefallen. Und auch die Silber­medaille bei den Olympischen Spielen in Rio zeigt ja, dass Talente nachwachsen.

Nach dem Norwegen-Spiel kritisierten Sie, dass Deutschland in den letzten Jahren „zu systemverliebt“ spielte. Was muss sich ändern?
Wir müssen mehr Eins-zu-Eins-Duelle suchen und zielstrebiger vor dem Tor werden. Diese Forderung stimmt ja auch immer wieder Hansi Flick an, der 2014 noch Jogi Löws Assistent war und danach die Aufgaben als DFB-Sportdirektor übernahm.

Sie sagten, es müssten wieder mehr Tore erzielt werden, wofür man ausgebildete Stürmer brauche. Wie sehr schmerzt den ehemaligen Torjäger Bierhoff das deutsche Stürmer­problem?
Wir haben Thomas Müller in der Mannschaft, Mario Götze und Mario Gómez, auch starke Flügelstürmer wie etwa André Schürrle oder Julian Draxler. Es ist aber auch so, dass wir etwa beim EM-Habfinale in Marseille unsere Feldüberlegenheit nicht in Torgelegenheiten übersetzen konnten.

Exakt 20 Jahre nach dem EM-Finale sagten Sie, „Dankbarkeit“ über diesen Titel zu empfinden. Bezog sich das allein auf Ihren folgenden sportlichen Aufstieg oder veränderte sich Ihr Leben auch persönlich?
Wenn Sie heute einen Fußballfan nach dem EM-Finale von 1996 fragen, wird der wahrscheinlich direkt an mein „Golden Goal“ denken. Es ist doch etwas Wunderschönes, dass sich so viele Menschen über Jahrzehnte an einen Moment der eigenen Karriere erinnern. Dass man mit einer sportlichen Leistung etwas Bleibendes geleistet hat, und dass die Leute sich bis heute freuen, wenn sie sich an diesen Moment zurückerinnern. Ich weiß noch, wie überdreht ich damals auf dem Rasen war, völlig hyperemotional, ich konnte nichts mehr aufnehmen. Aus dieser Erfahrung nahm ich mir als Manager der Mannschaft bei der WM 2014 vor, all die emotionalen Eindrücke bei einem solchen Turnier bewusst aufzusaugen und für immer abzuspeichern. Und das ist mir auch ganz gut gelungen.

Sie spielten selbst dreimal gegen Tschechien, standen in diesen Spielen als Einwechselspieler insgesamt nur 68 Minuten auf dem Platz – und erzielten dennoch vier Tore. Lagen Ihnen Mentalität und Spielweise der Tschechen besonders?
Entscheidend ist, wie unseren Spielern die Mentalität und Spielweise der Tschechen liegen. Wir werden es am 8. Oktober in Hamburg herausfinden.

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