Tschechiens Ruhrgebiet im Strukturwandel

Tschechiens Ruhrgebiet im Strukturwandel

Mährisch-Schlesien will weg von Stahl und Kohle – Deutsche Unternehmen investieren rund um Ostrava

24. 10. 2012 - Text: Friedrich GoedekingText: Gerit Schulze; Foto: Brose

Die mährisch-schlesische Industrieregion hat sich für deutsche Unternehmen zu einem beliebten Investitionsstandort entwickelt. Das Gebiet durchläuft derzeit einen Strukturwandel, der mit dem des Ruhrgebiets vergleichbar ist. Dabei will Mährisch-Schlesien einen Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung legen. Einige Großprojekte bieten auch deutschen Firmen gute Geschäftsmöglichkeiten.

Mährisch-Schlesien ist eine Region der Superlative – im Positiven wie im Negativen. Neben Prag und dem Speckgürtel rund um die Hauptstadt hat sie die höchste Bevölkerungszahl aller Kreise im Land. Etwa ein Zehntel der tschechischen Wirtschaftsleistung wird hier im Grenzgebiet zu Polen und der Slowakei erbracht. Mährisch-Schlesien deckt fast den gesamten Roheisen-, Stahl- und Koksbedarf des Landes.

Doch die Industriestruktur hat ihre Schattenseiten. So gehört das Gebiet rund um Ostrava zu den Kreisen mit der größten Umweltbelastung. Der Gehalt an Schwefeldioxiden in der Luft ist mit 4,1 Tonnen je Quadratmeter (2010) mehr als doppelt so hoch wie im landesweiten Durchschnitt. Bei Kohlenstoffmonoxiden liegt die Konzentration laut Statistikbehörde sogar um das Vierfache über dem Durchschnitt. Enormen Nachholbedarf gibt es bei der Altlastensanierung, bei der Rekultivierung der Landschaft sowie bei der Reinigung des Grundwassers.

Diese Probleme bergen wiederum aber auch Geschäftschancen: Der Stahlbetrieb ArcelorMittal Ostrava etwa lässt seit Sommer 2012 neue Entschwefelungsanlagen für eine halbe Milliarde Kronen (etwa 20 Millionen Euro) installieren, saniert elektrische Abscheider und einen 120 Meter hohen Schornstein. Ostravas Industriegelände Dolní Vítkovice, das ähnlich wie das Ruhrgebiet von Hochöfen, Schachtanlagen, Kokereien und Förderbändern geprägt ist, durchlebt einen tiefgreifenden Strukturwandel. Kunst, Kultur und Kreativität sollen Stahl, Staub und Lärm verdrängen. Im riesigen Gasometer finden bereits heute Konzerte statt. Bis 2014 soll für 700 Millionen Kronen das weltweit zweitgrößte Technikmuseum entstehen. Geplant sind ein neuer Uni-Campus sowie Schaubergwerke.

Tatra sei Dank
Bei deutschen Investoren ist Mährisch-Schlesien wegen seines Arbeitskräfteangebots und seiner Industrietradition sehr beliebt. Nach Angaben der Gebietsverwaltung verfügen rund 50 Unternehmen aus Deutschland über eine Niederlassung in der Region. Ihr Spektrum ist breit und reicht von Automobilzulieferern über Maschinenbauer bis hin zu Herstellern von Medizintechnik, Elektronik, Baumaterialien, Kunststoffen und Logistik-Dienstleistern. Die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer (DTIHK) hat die wachsende Bedeutung des Standorts erkannt und 2011 ein Regionalbüro in Ostrava eröffnet.

Auf den Forschergeist in der Region setzt das süddeutsche Unternehmen bebro-electronic. In Horní Sucha bei Ostrava lassen die Schwaben seit fast zwei Jahrzehnten elektronische Bauteile, Platinen und Steuerelemente herstellen. Von 250 Mitarbeitern sind immerhin 17 in der Forschungsabteilung tätig. Sie haben zum Beispiel Bedienteile für Kopierer entwickelt. „Über 90 Prozent unserer Produktion geht in den Export“, sagt Geschäftsführer Ernst Käppeler. Die Fachkräfte für den Betrieb findet er im direkten Umkreis. „Studenten, die früher bei uns Praktika absolviert haben, sind heute Entwicklungsingenieure“, erklärt der Manager ein Rezept zur Sicherung des Nachwuchsbedarfs.

Die Gewinnung von Fachleuten bildet auch ein wichtiges Thema beim Automobilzulieferer Brose in Kopřivnice, rund 40 Kilometer südlich von Ostrava. Das Unternehmen produziert hier seit 2004 Sitz- und Schließsysteme, seit 2011 auch Antriebsysteme. Zu den Kunden gehören unter anderem Audi, BMW, Porsche und Daimler. Mit über 80.000 Quadratmeter Fabrikfläche ist das Werk der größte von 40 Brose-Standorten weltweit. Die rund 2.400 Mitarbeiter erwirtschaften 2012 einen Umsatz von 500 Millionen Euro. „Wir spüren von der Krise in der Fahrzeugindustrie noch nichts“, erklärt Geschäftsführer Michael Daniel. Die Auslastung sei unverändert gut.

„Brose investiert auch 2013 und 2014 weiter in die Entwicklung des Standortes. Ein großes Vorhaben ist zurzeit der Aufbau eines automatischen Kleinteilelagers in Verbindung mit einem Hochregallager“, so Werkleiter Michael Daniel. „Die Investition wurde nötig, da die Logistikfläche im Werk nicht mehr ausreichte. Und externe Flächen waren nur in weitem Umkreis von 50 Kilometern zu mieten.“ Jährlich verlassen 16.000 Lkw das Werk.
Das Coburger Unternehmen Brose hatte sich vor etwa einem Jahrzehnt bewusst den Standort Kopřivnice ausgesucht. Denn hier hat der Lkw-Hersteller Tatra seinen Sitz, der nach dem Sprung in die Marktwirtschaft seine Mitarbeiterzahl von 18.000 auf 1.100 reduzieren musste. Dadurch standen ausreichend gute Arbeitskräfte zur Verfügung. Mit attraktiven Sozialpaketen und seinem guten Namen hat Brose nach eigenen Angaben keine Probleme, gute qualifizierte Mitarbeiter in der Region zu finden.

Neue Logistik-Projekte
Doch Mährisch-Schlesien ist nicht nur als Investitionsstandort interessant für deutsche Unternehmen. Es laufen auch eine Reihe großer Vorhaben, die gute Geschäftsmöglichkeiten eröffnen. So saniert der Baukonzern Metrostav seit Herbst 2012 das Stadion Vítkovice. Dafür werden neue Tribünen mit überdachten Sitzplätzen errichtet. Die Arbeiten sollen bis Mitte 2014 abgeschlossen sein.

Außerdem entstehen eine Reihe von Forschungszentren. Dazu gehört das Exzellenzzentrum IT4Innovations zur Entwicklung von Informationstechnologien (Investitionen 1,83 Milliarden Kronen bis 2015). Unter Federführung der TU Ostrava wird ein Zentrum zur Entwicklung neuer Materialien aufgebaut (RMTVC, 680 Millionen Kronen bis 2013). Der Schwerpunkt liegt jedoch auf Innovationen für den Energiesektor. So ist ein Zentrum für moderne Heiztechnik und Kraft-Wärme-Kopplung geplant (INEF, 171 Millionen Kronen bis 2013), ein Institut für die saubere Nutzung von Energieträgern (ITT, 339 Millionen Kronen bis 2013), ein Institut für Umwelttechnologien (IET, 257 Millionen Kronen bis 2013) sowie ein Zentrum zur Weiterentwicklung unkonventioneller Energiequellen (ENET, 385 Millionen Kronen bis 2014).

Zudem profitiert Ostrava stark von einer regionalen Verschiebung neuer Logistik-Projekte in den Osten des Landes. Da sich im Umfeld der Stahlindustrie viele Kfz-Zulieferer angesiedelt haben, steigt der Bedarf an Lager- und Transportdiensten. Eines der größten Vorhaben ist ein multimodaler Terminal am Flughafen Ostrava-Mošnov, den Projektentwickler HB Reavis Group bis 2018 realisieren will. Das Logistikzentrum soll neben Straßen- und Schienenanbindung direkten Zugang zum Luftfracht-Terminal haben.

Bereits im vorigen Jahr hatte die AWT-Gruppe ihren multimodalen Terminal in Paskov bei Ostrava erheblich modernisiert. 2012 sollen dort 60.000 Container zwischen Schiene und Lkw verladen werden. In Paskov kommen Züge von den Häfen Rotterdam, Hamburg oder Koper (Slowenien) an. Ostrava ist auch Knotenpunkt für eine tägliche kombinierte Lkw-Zug-Lkw-Verbindung vom Duisburger Hafen.