Stimme des Volkes
Ukraine

Stimme des Volkes

Der Schriftsteller Serhij Zhadan tut alles, um die Moral in seiner Heimat zu stärken

13. 3. 2022 - Text: Klaus Hanisch

Wir haben in den letzten Tagen versucht, Serhij Zhadan zu erreichen. Der 47-Jährige ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller in der Ukraine. Und ihn verbindet einiges mit Tschechien: Besuche, Bücher, Lesungen. Kennengelernt haben wir ihn während der Leipziger Buchmesse vor genau zehn Jahren. Am Rande einer Diskussionsrunde stellte er sich zu uns und beantwortete zwischen zwei Terminen unkompliziert unsere Fragen.

Der Ukrainer hat Germanistik studiert, sein Deutsch ist sehr gut. Im Jahr 2012 drehte sich unser Gespräch um die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft in seiner Heimat und in Polen. Serhij Zhadan ist bekennender Fan dieses Sports. „Fußball ist immer Drama oder Komödie“, lächelte er. Damals beinahe vergleichbar mit der politischen Lage in seinem Land. Zhadan vermutete, dass sich die Ergebnisse der ukrainischen Elf sogar auf die bevorstehenden Wahlen niederschlagen würden. „Spielt die Mannschaft schlecht, dann wird es auch eine schwache Wahlbeteiligung geben“, merkte er an. Das Interview erschien am 3. Mai 2012 in der „Prager Zeitung“ im Sportteil auf Seite 16.

Nun wollten wir Zhadan Fragen zum Krieg in seiner Heimat stellen, wollten von ihm erfahren, wie es um seine Landsleute und deren Leid und Solidarität steht. Wir wollten von ihm wissen, wie es ihm geht, wie er aktuell den Krieg erlebt. Und ob er noch in Charkiw lebt, jener Stadt, die gleich nach Beginn der Invasion ins Feuer russischer Truppen geriet.

Lyriker Serhij Zhadan (2018) | © Amrei Marie, CC BY-SA 4.0

Der Suhrkamp-Verlag in Berlin, der alle Rechte an Zhadans Büchern und sogar weltweit hält, vermittelte. Eine Mitarbeiterin leitete unsere Anfrage am 7. März an Serhij Zhadan weiter. Eine Antwort blieb bisher aus. Zhadan wurde in der Ost-Ukraine geboren, in dem Gebiet um Luhansk, das bereits seit acht Jahren von Machthabern und Truppen besetzt ist, die offen mit der russischen Führung kooperieren. Sie hätten die russische Armee nun auch um Hilfe gebeten, gab Präsident Putin im Kreml scheinheilig vor.

Über die Situation dort hat Serhij Zhadan bei Suhrkamp mehrere Bücher veröffentlicht. So „Warum ich nicht im Netz bin“, Gedichte und Prosa aus dem Krieg. Seit Sommer 2014 notierte er seine Erlebnisse und Erfahrungen im ostukrainischen Kriegsgebiet. Sehr eindringlich rückte er den Krieg im Donbass in seinem Roman „Internat“ ins Bewusstsein, der 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.

Viele osteuropäische Staaten, so auch Tschechien, fordern nun eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz lehnt dies ab, weil es dafür klare Kriterien und Anforderungen gebe, die das Land nicht erfülle. Ebenso der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der seine Ablehnung kürzlich in einem TV-Interview damit begründete, dass die Ukraine vor dem Krieg durch Korruption geprägt gewesen sei und stark von Oligarchen beherrscht werde. Andere Politiker im Westen wiesen auf fehlende Marktwirtschaft und mangelnde Rechtssicherheit hin.

Auf der Titelseite jener PZ-Ausgabe im Mai 2012, in der unser Interview mit Zhadan erschien, ging es zufälligerweise auch um die Ukraine. Genauer um das Vorgehen der Behörden gegen die inhaftierte frühere Ministerpräsidentin Julija Timoschenko, das in Tschechien auf scharfe Kritik stieß. Der damalige Außenminister Karel Schwarzenberg riet der ukrainischen Führung, den schlechten Gesundheitszustand der Politikerin ernst zu nehmen. Ansonsten sei die „Position des Landes in Europa stark gefährdet“, sagte Schwarzenberg.

Julija Tymoschenko (2009) | © European People’s Party, CC BY 2.0

Nicht lange nach unserem Gespräch im Jahr 2012 sendete das deutsche Fernsehen ein Porträt über die Ukraine. Befragt wurde auch Serhij Zhadan. Er machte in dem TV-Bericht einen großen Bogen um die damals bekannten Politiker, hielt Distanz zur politischen Führung seines Landes. Auf die Frage nach mehr Freiheiten durch die EM, auch für Kunst und Literatur, antwortete uns Zhandan: „Seit fünf Jahren sagt uns die Propaganda in der Ukraine, dass sich das Land durch die EM verändern wird. Aber das sind leere Phrasen.“

Damals regierte noch der Moskau-treue Viktor Janukowytsch, der später vertrieben wurde und in Russland Exil fand. Nun ist Wolodymyr Selenskyj der Präsident des Landes. Interessant zu erfahren, ob Zhadan dessen Politik in den letzten Jahren nun den Rücken stärken und selbst den Westen zu einem raschen EU-Beitritt seines Landes drängen würde. Doch Zhadan steht derzeit keinem Medium mehr zur Verfügung. Seit einer Woche veröffentlicht er nur noch Nachrichten über Facebook. Dort hat er mehr als 134.000 Follower. Er wohnt tatsächlich weiterhin in Charkiw, fährt regelmäßig durch die Stadt. Auf Fotos dokumentiert er leere Straßen. In den letzten Wochen „hat sich die Stadt sehr verändert“, man spüre aber auch „die Kraft, die durch den Schmerz kommt.“ Am wichtigsten sei nun, „das Leben der Menschen zu retten, die hier leben.“ Er ist überzeugt davon, dass der angeborene Geschäftssinn und die Frivolität „auf die Straßen der Stadt zurückkehren“. Den Krieg nennt er „keinen Krieg zwischen Ländern – das ist Völkermord an den Ukrainern“.

Serhij Zhadan verteilt immer wieder Hilfsgüter in der Stadt. „Wir haben Ausrüstung für die Freiwilligeneinheit gekauft, mit der wir zusammenarbeiten. Vielen Dank an alle, die helfen. Wirklich eine spezifische und notwendige Hilfe, die an die richtige Adresse gelangt“, schreibt er. Außerdem wurden viele Medikamente für die beiden Krankenhäuser ausgeladen. Aus dem ganzen Land komme Hilfe. Zudem berichtete er von einem Mädchen eines getöteten Soldaten, das von der Beerdigung zurückkam, still und voller Sorgen um die Großeltern, für die es bat, Medizin zu bringen.

Auch ein politisches Statement hat er nun gepostet. „Ich war ziemlich skeptisch gegenüber der tatsächlichen Regierung“, bekennt Zhadan. Bei den Wahlen 2019 seien viele junge Menschen zu Regierungsämtern gekommen. „Ich dachte, diese jungen Leute würden sich wie alte Funktionäre verhalten.“ Obwohl er mit vielen von ihnen zuvor konstruktive nützliche Dinge getan habe. Doch deren Generation habe nun „dieses grausame Los der Verteidigung des Landes erlitten“. Wie Millionen von Kämpfern und Freiwilligen.

Die führenden Köpfe in Russland und Weißrussland sind für ihn wie ihre Panzertechnik: alt und unzulänglich, aus dem letzten Jahrhundert. Den USA und Deutschland wirft er vor, vorsichtig und ohne Mut wie Büroangestellte und Rentner zu sein. Nach dem 16. Kriegstag kommt er zur Einsicht, dass Geschichte der Seele Umrisse gebe, von denen man nicht einmal wusste, dass sie existieren. „Wir glauben an unser Land. Morgen werden wir unserem Sieg einen Tag näher aufwachen“, spricht er allen Zuversicht zu.

Wohnhaus in Flammen (Charkiw, 3. März) | © МVS UA, CC BY 4.0

Zhadan beklagt, dass den Russen über einen beliebten russischen Telegram-Kanal ein anderer Krieg vorgegaukelt werde. Gerade so, als ob die Ukraine selbst ihre Städte zerstören und die Welt bedrohen würde. „Sie haben eine völlig andere Realität und einen völlig anderen Krieg und nehmen Videoaufnahmen mit verbrannten russischen Panzern nur als Teil der Gegenpropaganda wahr.“ Die Russen müssten nun „sehr sehr lange mit unserem Fluch“ leben.

Er hat ein Foto von einem zerstörten Wohnhaus gemacht. Zuvor zeigte er bereits ein berühmtes Kulturhaus, das von einer Granate beschädigt wurde. „Sie haben unsere Kultur schon immer zerstört“, wütet er. Diesmal werde es ihnen jedoch nicht gelingen. Man werde das Haus wieder aufbauen. Auch an anderer Stelle versucht er, eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten. So habe er sich mit seinen Bandkollegen zu Proben getroffen. „Alles wird Rock’n Roll!“

Dann schrieb er, dass eine Einheit in Charkiw Unterstützung brauche – oder einen Bus. Es gab bereits Spekulationen, dass er in die Armee seines Landes eingetreten ist und an den Kämpfen teilnehmen könnte. Dies wies eine Sprecherin des Suhrkamp-Verlags gegenüber der „Prager Zeitung“ zurück. „Serhij Zhadan tut alles dafür, um die Moral in seiner Heimat zu stärken“, so die Mitarbeiterin von Suhrkamp. Die Nachfrage nach seinen Büchern ist riesig, derzeit sind fast alle Werke vergriffen und werden gerade neu aufgelegt. Nicht unwahrscheinlich, dass Serhij Zhadan auch ein Kriegstagebuch führt wie einst Egon Erwin Kisch. Nach Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlichte der Prager Autor seine Notizen unter dem Titel „Schreib das auf, Kisch!“