„Sprecht Tschechisch mit mir“

„Sprecht Tschechisch mit mir“

Bleiben oder gehen? Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied oft der Zufall, wer Deutscher war und wer Tscheche – so auch bei Karel Plechač

7. 5. 2015 - Text: Tomáš LindnerText: Tomáš Lindner; Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Karel Plechač gehört zu den Menschen, die sich ihre Träume erfüllen. „Vor ein paar Jahren bin ich hier vorbeigekommen, als ich langlaufen war. Ich habe mich umgesehen und zu meiner Frau gesagt, es wäre doch schön, hier zu wohnen. Sie war einverstanden“, erzählt der 81-jährige ehemalige Bergsteiger. Aus seinem Wohnzimmer blickt er auf die Felsen des Elbsandsteingebirges. „Wir haben unser altes Haus verkauft, dieses Grundstück hier erworben und begonnen zu bauen.“

Plechač betreibt auch mit über 80 Jahren noch Langlauf. In der Gemeinde Tisá (Tissa), die mit dem Auto etwa eine halbe Stunde von Ústí nad Labem (Aussig) entfernt ist, genießt er das Alter. Dabei hätte nicht viel gefehlt und er hätte sein Leben irgendwo in Bayern verbracht. „Wir hatten nur ein paar Minuten, um unsere Sachen zu packen, unser Haus in Trmice zu verlassen und uns dem ersten Transport von Deutschen anzuschließen“, erinnert er sich an den ersten Sommer nach dem Zweiten Weltkrieg. „Zum Glück haben unsere Nachbarn gleich meine Großmutter mütterlicherseits benachrichtigt, die kein einziges Wort Deutsch konnte. Sie kam zur Stelle, wo wir uns einfinden sollten, umarmte uns und sagte dem Offizier, dass ihre Enkel doch Tschechen seien.“

„Sprecht Tschechisch mit mir“, forderte der verantwortliche Offizier die Kinder danach auf. Als der elfjährige Karel und seine ältere Schwester Anna ihm fließend antworteten, ließ er die Familie nach Hause gehen. Sie kehrten in ihre Wohnung zurück, die von Mitgliedern der Nationalgarde gerade noch geplündert wurde.

Familien gehören zusammen

Nach Kriegsende wurden drei Millionen Deutsche vertrieben, die durch ein Dekret des damaligen Präsidenten Edvard Beneš ihre Bürgerrechte verloren hatten. Plötzlich waren sie Fremde in der eigenen Heimat, ihr Besitz fiel an den Staat. In den ersten Monaten kam es zu wilden Vertreibungen, bei denen mindestens 20.000 Menschen starben. Danach verließen die Sudetendeutschen in gründlich organisierten Transporten ihre Heimat.

Es war eine Zeit, in der die Politiker und die Öffentlichkeit das Land in zwei klare Lager einteilen wollten: in Deutsche und Tschechen. In diesen Kategorien denken wir heute noch immer über diese Zeit. „Aber Identität ist selten eindeutig, vor allem in Mitteleuropa. Und es gibt Phasen in der Geschichte, in denen Menschen in neue Kategorien eingeordnet werden“, sagt der Historiker Matěj Spurný, der über die Beziehungen der tschechischen Nachkriegsgesellschaft zu ihren Minderheiten ein Buch mit dem Titel „Nejsou jako my“ („Sie sind nicht wie wir“) geschrieben hat.

Zehntausende Familien ließen sich nicht so einfach in Schubladen stecken. Zu ihnen zählten auch Karel Plechač und seine Vorfahren. Seine Mutter bezeichnete sich bei Volkszählungen während der Ersten Tschechoslowakischen Republik als Tschechin. Sein Vater gab an, Deutscher zu sein. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber man kann davon ausgehen, dass wohl 100.000 bis 200.000 Menschen in solchen Familien lebten.

Auch andere Bevölkerungsgruppen ließen sich nicht klar zuordnen, zum Beispiel die etwa 1.000 Wiener Tschechen, die einige Generationen in Österreich gelebt hatten und zur Zeit der Ersten Republik nach Böhmen zurückgekehrt waren. Sie hatten tschechische Namen, aber sie sprachen eher Deutsch. Sollten sie abgeschoben werden oder nicht? Dem Gesetz zufolge nicht, aber weil sie von örtlichen Behörden oder von ihren neuen Nachbarn schikaniert wurden, gingen sie oft freiwillig wieder nach Österreich.

Und was sollte man mit den etwa 5.000 deutschsprachigen Juden machen? Sie kehrten aus Konzentrationslagern oder aus der Emigration zurück, aber in den Volkszählungen der Vorkriegszeit hatten sich viele von ihnen als Deutsche bezeichnet. In den ersten Monaten nach dem Krieg hatten sie rechtlich dieselbe Stellung wie alle anderen Deutschen. Später wurden sie zwar bis auf einige Ausnahmen nicht vertrieben. Doch in der angespannten nationalistischen Atmosphäre, in der sich zum Beispiel die Behörden weigerten, ihnen ihr im Krieg konfisziertes Vermögen zurückzugeben, weil sie sie als Deutsche betrachteten, suchten auch von ihnen viele freiwillig den Weg über die Grenze.

Die deutsch-tschechischen Familien dagegen blieben meist in der Tschechoslowakei. „Die Devise der Stunde war zwar, so viele Deutsche wie möglich loszuwerden, gleichzeitig wurde aber argumentiert, dass wir unsere Leute nicht verlieren dürfen. Weil Familien als Ganzes abgeschoben wurden oder nicht, blieb nichts anderes übrig, als gemischte Familien von der Regelung auszunehmen“, erklärt Spurný. In der Praxis herrschte jedoch das Chaos und im Zweifelsfall entschieden oft Bekanntschaften bei den Behörden oder Zufälle wie der rechtzeitige Eingriff der tschechischen Großmutter von Karel Plechač. Der andere Teil seiner Familie wurde damals vertrieben und lebt heute in Bayern.

Karl und Karel

„Zuhause haben wir beide Sprachen gesprochen, manchmal sind wir in einem Satz vom Deutschen ins Tschechische übergegangen und wieder zurück“, erinnert sich Plechač an seine Kindheit. Sein Vater gründete in den zwanziger Jahren im nordböhmischen Trmice (Türmitz) ein Geschäft für Konfektionskleidung und baute ein Mietshaus.

In dem heutigen Vorort von Ústí nad Labem bekannten sich zu dieser Zeit zwei Drittel der Einwohner zur deutschen und ein Drittel zur tschechischen Nationalität. Als junger Kaufmann ließ Plechačs Vater Schilder an seinem Geschäft anbringen, auf denen sein Name in beiden Sprachen zu lesen war. Oben stand „Karl“, direkt darunter „Karel“. In Trmice gab es eine tschechische und eine deutsche Schule. Familie Plechač schickte die erstgeborene Tochter Anna in die tschechische. Dann annektierten die Nationalsozialisten das Sudetenland. Das Familienleben fiel auseinander.

Der Vater war verpflichtet, dem Dritten Reich zu dienen. Zuerst wurde er als Hilfspolizist angeworben, später arbeitete er zum Beispiel in der Verwaltung im besetzten Lettland. Am Ende des Krieges kehrte er nach Trmice zurück und gleich im Mai 1945 kamen junge Gardisten in sein (später verstaatlichtes) Haus. Sie schlugen ihn zusammen und führten ihn ab. Die folgenden 17 Monate verbrachte er in einem Internierungslager. Er wurde schließlich freigelassen, weil viele tschechische Bekannte bereit waren, auszusagen und sein entgegenkommendes Verhalten während des Krieges zu bestätigen. In der Gefangenschaft hatte er 20 Kilo abgenommen.

„Ich kam dann in die tschechische Schule. Ich konnte sprechen, aber beim Schreiben habe ich viele Fehler gemacht“, erinnert sich sein heute 81-jähriger Sohn an die ersten Jahre nach dem Krieg. „Ich habe mich oft mit den Kindern neu angesiedelter Tschechen geprügelt. Sie haben nach dem Unterricht immer auf mich und andere Kinder aus deutsch-tschechischen Familien gewartet. Es hat etwa zwei Jahre gedauert, bis der Hass verschwunden war. Das Leben ging weiter.“

Karel Plechač durfte nicht studieren – der Grund dafür waren aber nicht seine deutschen Wurzeln, sondern die Vergangenheit des Vaters als Unternehmer. Er begann zu boxen, Radrennen zu fahren, in den Bergen zu klettern und später wurde er ein leidenschaftlicher Fotograf. Die Wände seines Hauses in Tisá sind voller Bilder aus dem Pamir und dem Himalaja. Seine Deutschkenntnisse haben ihm schließlich auch noch geholfen: Die Chefs einer Maschinenbaufirma aus Ústí nad Labem schickten ihn während des Kommunismus auf Messen in der ehemaligen DDR und anderen Ländern. Nach der Samtenen Revolution eröffnete er mit seiner Frau ein Sprach- und Übersetzungsbüro. Der erste Unterricht fand in dem restituierten Haus statt, das sein Vater in den glücklichen Jahren der Zwischenkriegszeit in Trmice gebaut hatte.

Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitschrift „Respekt“ Nr. 19/2015. Übersetzung: Corinna Anton