Sehnsuchtsziel Osten

Sehnsuchtsziel Osten

In seinem jüngsten Buch unternimmt Klaus Brill eine Entdeckungsreise durch das neue Mitteleuropa

4. 12. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking

Wer in Prag in den Zug nach Dresden steigt, erfährt über den Lautsprecher nicht nur in tschechischer, sondern auch in englischer und deutscher Sprache alle wichtigen Reiseinformationen. Ein Tscheche, der in Dresden den Zug in umgekehrter Richtung besteigt oder ein Pole, der vom Berliner Hauptbahnhof nach Warschau fahren will, bekommt die Ansagen dagegen nur in deutscher Sprache zu hören.

An diesem alltäglichen Beispiel will Klaus Brill in seinem Buch „Im Osten geht die Sonne auf“ seinen Lesern zeigen, dass sich die Deutschen immer noch schwertun, die Präsenz ihrer unmittelbaren östlichen Nachbarn wahrzunehmen. Er ist der Ansicht, dass den „Wessis“ die Länder jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs auch 25 Jahre nach der Wende immer noch fern und fremd erscheinen. Viele verbänden mit diesen Ländern nur Misswirtschaft und Korruption. Angeprangert würden die Politiker, die mit ihrem autoritären oder gar diktatorischen Auftreten den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates verhindern.

Brill stellt diese Defizite nicht in Frage, will aber seinen Lesern die Augen dafür öffnen, dass sich in den mitteleuropäischen Ländern auch ein Aufbruch zu neuen Ufern vollzogen hat und weiter vollzieht. Das Fundament dafür bildeten bereits die Aufstände in Polen, der DDR und in Ungarn sowie die sich  anschließenden erfolgreichen Freiheitsbewegungen in den ostmitteleuropäischen Staaten, vor allem durch die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die Dissidentenbewegung Charta 77 in der Tschechoslowakei und die Bürger­rechtsbewegung in der DDR. Ihre Initiatoren wie Václav Havel oder der Pole Tadeusz Mazo­wiecki gehören laut Brill zu den Architekten der europäischen Einigung, genauso wie Robert Schumann, Jean Monnet und Konrad Adenauer. Klaus Brill vertritt die These, dass das Jahr 1989 in der Geschichte der europäischen Demokratie in Europa in einem Atemzug mit der Französischen Revolution von 1789 genannt zu werden verdient.

Seine Sympathie für den politischen Aufbruch in diesen Ländern hindert Brill nicht daran, die dort herrschenden Missstände offen anzusprechen. Er verweist auf die Missachtung der Rechte homosexueller Menschen und widmet ein ganzes Kapitel der Situation der Roma. Scharf kritisiert er die Wortführer des nationalkatholischen Lagers in Polen, die von Václav Klaus im vergangenen Jahr verfügte Massenamnestie sowie das autoritäre Regime unter Viktor Orbán in Ungarn und in Rumänien unter dem Ministerpräsidenten Victor Ponta.

Große Lücken
Das längste Kapitel in Brills Buch trägt den Titel „Deutsche Kriegsverbrechen“. Der Autor stellt nicht in Abrede, dass die Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Staates, insbesondere des Holocausts zu einem festen Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur geworden ist. Doch die Vergangenheitsbewältigung weist seiner Meinung nach große Lücken auf, vor allem was die Leiden der nichtjüdischen Bevölkerung betrifft. Wer weiß beispielsweise, welchen Gedenktag die Polen am 1. August begehen? Ein Tag, an dem um 17 Uhr die Sirenen ertönen, der Verkehr plötzlich zum Stillstand kommt und die Menschen auf den Straßen andächtig stehenbleiben? Die Polen erinnern an diesem Tag an den Beginn des Warschauer Aufstandes vom 1. August 1944. Deutsche verwechseln diesen Aufstand oft mit dem Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto aus dem Jahr 1943.

Dass Willy Brandt 1970 am Denkmal des Ghetto-Aufstandes kniete, um damit ein unübersehbares Zeichen der Anerkennung deutscher Schuld zu setzen, was ihm viel Anerkennung aber auch wütende Proteste seitens der Vertriebenenverbände einbrachte, verwirrte die Polen. Irritiert fragten sie, ob sich der deutsche Bundeskanzler etwa nur zur deutschen Schuld an der Ermordung der drei Millionen polnischen Juden bekannte, nicht aber mit einer ähnlich spektakulären Geste der drei Millionen nichtjüdischen Menschen in Polen gedachte, die ebenfalls dem Terror der Nazis zum Opfer gefallen waren. Brill zitiert den amerikanischen Historiker Timothy Snyder: „Außerhalb Polens wird das Ausmaß des polnischen Leidens unterschätzt.“ Beispielsweise starben „ebenso viele Polen 1939 bei der Bombardierung Warschaus wie Deutsche bei der Bombardierung Dresdens 1945. Allein der Warschauer Aufstand forderte mehr polnische Opfer als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki japanische Opfer.“
Was die Staaten Mitteleuropas miteinander verbindet, ist das unsagbare Leid, das die Verbrechen der SS, der deutschen Polizei­einheiten und der Wehrmacht an Angehörigen aller Bevölkerungsgruppen dieser Länder verübt haben. Die Lektüre des Buches von Brill lohnt sich, weil sie auch dem vermeintlich Informierten aufzeigt, dass er oftmals das ganze Ausmaß der deutschen Mordbrennerei in diesen Ländern nur stückweise kennt.

Mit dem Eintritt in die EU ist Mitteleuropa in die Gemeinschaft jener Länder in Westeuropa zurückgekehrt, mit denen es früher Jahrhunderte lang politisch, wirtschaftlich und kulturell aufs Engste verbunden war. Wesentlich dazu beigetragen haben jene Deutsche, die seit dem späten Mittelalter in mitteleuropäische Regionen auswanderten und die in einer Art Konfliktgemeinschaft mit den dort Ansässigen eine multikulturelle Welt schufen. Diesem deutschen Kulturerbe in Mitteleuropa widmet Brill ein eigenes Kapitel.

Gleich zu Beginn seines Buches erinnert Brill in der Einleitung an jene Jahre, in denen für viele Deutsche die Toskana oder die Provence das Nonplusultra eines möglichen Urlaubsziels darstellten. Entsprechend hat er an den Anfang die etwas verwegene Vision gestellt, dass sich demnächst Genuss- und Bildungsreisende sowie Naturliebhaber aus dem Westen Europas aufmachen könnten, um in die tschechischen Beskiden oder an die Masurische Seenplatte zu fahren. Dass sie ihren Urlaub in den zu Hotels umgewandelten ehemals deutschen Herrensitzen in Schlesien verbringen, von den Naturschönheiten auf der Kurischen Nehrung schwärmen und die vielen restaurierten Städte   bewundern. Als Rezensent wage ich die folgende Prognose: Wer dieses ausgezeichnete Buch aufmerksam gelesen hat, könnte seine Urlaubspläne ändern und gen Osten fahren, dorthin wo die Sonne aufgeht.

Klaus Brill: Im Osten geht die Sonne auf. Süddeutscher Verlag, München 2014, 221 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-86497-194-5