Prag unterm Hakenkreuz

Prag unterm Hakenkreuz

Ein neuer Stadtführer beleuchtet Orte, die in der Zeit der deutschen Okkupation von 1939 bis 1945 Geschichte schrieben

11. 12. 2013 - Text: Josef Füllenbach, Titelbild: „Heydrich-Kurve“ im Prager Stadtteil Libeň

An Stadtführern ist Prag nicht gerade arm. In Buchhandlungen und Antiquariaten nehmen „Pragensia“ stets mehrere Regale in Anspruch. Und doch hat der Verlag „Academia“ im Herbst einen neuen Stadtführer herausgebracht, der gleich in mehrerer Hinsicht unter den bisherigen herausragt. Zunächst durch seinen Umfang (800 Seiten) und sein Gewicht (2,3 Kilogramm). Vor allem aber führt er durch das Prag unter der deutschen Okkupation vom März 1939 bis Mai 1945. Der von Jiří Padevět verfasste „Průvodce protektorátní Prahou. Místa, události, lidé“ („Führer durch Prag unter dem Protektorat. Orte, Ereignisse, Menschen“) hilft dem Leser und Spaziergänger, sich Prag und einem wichtigen, schmerzlichen Teil seiner Geschichte neu zu nähern. Inspiriert haben den Autor die vielen deutschen Stadtführer, die ebenfalls dabei helfen, in den jeweiligen Städten die von der nationalsozialistischen Herrschaft gezeichneten Orte aufzusuchen.

Die Menge an Informationen, die Padevět in dreieinhalb Jahren mühevoller Arbeit zusammengetragen hat, ist überwältigend. Bewundernswert die Fülle an Fotografien aus dem besetzten Prag, die das Interesse des Betrachters fesseln und zu einem Vergleich mit dem Prag von heute einladen. Padevět, Direktor des Verlags Academia, ist Geodät. Deshalb gilt sein Hauptinteresse den Orten, die während der Okkupation für den Widerstand, für die Verbrechen der Nazis, für die tschechische Regierung und schließlich für die Kollaboration von Bedeutung waren. Hinter die Topographie des Schreckens treten die Ereignisse und handelnden Menschen etwas zurück; von ihnen ist in dem Buch nur insoweit die Rede, als sie zum Verständnis der Bedeutung der einzelnen Orte notwendig sind.

Man könnte auch sagen: Padevět bietet uns keine zusammenhängenden Erzählungen. Das Buch gleicht daher eher einer Enzyklopädie ungezählter Örtlichkeiten (Straßen, Plätze, Häuser, Wohnungen). Zum Glück lassen sie sich über vier umfangreiche Register gut erschließen; zusätzlich hilft der Aufbau des Buches nach Stadtteilen, heutigen Straßennamen und Hausnummern bei der Orientierung. Es wäre vermessen, auf dieser Seite auch nur annähernd einen Überblick über den Inhalt des Werkes zu geben. Stattdessen sei auf wenige bedeutsame Gebäude hingewiesen, die in der Zeit des Protektorats berühmt-berüchtigt waren und deren Anblick den Zeitzeugen noch lange danach kalte Schauer über den Rücken gejagt haben muss.

Palais Czernin | © Stefan Ludwig Photography

Im Czernin-Palais (Černínský palác – Loretánské náměstí 101/5), einem der größten Barockbauten Prags und dem heutigen Hauptgebäude des tschechischen Außenministeriums, war in der Protektoratszeit das Amt des Reichsprotektors untergebracht. Von hier aus dirigierte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich als Stellvertretender Reichsprotektor von Ende September 1941 bis zu seinem Tod als Folge eines Attentats am 4. Juni 1942 kompromisslos die Verfolgung des tschechischen Widerstandes. Im Czernin-Palais mussten der tschechische Staatspräsident Emil Hácha und die Mitglieder der Regierung häufig auf Verlangen der Nazigrößen antreten, um Weisungen hinsichtlich der Führung der „Selbstverwaltung“ zu empfangen.

Oft aber kamen sie auch aus eigenem Antrieb, um sich für die Freilassung inhaftierter tschechischer Politiker und Bürger starkzumachen. So zum Beispiel intervenierte im Juli 1940 zunächst Regierungschef Alois Eliáš, einige Tage später Präsident Hácha zugunsten des Prager Primators Otakar Klapka; vergeblich. Am 10. Oktober 1941 fand unter Heydrichs Leitung eine Beratung zur Lösung der Judenfrage im Protektorat statt, an der auch Adolf Eichmann teilnahm. Unter anderem beschloss die Runde die Errichtung des Ghettos Theresienstadt.

Das Czernin-Palais war auch der Sitz der „Befehlsstelle Böhmen und Mähren der Reichsjugendführung“ unter der Leitung von Siegfried Zoglmann, ab 1942 freiwilliges Mitglied der Waffen-SS, zuletzt im Rang eines SS-Obersturmführers. Zoglmann gelangte später in der Bundesrepublik zu Ehren zunächst als FDP-Abgeordneter des Bundestages; aus Protest gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition gründete er 1970 die Nationalliberale Aktion und trat nach deren Scheitern der CSU bei. Vielen galt er als Beispiel für einen ungebrochenen Aufstieg vom Dritten Reich in die Politik der jungen Bundesrepublik.

Im Petschek-Palais (Petschkův palác – Politických věznů 916/16), zentral gelegen zwischen Wenzelsplatz und Hauptbahnhof, richtete die Gestapo zwei Monate nach der Besetzung Prags ihr Hauptquartier ein: die Staatspolizeileitstelle Prag, bis zum Morgen des 9. Mai 1945 ein Ort unbeschreiblichen Schreckens. Im Souterrain befanden sich elf Zellen, in denen die Verhöre stattfanden. Viele Gefangene erlagen in diesen Räumen den Folterungen, viele wurden nach den Verhören im Gestapo-Gefängnis Pankrác hingerichtet oder in KZs deportiert. Manche wählten den Freitod, aus Angst vor den Qualen und vor der Gefahr, einen Kameraden zu verraten.

Andere sahen keinen Ausweg und suchten mit dem Leben davonzukommen, indem sie sich als Spitzel missbrauchen ließen. Ferdinand Peroutka, Spitzenjournalist der Ersten Republik, geriet schon 1939 in die Fänge der Gestapo und wurde im Palais verhört. Trotz einer Odyssee durch verschiedene KZs überlebte er den Krieg, entschloss sich jedoch nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 zur Emigration. Insgesamt wurden in dieser Zentrale des Terrors etwa 36.000 Personen, im Durchschnitt also jeden Tag 16 Menschen, verhört. Die letzten Einträge in die Evidenzliste stammen vom 4. Mai 1945, einen Tag vor dem Ausbruch des Prager Aufstands.

Die Kirche St. Kyrill und Method (Kostel sv. Cyrila a Metoděje – Resslova 307/9) ist eines der wichtigsten Symbole des tschechischen Widerstands gegen die Naziherrschaft. Mit tätiger Hilfe der geistlichen Leiter der orthodoxen Kirche konnten sich nach dem Attentat auf Heydrich sieben in den Anschlag verwickelte Fallschirmspringer zwischen dem 27. Mai und 1. Juni 1942 nach und nach in der Krypta des Gotteshauses verstecken. Verhöre anderer Widerständler im Petschek-Palais führten am 17. Juni zum Verrat des Verstecks. Daraufhin umstellten SS-Einheiten am frühen Morgen des folgenden Tages die Kirche und begannen mit dem Angriff. Von den sieben versteckten Kämpfern überlebte keiner. Drei fielen im Schusswechsel, die anderen vier machten ihrem Leben selbst ein Ende, nachdem ihre Lage durch die Flutung der Krypta und Einleiten von Tränengas aussichtslos geworden war. Sieben Stunden brauchten die 17 Offiziere und 740 Mannschaften der SS sowie 40 Angehörige der Gestapo, um die Widerständler zu überwinden.

Das Gebäude der heutigen Juristischen Fakultät der Karls-Universität (Právnická fakulta Univerzity Karlovy – Náměstí Curieových 901/7) beherbergte bis zum November 1939 das Rektorat der Hochschule. Hier begannen am 28. Oktober 1939 die Studentenproteste gegen die Okkupation, in deren Verlauf der Student Jan Opletal von deutschen Polizisten schwer verletzt wurde, so dass er am 11. November starb. Weitere schwere Proteste und Unruhen führten am 17. November zur Erschießung von neun Studenten („Rädelsführer“), zur Internierung von über 1.200 Studenten in KZs und zur sofortigen Schließung aller Universitäten. Danach richtete die Besatzungsmacht in dem nun funktionslos gewordenen Gebäude die SS-Stadtkommandantur ein. Als deren Leiter fungierte zeitweise Karl von Treuenfeld, der am 18. Juni 1942 die Aktion in der Kirche St. Cyrill und Method befehligte.

Bisher hat sich noch kein deutscher Verleger gefunden, der aus dem eindrucksvollen Buch von Jiří Padevět eine deutsche Version „destillierte“ – das heißt einen im Umfang sehr viel ­schmaleren Band, den man auf Spaziergängen tatsächlich in der Tasche mitführen kann und der zugeschnitten ist auf das Interesse und die Vorkenntnisse deutscher Leser.

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