„Prag empfing uns als Verwandte“

„Prag empfing uns als Verwandte“

Die Schriftsteller-Familie Mann erhielt im Exil die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Eine Heimat fand sie in Prag aber nicht

21. 9. 2016 - Text: Milena FritzscheText: Milena Fritzsche; Fotos: APZ und Město Proseč

Der Brandbrief erreichte das Auswärtige Amt im Juni 1935. Der bekannte Schriftsteller Heinrich Mann wolle Staatsbürger der Tschechoslowakei werden, hieß es darin – das gelte es zu verhindern. Mann habe einen Antrag in Reichenberg gestellt. Doch die entscheidende Abstimmung im Stadtrat könne noch beeinflusst werden, versprach der Absender. Die Bevölkerung vor Ort stehe nämlich geschlossen hinter Konrad Henlein.

Verfasser des Briefes war der Anwalt Walter Hergl, der selbst der Sudetendeutschen Heimatfront angehörte. Aus Berlin verlangte er Unterlagen, vielleicht gebe es eine Sammlung von antideutschen Zitaten des Autors? Doch das war gar nicht mehr nötig: Als Heinrich Mann von den Querelen um seinen Antrag erfuhr und mit ungewöhnlichen Anfragen über Einkommens­bescheide und Taufnachweise behelligt wurde, notiert er: „Reichenberg ist für mich erledigt.“

Mann fand seinen Namen 1933 auf der „Ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs“, nachdem seine „hetzerischen Artikel“ im Berliner Innen­ministerium diskutiert worden waren. Sein jüngerer Bruder Thomas befolgte den eindringlichen Rat seiner Kinder Erika und Klaus und kehrte Deutschland noch im selben Jahr den Rücken. Dessen Ausbürgerung forderte Reinhard Heydrich 1936 in einem sechsseitigen Brief: „Die wahre Gesinnung dieses jüdischen Schriftstellers ist stets der Bolschewismus.“ Daraufhin verfasste Heinrich Mann eine „Begrüßung des Ausgebürgerten“ für seinen Bruder: „Nicht Hitler bürgert Thomas Mann aus, sondern Europa Herrn Hitler.“ In der gleichgeschalteten deutschen Presse war dagegen zu lesen: „Sie verloren die deutsche Staatsangehörigkeit, weil sie durch treuloses Verhalten die deutschen Belange geschädigt haben.“

Bereits 1933 hatte Thomas Mann verkündet, er sei „mit den Kulturüberlieferungen und der Sprache meines Landes viel zu eng verbunden, als dass nicht der Gedanke eines jahrelangen oder auch lebenslänglichen Exils eine sehr schwere, verhängnisvolle Bedeutung für mich haben müsste“. Sein Bruder schrieb dagegen später, er habe Deutschland nie vermisst. Freiwillig hatten sie das Land aber beide nicht verlassen. Während Heinrich in Nizza lebte, zog Thomas mit seiner Frau Katia nach Küsnacht in der Nähe von Zürich. Fern der Heimat, mit ungewisser Zukunft, mussten sie im Exil eine neue Rolle finden. Die Aufgabender emigrierten Schrift­steller sei es gewesen, „die Welt vor dem Dritten Reich zu warnen“, gleichzeitig aber mit dem „illegalen, heimlich opponierenden“ Deutschland in Kontakt zu bleiben, so Klaus Mann.

Klaus Mann 1944 in Italien

Geldsorgen und Albträume
Darüber hinaus galt es, „die große Tradition des deutschen Geistes und der deutschen Sprache, eine Tradition, für die es im Lande ihrer Herkunft keinen Platz mehr gab, in der Fremde lebendig zu erhalten“. In der Emigration publizierten sie weiterhin in deutscher Sprache und gründeten eigene Verlage. Klaus Mann verfasste etwa seinen Roman „Mephisto“ im Exil, sein Bruder Golo schrieb für die deutschsprachige Zeitschrift „Die Neue Weltbühne“ in Prag. Üppige Honorare gab es dafür nicht. Geldsorgen gehörten zum Alltag.

Thomas Mann plagten zudem zeitweise Depressionen. Den Verlust der Heimat verkraftete er nur schwer. Seinen Sohn Klaus suchten oft Albträume heim, er durchlebte Panik­attacken und träumte, von Nazis verfolgt zu werden. „Indessen verhielt es sich nicht etwa so, dass die Emigranten dauernd in Angst und Schrecken lebten“, stellt Klaus Mann klar. „Man ist nicht pausenlos in kämpferischer Laune, auch das Heimweh macht sich nur gelegentlich bemerkbar, und man bringt nicht den ganzen Tag damit zu, die Tyrannen zu hassen, kurz, man ist nicht immer Emigrant ‚im Hauptberuf‘.“

Existenziell war für die Mitglieder der Familie Mann ein anderes Problem: Nach der Ausbürgerung besaßen sie keine Pässe und galten als Staatenlose. Doch: „Ohne Pass kann der Mensch nicht leben.“ Nachdem der Onkel in Frankreich und der Vater in der Schweiz erfolglos die Staatsbürgerschaft beantragt hatten, führte es Klaus Mann auf die „Generosität“ von Edvard Beneš und Tomáš Garrigue Masaryk zurück, dass seine Familie schließlich in der Tschecho­slowakei aufgenommen wurde. Und das, obwohl keiner von ihnen dort wohnte.

Kontakte hatten die Manns schon vorher geknüpft. Heinrich traf zu Beginn des Jahres 1924 Masaryk, den er als „Freund“ bezeichnete. Im Präsidentenwagen, erinnerte sich der Schriftsteller später in einem Zeitungsbericht, sei er zum gemeinsamen Frühstück auf dem Landsitz Schloss Lány gefahren.

Doch nicht nur die großen Politiker hatten sich für die Familie eingesetzt. Rudolf Fleischmann, ein Textilfabrikant aus Proseč in Ostböhmen, hatte von der Ablehnung in Reichenberg erfahren. Er wollte helfen und war erfolgreich: Zwar gab es auch in Proseč Diskussionen, aber schließlich erhielt Ende des Jahres 1936 nicht nur Heinrich Mann die Gemeindezugehörigkeit, sondern auch sein Bruder und dessen Familie. Das war die Voraussetzung für die Staats­bürgerschaft. Seine Tochter Leo­nie schickte Heinrich die Übersetzung eines Artikels aus der tschechischen Zeitung „České slovo“: Die Tschechen seien sehr stolz auf ihren neuen Mitbürger, heißt es darin. Er gehöre zu den „besten und tapfersten Namen jenes Europa, welches seiner geschichtlichen Sendung treu blieb“. Thomas, Katia und Golo fuhren 1937 nach Proseč, um sich persönlich für die Aufnahme zu bedanken.

Im ostböhmischen Ort Proseč war die Familie willkommen, aber auch dort war sie nicht zuhause.

Ohne Sprachkenntnisse
Nötig war die Reise nicht, um Bürger der Tschechoslowakei zu werden. Heinrich Mann konnte in Frankreich bleiben, wo er ein neues Zuhause gefunden hatte. Im April 1937 teilte ihm der Konsul der Tschechoslowakei in Marseille mit, er wolle ihm die Staatsbürgerschaftsurkunde aushändigen, wofür er noch drei Fotografien benötige. Lediglich einen Eid musste Heinrich Mann ablegen: „Ich sprach die tschechischen Worte nach, falsch natürlich, denn ich kannte sie nicht.“ Doch auch ohne Sprachkenntnisse galt seine Verehrung von da an der Tschechoslowakei: „Hier ist ein Staat, der weit und breit allein gelassen in einer feindlichen Umgebung (…) dennoch nichts aufgegeben hat von seiner sittlichen Reife. (…) Wir – das ganze verfolgte Deutschland, das intellektuelle, das freiheitliche, waren in dem einzigen Lande nicht nur teilnahmslos geduldet: Prag empfing uns als Verwandte.“

Auch Klaus Mann schreibt rückblickend, er sei stolz darau­f, „ein Bürger dieser freien und tapferen Republik gewesen zu sein, sei es auch nur vorübergehend und mehr dem Namen nach.“ In ganz Europa seien es die Tschechen, „die damals am mutigsten und am klarsten eben die Ideale und Überlieferungen repräsentierten, die in Deutschland mit Füßen getreten wurden und die ‚der Westen‘ aus missverstandener Freiheitsliebe oder aus kurzsichtiger Angst vorm Kommunismus zu verraten im Begriffe stand“. Regelmäßig reiste er nach Prag, Brünn und Bratislava, um Vorträge zu halten. Allerdings auf Deutsch: „Das Tschechische habe ich, zu meiner Schande, nie erlernt.“ Die deutsche Sprache sei keineswegs verpönt gewesen. „Es bedurfte mehrerer Jahre brauner Okkupation, um das Idiom Goethes und Hölderlins verhasst zu machen.“ Bis zur Krise von 1938 gab es in der Tschechoslowakei „ein sehr angeregtes und fruchtbares deutsches Kulturleben, von der Regierung nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert“.

Gemeinsam mit seiner Schwester Erika reiste Klaus durchs Land, sie trafen Schriftstellerkollegen, wie etwa den ebenfalls emigrierten Oskar Maria Graf: „Nun ist Graf zufrieden“, schrieben die Geschwister in ihren gemeinsamen Reiseberichten. Er lebte in Brünn und versicherte ihnen, „dass Brünn – nach München, wo er früher gelebt hat – die schönste Stadt auf der Welt sei, weil es nirgendwo, außer eben in München, besseres Bier als in Brünn gebe“. In Prag besuchten sie den „großen Mann der modernen tschechischen Literatur“ Karel Čapek. Sein Stück „Die weiße Krankheit“ lasen sie als „Entlarvung der faschistischen Diktatur“. Den Autor bezeichneten sie als „einen Kämpfe­r von Qualität, der auf höchster Ebene und von dem Wachturm des Geistes aus Krieg zu führen verstand“.

Auch von Max Brod zeigte sich Klaus Mann begeistert: Dessen „kleine, agile Gestalt“ bleibe in seiner Erinnerung „ein Wahrzeichen des literarischen Prag dieser Epoche“. Klaus Mann resümierte, ohne den Beitrag „jüdischer Talente“ würde der deutsche Prager Kulturbetrieb seinen „sehr einmaligen, sehr attraktiven Charakter“ verlieren. Von den Tschechen allgemein schwärmte er: Sie seien „phantasievoll, mutig und liberal“ und darüber hinaus „Demokraten ihrer Natur und Tradition nach“.

Heinrich Mann hatte zudem noch persönliche Bande nach Prag. Seine erste Frau, die Schauspielerin Maria Kanová, genannt Mimi, lebte dort mit der gemeinsamen Tochter Leonie. Er war beunruhigt über ihre Lage und half finanziell aus. In ihrer kleinen Wohnung im Stadtteil Smíchov bekamen die Frauen im November 1936 Besuch von Golo Mann, der sich vier Wochen in Prag aufhielt. Er war der einzige in der Familie, der zumindest versuchte, die tschechische Sprache zu erlernen. An Heinrich schrieb er damals, dass jeden Tag einschneidende Dinge passieren könnten. Er glaube aber, es würde nur zu einem „faschistischen Klein- und Halbkrieg“ kommen. Auch Erika Mann besuchte die beiden Frauen kurze Zeit später und verfasste danach einen bitterbösen Brief an ihren „lieben und verehrten Ohm“. Sie empörte sich über die schlechte finanzielle Situation der beiden und verstand nicht, warum sie noch immer in Prag weilten. Die Lage spitzte sich zu. Im November 1938 berichtete Leonie, das Klima in Prag werde immer unerträglicher, sie fühle sich an München 1933 erinnert und würde gerne nach Frankreich oder Amerika gehen.

„Wir schaffen es“
Die Tschechoslowakei war aber nicht nur aufgrund der drohenden Besetzung lediglich Zwischenstation für viele Emigranten. Klaus Mann erklärte: „Kein europäisches Volk akzeptiert den Fremden.“ Man könne nicht Tscheche werden, ohne dort geboren zu sein. „Amerikaner aber kann man werden.“ Dennoch hegte er größte Bewunderung für die Tschechen, die bereit seien, „jedem deutschen Angriff aufs entschiedenste Widerstand zu leisten.“ 1937 wurde er für eine Stunde von Edvard Beneš auf der Prager Burg empfangen und war sofort beeindruckt: „Ein Staatsmann – und doch ein Mensch! Ein kluger Politiker – und doch frei von jedem Zynismus!“ Klaus Mann war erstaunt. Der Präsident schien voller Energie und Optimismus. Wie könne er trotz der politisch aussichtslosen Lage weiterhin so tapfer sein, fragte der Schriftsteller. Beneš antwortete nur: „Wenn ich schläfrig oder schlampig wäre, was würde aus meiner armen kleinen Tschechoslowakei?“ Er konnte nicht aufgeben. „Der Schluss, zu dem er kam, lautete kurz und bündig: ‚Wir schaffen es!‘“

Die Tschechoslowakei bestand nicht mehr, nachdem die Wehrmacht im März 1939 die „Rest-Tschechei“ besetzt hatte. Die Diplomaten aus Prag arbeiteten im Ausland trotzdem weiter, auch die Pässe blieben gültig. Doch mit der Ausnahme Heinrich Manns, der 1950 als tschecho­slowakischer Staatsbürger starb, emigrierte die Familie in die USA. Mimi und Leonie hatten den Zeitpunkt verpasst, Prag rechtzeitig zu verlassen. Nach dem Einmarsch der National­sozialisten wurden sie verhaftet. Mimi wurde 1941 nach Theresien­stadt deportiert. Dass beide Frauen den Krieg überlebt hatten, erfuhr die Familie später von Klaus Mann, der als Soldat der US-Armee in das befreite Prag zurückkehrte.