Mit Pauken und Trompeten

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Klaus erlässt umstrittene Amnestie – Senatoren planen Verfassungsbeschwerde

9. 1. 2013 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: čtk

Auch auf seine letzten Tage als Präsident gelingt es Václav Klaus, das Land in Aufruhr zu versetzen. Noch keinen Tag währte das neue Jahr, da sorgte das Staatsoberhaupt am Ende seiner Neujahrsansprache für reichlich Unmut. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Tschechischen Republik erließ Klaus eine umfangreiche Teilamnestie, die er lapidar im letzten Passus seiner Rede ankündigte: „Sehr geehrte Mitbürger, heute ist es genau 20 Jahre her, da die unabhängige Tschechische Republik auf der Weltkarte erschien. Erlauben Sie mir vor dem Ende meiner Rede anlässlich dieses Jubiläums eine Teilamnestie zu verkünden, die am 2. Januar in Kraft treten soll.“

Genaueres blieb vorerst unklar und war nur über die Internetseiten des Präsidialamtes zu erfahren. Die Amnestie aber war beschlossene Sache. Regelrecht im Alleingang wurde sie von Regierungschef Petr Nečas (ODS) abgesegnet. Eine Rücksprache mit dem Kabinett fand nicht statt – umso bestürzter sind die Regierungsparteien und natürlich die Opposition. Die Sozialdemokraten (ČSSD) kündigten bereits einen Misstrauensantrag an. Wie der ČSSD-Vorsitzende Bohuslav Sobotka am Donnerstag vor Journalisten bestätigte, lehne seine Partei die Amnestie grundsätzlich ab und plane daher erneut, mit einem Misstrauensvotum den Rücktritt der Regierung zu erzwingen. Auch Außenminister und TOP-09-Chef Karel Schwarzenberg, der die  Amnestie angesichts der überfüllten Gefängnisse zunächst als notwendige Maßnahme bezeichnete, zeigt inzwischen Unverständnis: „Das hätte nur leichte Fälle betreffen sollen. Also Fälle, die in den meisten europäischen Ländern überhaupt nicht mit Gefängnis bestraft werden. Es darf nicht sein, dass hier die größten Skandale der Republik amnestiert werden.“ Der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Jiří Dienstbier (ČSSD) zeigte sich ironisch und sprach von einem „stilvollen Abgang“ des Präsidenten, der seinen alten „Freunden aus der Wirtschaft“ die letzte Ehre erweise.

Im großen Stil
Die Koalitionsparteien TOP 09, LIDEM und sogar Nečas’ Bürgerdemokraten weigern sich, für die Folgen der Amnestie zur Verantwortung gezogen zu werden. Gerade das Ausmaß befeuert Bedenken. „Ich billige eine Amnestie, jedoch nicht mit einer solchen Reichweite“, so die ODS-Abgeordnete Ivana Weberová.

Schätzungen des Justizministeriums zufolge könnten rund 7.400, also knapp ein Drittel der derzeit etwa 23.000 Inhaftierten entlassen werden; bisher befinden sich bereits 6.000 Straftäter wieder auf freiem Fuß. Eine Herausforderung für Ämter und Polizei, die sich nun mit der Wiedereingliederung ehemaliger Insassen und potentiellen Rückfällen auseinandersetzen. Gegenüber der Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“ verteidigte Klaus die Amnestie als eine Geste, die Menschen, die in Konflikt mit dem Gesetz geraten, jedoch keine Wiederholungstäter sind, eine zweite Chance gebe.

Wie das Präsidialamt bekanntgab, bezieht sich die Amnestie vor allem auf Straftäter, die bis Ende 2012 zu maximal einem Jahr Haft verurteilt wurden. Außerdem werden ältere Häftlinge über 75 Jahren amnestiert, die eine Haftstrafe von höchstens zehn Jahren verbüßen, sowie Kriminelle über 70 Jahren, die zu maximal drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden. Ebenso aufgehoben werden Haftstrafen bis zu zwei Jahren, sofern diese nicht wegen Körperverletzung, Sexualdelikten oder Straftaten gegen Familien und Kinder verhängt wurden.

Insgesamt könnten mehr als 32.000 Personen von der präsidialen Verfügung profitieren. Neben den derzeit Inhaftierten werden auch Personen, die mit einer Bewährungsstrafe belegt wurden oder noch auf ihr Gerichtsurteil warten, zu den Begünstigten. Gerade letztere geben Anlass zu Unbehagen. Juristen befürchten, dass die Drahtzieher großer Finanzskandale zu den Nutznießern gehören.

Der inhaltliche Knackpunkt des Präsidenten letzten Streichs betrifft den zweiten Artikel der Amnestie. Hierin bescheinigt Klaus die Einstellung aller Strafverfahren, die seit über acht Jahren andauern und bisher zu noch keinem gültigen Urteil gekommen sind, sofern sie nicht mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren belegt wurden. Darunter fallen nicht nur zahlreiche Kleinkriminelle – die etwa wegen der Nichtzahlung von Alimenten verurteilt wurden – sondern auch zahlreiche suspekte Fälle um Korruption und Geldwäsche. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die somit praktizierte Verharmlosung von Wirtschaftskriminalität. Viele Fälle könnten der Justiz entrinnen, gerade weil die Ahndung derartiger Vergehen einen oftmals langwierigen und komplizierten Prozess darstellt. Zudem scheint die Verschleppung nicht selten ein probates Mittel der Verzögerungstaktik wohlhabender Angeklagter darzustellen.

Zu den prominenten Fällen zählt zum Beispiel der wegen Steuerhinterziehung und Aktienmanipulation zu drei Jahren Haft verurteilte Unternehmer Tomáš Pitr. Begünstigt werden dürften ebenso der wegen Kreditbetrugs zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilte František Chalovský, Vorsitzender des Böhmisch-Mährischen Fußballverbandes (ČMFS) sowie die Verantwortlichen im Fall „H-System“. Die so bezeichnete Baufirma hatte in den neunziger Jahren durch Betrug und Gläubigerschädigung mehr als 1.000 Personen um insgesamt etwa 980 Millionen Kronen (rund 35 Millionen Euro) gebracht.

Problematisch ist überdies, dass die Begnadigung viele Geschädigte um ihr Recht auf Schadenersatz bringt. Sind die Verdächtigen einmal amnestiert, verlieren die Kläger jeglichen Anspruch auf einen gerechten Prozess – für zahlreiche Juristen ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Rund zwanzig Senatoren haben bereits angekündigt, noch diese Woche eine Verfassungsklage gegen den zweiten Teil der Amnestie einreichen zu wollen.

Kritik von allen Seiten
In der Tat befindet sich die Erlassung der Amnestie auf rechtlich wackligem Boden. Wie Vladimíra Dvořáková, Leiterin des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Prager Wirtschaftshochschule (VŠE), erklärt, bedarf eine Amnestie laut Verfassung der Zustimmung des Kabinetts. Da Regierungschef Nečas die Amnestie jedoch gegenzeichnete, ohne sich zuvor mit diesem zu besprechen, kreist der Akt in der Nähe einer Verfassungswidrigkeit. „In einem Rechtsstaat hätte eine Amnestie mit solchem Ausmaß nicht beschlossen werden dürfen. Natürlich müssen die Mitglieder des Kabinetts nun reagieren, denn die Verfassung zeichnet sie verantwortlich für eine Tat, die sie nicht begangen haben.“

Finanzminister Miroslav Kalousek (TOP 09) forderte, das Amnestierecht ganz aus der Verfassung zu streichen. Mit ihrer heftigen Kritik an der Massenbegnadigung stehen Regierungsvertreter nicht allein da. Die Amnestie unterlaufe nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch das Rechtsempfinden der Gesellschaft, so die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs Iva Brožová.

Bei einer Umfrage des Tschechischen Fernsehens äußerten sich über 80 Prozent der Bürger gegen den Umfang der Amnestie. Mehr als 80.000 signierten die Internet-Petition „Nesouhlasíme s Klausovou amnestií“ („Wir stimmen der Amnestie von Klaus nicht zu“). In der südmährischen Region Zlín haben Leiter von Schulen und Gemeindeämtern ostentativ die Porträts des Staatsoberhauptes von den Wänden der Klassenzimmer genommen.

Die tatsächlichen Motive des Präsidenten liegen im Dunkeln. Warum Klaus gerade jetzt zum ersten und einzigen Mal von seinem Amnestierecht Gebrauch macht, bleibt schleierhaft. „Die Amnestie scheint genau so gestaltet zu sein, dass sie Leuten, die wegen Korruption und anderer Wirtschaftsverbrechen belangt werden, eine reine Weste verschafft. Einige Fälle stehen in direkter Verbindung zu Klaus. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Klaus ihnen aushilft, um sich für ein eventuelles Comeback in der Politik schon jetzt der finanziellen Unterstützung zu versichern“, mutmaßt Politologin Dvořáková.

Es häufen sich die Vorbehalte, dass es sich bei einigen der betreffenden Prozesse um Fälle von Wirtschaftskriminalität handelt, die sich in jenen Jahren unkontrollierter Privatisierung abspielten, als Klaus das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. Zwar streitet Klaus ab, mit seiner Verfügung spezifische Fälle im Auge gehabt zu haben, vom Verdacht des Klientelismus kann er sich jedoch nicht überzeugend freisprechen. Er rechtfertigt seine Amnestie mit Verweis auf den Europäischen Gerichtshof, der als angemessene Dauer für ein Gerichtsverfahren sechs Jahre ansieht. Eine Einstellung von Verfahren, deren Dauer acht Jahre überschreitet, sei demzufolge weitsichtiger.

Galt Klaus bisher selbst als Kritiker des präsidialen Privilegs einer Amnestie, erteilte er nun zum ersten Mal in seiner Amtszeit sogleich die zweitgrößte Amnestie in der Geschichte Tschechiens. Zu seiner Entlastung verwies er auf die Amnestie seines Vorgängers Václav Havel, der 1990 nach seinem Amtsantritt 23.000 Häftlinge amnestierte, rund zwei Drittel der damaligen Gefängnisinsassen. Das Staatsoberhaupt selbst, dessen offizielle Amtszeit am 7. März endet, steht indes über aller Kritik. Auf die Frage, ob er die Ankündigung der Amnestie bereue, antwortete Klaus gegenüber dem Nachrichtenserver „novinky.cz“: „Ich bin überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. Das wird sich nach einiger Zeit schon herausstellen, wenn sich die hitzigen Gemüter wieder abgekühlt haben.“ Klaus kündigte ferner an, noch weitere Begnadigungen auszusprechen.