„Mit der Emanzipation der Justiz könnte es bald vorbei sein“

„Mit der Emanzipation der Justiz könnte es bald vorbei sein“

Ein Jahr nach „Nagygate“ ist laut dem Journalisten Ondřej Kundra unklar, was der Fall für Tschechiens Politik bringt

18. 6. 2014 - Text: Martin Nejezchleba

Investigativer Journalismus ist in Tschechien eine Seltenheit. Einer der angesehensten Reporter dieser Zunft ist Ondřej Kundra von der Zeitschrift „Respekt“. Am Korruptions- und Abhörskandal um Ex-Premier Petr Nečas und seiner engsten Mitarbeiterin und Geliebten Jana Nagyová (heute Nečasová) arbeitet Kundra von Anfang an. Im Gespräch mit PZ-Redakteur Martin Nejezchleba erklärt er, was „Nagygate“ gebracht hat.

Herr Kundra, ein Jahr ist vergangen seit der beispiellosen Razzia im Regierungsamt. Damals schrieb nicht nur „Respekt“, es handle sich um einen Meilenstein im Antikorruptionskampf. Wie bewerten Sie die Auswirkungen von „Nagygate“ heute?

Ondřej Kundra: Die Auswirkungen sind groß. Immerhin führte der Fall zum Regierungswechsel. Es hat sich gezeigt, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei keine Angst mehr haben, in den höchsten Ebenen der Politik vorzugehen. Was die viel diskutierte Zulässigkeit des Einsatzes und dessen Erfolg betrifft: Das lässt sich im Moment schwer einschätzen, denn es wird weiter ermittelt. Manche weisen da­rauf hin, dass die Ermittlungen unverhältnismäßig lange dauern. Ich bin da anderer Meinung.

Wenn wir etwa den Fall der Privatisierung der Kohlegrubenwerke Most betrachten (einer der größten Korruptionsskandale der sogenannten „wilden Privatisierung“ in der Nachwendezeit, die PZ berichtete; Anm. d. Red.), dann sehen wir, dass die Schweizer Justiz acht Jahre an dem ganzen Fall gearbeitet hat. An den vier Fällen rund um Frau Nagyová arbeiten die Polizisten etwa zwei Jahre. Die Abhöraffäre durch den Militärgeheimdienst geht jetzt vor Gericht. Anders steht es um die angebliche Korruption durch die sogenannten Paten (einflussreiche Geschäftsmänner, denen illegale Einflussnahme auf Politiker nachgesagt wird, Anm. d. Red.). Hier hätte die Staatsanwaltschaft taktisch klüger vorgehen können.

Welche taktischen Fehler wurden da gemacht?

Kundra: Am Anfang der Ermittlungen stand der Verdacht, der damalige stellvertretende Oberstaatsanwalt Grygárek begehe möglicherweise Geheimnisverrat. Im Zuge der Abhörungen erhielten die Ermittler weitere Informationen über Korruption und Geheimdienstmissbrauch. Es war wohl nicht ganz geschickt, in allen vier Teilfällen auf einmal zu ermitteln. Denn es konnte nur eine große Razzia stattfinden. Als für einen Teil der ganzen Affäre genügend Beweise vorlagen, musste in allen Fällen zugeschlagen werden. Sonst hätten die anderen Verdächtigen die Beweise verwischen können. In diesem Moment hatten die Staatsanwälte aber allem Anschein nach nicht genügend Material in allen Korruptionsfällen beisammen. Im Moment scheinen sie Probleme zu haben, die fehlenden Beweisstücke zusammenzutragen.

In einem Fall haben Abgeordnete im Gegenzug für ihren Rücktritt Posten in staatlichen Firmen erhalten. Wie ist es möglich, dass die Abgeordneten dafür laut dem Obersten Gericht nicht belangt werden dürften, der ehemaligen Premier Petr Nečas, der ihnen dieses Geschäft angeboten haben soll, aber schon?

Kundra: Laut Oberstem Gericht haben die Abgeordneten auf Grundlage ihres Verhaltens und ihrer Aussagen im Parlament gehandelt, worauf sich die Indemnität bezieht (lebenslange Immunität für Aussagen und Abstimmungsverhalten im Abgeordnetenhaus, Anm. d. Red). Das Gericht hat hierbei eine sehr weite Auslegung gewählt – meiner Meinung nach eine zu weite. Dem Urteil zufolge könnte man auch die Annahme einer Plastiktüte voller Geld an einen Parlamentarier als Tätigkeit im Rahmen des Mandats ausgelegen. Nečas kann strafrechtlich verfolgt werden, weil er im Rahmen seiner Funktion als Premierminister, nicht als Abgeordneter gehandelt hat.

Die Polizei hat insgesamt 150 Millionen Kronen Bargeld und kiloweise Gold sichergestellt. Was hat es damit auf sich?

Kundra: Die Antwort darauf schulden uns Polizei und Staatsanwaltschaft bis heute. Das Geld wurde im Rahmen der Ermittlung gegen die sogenannten Paten sichergestellt. Zu Beginn wurden Spekulationen geschürt, es handle sich dabei um Gegenleistungen für die Vergabe öffentlicher Gelder. Bisher hat das aber zu keiner Anklage geführt. Es heißt, dass hierbei noch ermittelt wird. Allerdings sollten hier bald Ergebnisse präsentiert werden – sonst ließe sich das als Misserfolg der Staatsanwaltschaft in einem der Teilfälle betrachten.

Sie sagten, die Polizei hat heute keine Angst mehr, gegen einflussreiche Politiker vorzugehen. Gleichzeitig gibt es das Indemnitätsurteil des Verfassungsgerichts. Welche Folgen wird „Nagygate“ für die tschechische Politik haben?

Kundra: Der Fall wird sicherlich in der Politik, aber auch bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft nachhallen. Die Politiker sind verunsichert, und falls der Fall positiv ausfällt, könnte er zu einer gewissen Säuberung der Politik führen. Falls es allerdings nicht gelingt, den Großteil der Anklagten im Sinne der Staatsanwaltschaft zu verurteilen, könnte das ein jähes Ende der Emanzipation der Ermittler bedeuten.