Mährische Haikus

Mährische Haikus

Ludvík Kunderas Gedichte erzählen von der Schwierigkeit, in einem repressiven System zu überleben

5. 3. 2015 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: ČTK/Vít Korčák

 

Der politische Reformversuch in der Tschechoslowakei des Jahres 1968 unter der Führung von Alexander Dubček hatte im In- und Ausland große Hoffnungen geweckt. Sollte es tatsächlich möglich sein, dem Sozialismus ein „menschliches Antlitz“ zu verleihen?

Umso niederschmetternder waren die Erfahrungen nach der gewaltsamen Niederschlagung im August 1968. Zug um Zug wurden die politischen Reformen zurückgenommen, die Zensur wieder eingeführt und die politischen Hoffnungsträger ins gesellschaftliche Abseits verbannt. Es folgten zwanzig bleierne Jahre der sogenannten „Normalisierung“.

Wie viele andere Schriftsteller konnte auch Ludvík Kundera (1920–2010) in jenen Jahren nicht mehr in seiner Heimat veröffentlichen. Dennoch gelang es den Machthabern trotz staatlich verordneter Knebelung nicht, die ungeheuer produktive Persönlichkeit Kunderas zu brechen. Immer wieder waren seine Texte in Privatdrucken oder im Ausland erschienen.

In jener Zeit des politisch auferlegten Schweigens entstanden auch die vorliegenden Gedichte, die im vergangenen Jahr unter dem Titel „Überwinterung“ erschienen. Der Metapher der Überwinterung bediente sich Kundera zwischen 1971 und 1989, um darin die Herausforderung eines würdevollen Überlebens poetisch zu verarbeiten.

1976 war Kundera mit seiner Familie von Brünn in das mährische Städtchen Kunštát umgezogen. Oberhalb von Kunštát befand sich jener Garten, der Kundera zu den meisten seiner Überwinterungsgedichte angeregt hatte: „Besorgt um Kiefern und um Tannenbäumchen / loben wir Freunde / die ihre Graphiken / auf frostbeständigen Papieren schicken / Dem Wacholder jedoch streifen wir einen Papiersack über / Hält die Kirsche deren Stamm nur noch ein schmaler Rindenstreifen? / (Das wievielte Jahr schon fragen wir uns das?)“.

Jede Geste, jede Bewegung und auch die noch so unpolitischste Tätigkeit geriet in jener Zeit zu einer Manifestation über die Zustände im Lande. Ludvík Kundera war nie ein Dichter mit vordergründigen Aussagen. Seine Liebe zur Literatur, zur Kunst war ihm ein Mittel zum Überleben in einer geisttötenden Zeit. Und genau diese ideologisierten Verhältnisse waren es, die nahezu jede seiner harmlosen Zeilen über den winterlichen Garten zu einem Symbol von Unabhängigkeit verwandelten: „Alles umwickelt schleppe ich im Wägelchen / vorletzte Marmeladen und Bücher mit nach unten / Blieben ein paar Äpfel dort / Fürs Winterbraten? / Ich versinke im Schlamm“.

Kundera, Zeit seines Lebens Surrealist, blieb nie an der sogenannten Wirklichkeit haften. Er wusste von deren doppeltem Boden und machte sich einen Spaß daraus, diesem einen zauberhaften Spiegel vorzuhalten. Die Bilder vervielfachen sich – der Dichter hat somit Anteil an einer Neuerschaffung der Welt. Souverän beherrschte Kundera die Gesten des Lakonischen, der Ironie und auch des stillen Humors.

Noch während der Kriegszeit war der tschechische Schriftsteller der surrealistisch ausgerichteten Künstlergruppe „Ra“ beigetreten. Grenzüberschreitende Kontakte und die Inspiration anderer Künstler waren ihm zeitlebens wichtig. Auch diese Eigenschaft war den ideologischen Gralshütern in der Tschechoslowakei bereits ein Dorn im Auge. Kundera hatte bereits Ende der vierziger Jahre Kontakte mit Schriftstellern aus der DDR wie Peter Huchel, Franz Fühmann oder Reiner Kunze gepflegt und zudem deren Gedichte ins Tschechische übersetzt. Im Gedicht „Überwintern 1984“ werden die Schriftsteller Uwe Grüning und Günter Kunert, aber auch der englische Literaturwissenschaftler Ian Hilton erwähnt, die Kundera mit Lieferungen exotischer Teesorten bei Laune hielten. Neben auserlesenen mährischen Destillaten, guten Gedichten, anregenden Bildern und Grafiken schätzte Kundera den Genuss außerordentlicher Teearten.

Die vorliegenden Gedichte wurden von Eduard Schreiber hervorragend übersetzt. Kundera und Schreiber hatten sich gut gekannt und im Laufe der Jahre eine fruchtbare deutsch-mährische Zusammenarbeit entwickelt. Zusammen hatten sie unter anderem die „Anthologie des Poetismus“ (2004) in der 33-bändigen Reihe der „Tschechischen Bibliothek“ herausgegeben und kommentiert. Ganz in der Tradition früherer gemeinsamer bibliophiler Unternehmungen hat der Herausgeber und Übersetzer Eduard Schreiber dem Bändchen Kaltnadelradierungen des Graphikers Ludvík Kundera eingefügt.

Ludvík Kundera: Überwintern. Aus dem Tschechischen von Eduard Schreiber. Mit Kaltnadelradierungen von Ludvík Kundera. Hochroth Verlag, Berlin 2014, 40 Seiten, 6 Euro, ISBN 978-3-902871-60-2