Kuscheln mit den Löwen
Gedankenspiele

Kuscheln mit den Löwen

Warum sich die Fußball-Vorstände des Prager Fünftligisten ABC Braník und des TSV 1860 München unbedingt einmal treffen sollten

8. 4. 2019 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: ABC Braník

Freitag, später Nachmittag, strahlender Sonnenschein über dem Sportgelände von ABC Braník, den seine Mitglieder liebevoll „Ábíčko“ nennen. Vor der Vereinsgaststätte, einer kleinen Holzhütte, sind alle Stühle belegt. Die meisten Gäste lassen sich ein Gambrinus schmecken.

Viele erheben sich jedoch umgehend von ihren Tischen und stellen sich an den Linien des Kunstrasenplatzes auf, als die Nachwuchskicker des Klubs aus dem weißen Umkleidegebäude weiter hinten kommen und mit ihren Trainingsspielen beginnen.

Die kleinen Kicker, kaum zehn Jahre alt, agieren mit großer Spielfreude. Manch feiner Trick ist schon zu sehen. Als einem Buben ein Eigentor unterläuft, ärgert er sich darüber mehr als der tschechische Nationalspieler jüngst beim 0:5-Debakel in England. Und die jungen Spieler tragen mit sichtbarem Stolz die Trikots ihres Klubs: hellblau-weiß und längsgestreift, dazu weiße Hosen. Genauso wie Mannschaften von 1860 München. Man könnte daher leicht zu dem Schluss kommen, dass sich hier der Nachwuchs des früheren Deutschen Meisters auf künftige sportliche Ziele vorbereitet.

Nachwuchskicker der „Prager Löwen“ | © ABC Braník

Umso mehr, da sich die Münchner „Löwen“ bereits vor Jahrzehnten mit tschechischen Spielern verstärkten. Sie haben bei dem bayerischen Traditionsklub, der 1963 zu den Gründern der Fußball-Bundesliga zählte, tiefe Spuren hinterlassen. Schon 1985 – also in trüben kommunistischen Tagen – kamen die Nationalspieler Jaroslav Netolička und Zdeněk Prokeš aus Vítkovice und von Bohemians Prag nach München. 1998 folgte Roman Týce (25 Länderspiele) aus Liberec, der seine Fußballschuhe volle neun Jahre für 1860 schnürte. Ein Jahr später wechselten Martin Čížek (18 Länderspiele) und Tomáš Votava (13 Länderspiele) von Sparta Prag nach München, 2004 noch der Brünner Stürmer Michal Kolomazník.

Auch zwischen ABC, dem kleinen Klub aus dem vierten Prager Stadtbezirk, und 1860 gibt es Gemeinsamkeiten. Ähnlich verlief schon die Fußball-Historie beider Klubs. ABC wurde im Februar 1914 gegründet, hatte in seinen frühen Jahren jedoch nichts mit Fußball zu tun, sondern mit Hockey, Schwimmen – und Schach. 1860 ging schon im Juli 1848 als „Münchner Turnverein“ an den Start, wurde von der Obrigkeit aber als „Anstalt der Verpestung“ verboten und daher erst im Mai 1860 ein offizieller Klub.

Das größte Idol für 1860-Fans ist bis heute Torwart Petar Radenković. Unvergessen bleibt nicht nur seine Leistung auf dem grünen Rasen, sondern auch sein Lied: „Bin i Radi, bin i König, alles andere stört mich wenig …“ Auch ABC Braník, der sympathische Klub aus dem Prager Süden, brachte einen Torhüter von Format hervor: Karel Hanáček, der 1952 für die Nationalelf der ČSR hielt.

An den großen Siegen des Münchner Vereins hatten die Stürmer Rudi Brunnenmeier, Peter Grosser und Timo Konietzka entscheidenden Anteil. Bei „Ábíčko“ haben ebenfalls Angreifer eine Vergangenheit, die als Vorbilder dienen. Allen voran Václav Mašek, der anschließend beim Renommierklub Sparta Prag zum erfolgreichsten Torschützen aller Zeiten wurde und dem bei der WM 1962 in Chile ein Rekord-Tor nach nur 15 Sekunden gelang.

Prager Jugendmannschaften in Braník | © khan

Als Kind begann der aktuelle Nationalspieler David Pavelka bei ABC, ebenso Ondřej Petrák, der gerade mit dem 1. FC Nürnberg in der Bundesliga spielt. Genau dort also, wo 1860 unbedingt wieder hin will. „Perspektivisches Ziel ist es, den TSV 1860 München wieder als Erstligaklub zu etablieren“, vermerkt der Klub auf seiner Homepage unverblümt.

Derzeit spielt 1860 nur in der Dritten Liga. Dort verbrachte auch ABC, dessen Fußballer gerade in der fünften tschechischen Liga auf Torejagd gehen, seine fußballerisch beste Zeit. Sie liegt allerdings Jahrzehnte zurück. Wie die größten Erfolge von 1860: der deutsche Pokalsieg 1964, das Europacup-Finale 1965 und vor allem die Deutsche Meisterschaft 1966. Die Rückkehr in die Bundesliga habe höchste Priorität, wie 1860 unterstreicht. Dabei setzt der Klub auf seine erfolgreiche Ausbildung. „Sie zählt seit vielen Jahren zur Kernkompetenz des Vereins“, betont der Traditionsklub im Internet. Auf seiner Jugendseite rühmt er sich, dass seine Nachwuchsförderung im nationalen Vergleich gar „auf Augenhöhe mit wirtschaftlich deutlich stärkeren Wettbewerbern“ erfolge.

Auch die Nachwuchsarbeit von ABC genießt einen guten Ruf. Die U17- und U19-Jugendteams liegen in ihren Spielklassen derzeit an der Tabellenspitze. Die besten jungen Spieler gibt der Verein, der mehr als 500 Mitglieder zählt, mittlerweile an den Großklub Slavia Prag weiter. Ondřej Petrák ging diesen Weg von ABC zu Slavia, bevor er beim „Club“ anheuerte.

„Ábíčkos“ Turm mit Anzeigetafel | © khan

Man könnte – zumindest einige – Talente künftig auch zu 1860 München schicken. Der Klub, einer der mitgliederstärksten in Deutschland, unterhält bereits ein Leistungszentrum für Nachwuchsfußballer, eine Fußballschule für den Breitensport und das „Junge Löwen Rudel“ – da würden „tschechische Junglöwen“ die Ausbildungsreihe sinnvoll ergänzen.

Eine Ausbildungsentschädigung aus München könnte ABC umgekehrt sehr gut gebrauchen. Etwa um den altertümlichen Turm mit seiner Anzeigetafel zu modernisieren. Vor allem aber, um endlich sein neues Sportheim zu bauen. Eine Ansicht davon hat „Ábíčko“ bereits ausgehängt. „Ein Traum für ABC“, heißt es dort. Jedoch ein kostspieliger, wie der Vorstand unumwunden zugibt.

Und näher gekommen sind sich die Vereine ja bereits, wenn auch noch nicht planvoll. Denn zum 100-jährigen Bestehen im September 2014 führte der „Atletický branický club“ (ABC), der die Farben weiß und blau sogar in seinem Vereinswappen trägt, einen Kindertag durch. Er sah Fußballeinlagen, Hüpfburg, Trampolin vor – und stand schon unter dem zukunftsträchtigen Motto „Mit Löwen kuscheln“ …

Noch sichtbarer wurde der Sinn einer Kooperation zweieinhalb Jahre später, im März 2017, als ABC zu einer dreitägigen Sportveranstaltung einlud. Dazu kamen 300 Teilnehmer aus den umliegenden Kindergärten, für die der Klub ein Programm mit Bewegungsspielen, Wettkämpfen und Geschicklichkeitsübungen organisierte – und erstmals stellte er den Kindern Braníček zur Seite. Einen Plüschlöwen.

Er gleicht den 1860-Maskottchen „Sechzger“ und „Sechzgerl“ bis aufs letzte Haar. Zumindest für Kinderaugen. Aus gutem Grund sagt man bei 1860: „Einmal Löwe, immer Löwe.“

Dass die Mannschaften von ABC, nach anfänglichem Grün, schon lange die gleichen Trikots tragen wie der deutsche Traditionsklub 1860 München, ist in Braník wohl bekannt. Allerdings verweist der Vorstand darauf, dass hellblau-weiß, längsgestreift auch Argentiniens Nationalelf ziert – vielleicht sind die Stutzen bei den Pragern deshalb weiß und nicht blau, wie bei 1860 …

Werbung für den eigenen Nachwuchs | © khan

„Ábíčko“ unterhält nach Aussagen der Vereinsführung bislang keine Verbindungen zu einem deutschen Verein. Aufgrund der vielen Gemeinsamkeiten sollten sich Fußball-Verantwortliche beider Klubs jedoch unbedingt einmal an einen Tisch setzen. Zum Beispiel im Restaurant „Trezor“ in Braník, dessen Motto lautet: „Qualität, Tradition, Atmosphäre“ – was auch für die Klubs gilt. Zudem liegt es unter einem Fitness-Center. Geradezu ein Symbol für eine gemeinsame erfolgreiche Zukunft.

Bei der Gelegenheit könnten die Vereinsvertreter zunächst ein gemeinsames Trainings-Camp für junge Fußballer in den Sommerferien arrangieren. Oder ein Jugendturnier. Oder einfach nur Begegnungen für verschiedene Altersstufen. Mit anschließendem Grillfest, das die deutsch-tschechischen Beziehungen weiter beleben wird. Möglicherweise erwächst daraus eine längerfristige Zusammenarbeit.

Aus dem Nachwuchs von 1860 gingen die Bender-Zwillinge hervor, ebenso Kevin Volland und Julian Weigl. Sie wurden allesamt deutsche Nationalspieler. Weshalb am Ende vielleicht sogar die tschechische Nationalelf von einer künftigen Kaderschmiede ABC – 1860 profitieren könnte.

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