Mediale Grenzgänger
Sprache

Mediale Grenzgänger

Sprachwissenschaftler Csaba Földes erforscht die deutsche Mediensprache in Mittel- und Osteuropa

24. 2. 2022 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Roman Kraft, CC0

Seit drei Jahren untersuchen Professor Csaba Földes (Universität Erfurt) und ein internationales Team von Wissenschaftlern die Sprache von deutschen Medien im Ausland – zunächst von Minderheitenzeitungen. Im nächsten Schritt will das Projekt auch Artikel der „Prager Zeitung“ unter die Lupe nehmen.

PZ: In Ihrem Projekt ging es zunächst um deutsche Mediensprache im Ausland am Beispiel der deutschen Minderheitenpresse in Mittel- und Osteuropa. Allerdings war auch die „Moskauer Deutsche Zeitung“ ein Forschungsobjekt, die – wie auch die „Prager Zeitung“ – nicht zur Minderheitenpresse zählt.
Prof. Csaba Földes: In der bisherigen Projektphase haben wir uns gezielt auf die deutsche Minderheitenpresse konzentriert. Auch die „Moskauer Deutsche Zeitung“ ist übrigens nach Aussage ihrer Herausgeberinnen eine minderheitenrelevante Zeitung. Wir haben eine Projektverlängerung beantragt: Demnächst soll unser Blick auf andere Presseorgane erweitert werden, auch auf die traditionsreiche „Prager Zeitung“.

Warum ist die „Prager Zeitung“ für Sie von Interesse?
Sie ist eine große und renommierte Zeitung und nicht irgendein Dorfblatt. Zudem stammt sie aus Mitteleuropa. Und sie liegt am Rande des deutschen Sprachraums. Daher ist auch die kulturelle Nähe interessanter als etwa bei einer deutschsprachigen Zeitung in Nordamerika.

Haben Sie schon eine Vorstellung davon, was Sie an und in der „Prager Zeitung“ genau erforschen möchten?
Bisher haben wir sehr punktuell gearbeitet und einzelne sprachliche Phänomene untersucht. Im nächsten Schritt wollen wir eine Ebene höher gehen und Diskurse oder Argumentationsstrukturen und Textlinearität erforschen. Bei der „Prager Zeitung“ wie auch bei anderen Medien, die hinzukommen würden. Das hängt natürlich vom Geld ab: Je mehr Mittel wir bekommen, umso höher können unsere Ziele sein.

Artikel der „Prager Zeitung“ wurden bereits mehrfach und immer wieder für sprachwissenschaftliche Magister- und Diplomarbeiten untersucht. Was macht deren Beiträge für Sprachwissenschaftler interessant?
Sie sprechen von Abschlussarbeiten. Ja, die gibt es tatsächlich, aber internationale wissenschaftliche Publikationen zur Sprachlichkeit der auslandsdeutschen Medien existieren so gut wie gar nicht. Dabei ist diese Thematik sehr spannend. Vor allem, wie sich in den Texten die Mehrsprachigkeit und ein anderer kultureller Hintergrund manifestiert, welche Wörter zu Kultur, Festen, Speisen genutzt werden, welche anderen Perspektiven und Prioritäten gesetzt werden. Das macht diese Texte interessant.

Csaba Földes ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft. | © Universität Erfurt

Ihr Forschungsprojekt wird seit 2019 von der Bundesregierung mit rund 120.000 Euro gefördert. Haben Sie in diesen drei Jahren festgestellt, dass deutschsprachige Minderheitenzeitungen im Ausland anders schreiben als in Deutschland?
Natürlich. Die Sprache ist zwar Deutsch, aber das soziokulturelle Umfeld ist russisch oder ungarisch oder weist eine andere regionale Couleur auf. Als Ergebnis entstehen asymmetrische „Grenzgänger“-Blätter. Asymmetrisch, weil Sprache und Kultur unterschiedlich sind. Für Russland bedeutet das zum Beispiel: Es gibt eine deutsche Zeitungssprache bei der „Moskauer Deutsche Zeitung“, aber auch eine russische Kultur. Und „Grenzgänger“, weil diese Blätter nicht eindeutig einer deutschen Pressekultur zuzuordnen sind, aber auch nicht einer russischen, ungarischen oder rumänischen.

Werden daher andere Wörter verwendet, andere Sätze gebildet?
Es werden zum Beispiel gerne archaische Wörter verwendet, kaum aber Anglizismen. Und wenn ja, dann werden sie sehr oft erklärt, was in deutschen Zeitungen nicht der Fall ist. Außerdem fällt bei deutschsprachigen Zeitungen beispielsweise in Ungarn sofort auf, dass ein Text nicht in Deutschland entstanden ist. Bei Minderheitenzeitungen sind die Journalisten im Deutschen oft nicht sehr geübt bezüglich der journalistischen Fachkommunikation und Textgestaltung. Sie verwenden zum Beispiel gerne pathetisch klingende altertümliche Wendungen, gepaart mit umgangssprachlich-saloppen Redewendungen. In Deutschland gibt es zudem klare Textsorten: Ein Leitartikel ist anders als ein Sportbericht, hat eigene Wörter und Konventionen. Dagegen schreiben bei Minderheitenzeitungen oft keine wirklichen journalistischen Profis. Sie sind sich im Hinblick auf diese Unterscheidungen meist unsicher.

Was ist ein Beispiel dafür?
Etwa, wenn in einem Bericht steht: „Gott sei Dank haben wir es geschafft.“ Immer wieder kommen solch subjektive Elemente selbst in politischen Texten vor. Die Texte wollen sich dem deutschen Sprachstil anpassen, werden aber oft nach anderen Textmustern aufgebaut, also zum Beispiel nach slowakischen oder ungarischen. Die deutsche Sprache will eine Strukturierung, das ist ihre Stärke, aber auch ein großes Problem für Anders- oder Mehrsprachige: Es gibt viele Unterordnungen und Kausalsätze, wie „ich gehe in ein Geschäft, um etwas zu kaufen.“ In den Minderheitenzeitungen stehen jedoch oft Nebenordnungen, also „ich gehe in ein Geschäft, ich kaufe etwas, ich bezahle an der Kasse“, um bei dem Beispiel zu bleiben.

Übersetzen die Redakteure zuweilen einfach aus der Landessprache ins Deutsche?
Wir sagen dazu nicht „übersetzen.“ Das ist für Sprachwissenschaftler eine andere Tätigkeit. Dafür müsste es einen ausgangssprachlichen Text geben. Etwa einen tschechischen Text, aus dem ein deutscher abgeleitet wird. Den gibt es nicht, sondern nur eine bilinguale Sprachkompetenz. Um es salopp zu formulieren. Bei einer Minderheitenzeitung in Ungarn gestaltet ein Journalist mit ungarischem Gehirn einen deutschen Text.

Außerhalb der DACH-Staaten erscheinen regelmäßig über 400 deutschsprachige Printmedien. | © Bank Phrom, CC0

Spielt auch eine Rolle, dass Journalisten bei diesen Zeitungen oft keine deutschen Muttersprachler sind?
Über solch eine Einschätzung wäre ein Redakteur etwa vom ungarndeutschen Wochenblatt „Neue Zeitung“ sicher empört. Auch wenn viele Bundesdeutsche bei solchen Redakteuren nicht unbedingt Deutsch als deren Muttersprache erkennen. Sie besitzen eine spezifische Zweisprachigkeit. Genauso zum Beispiel schlesische Journalisten. Sie wachsen mit einer mundartlichen Varietät ihrer Sprache auf und erwerben zugleich die standardsprachliche Form der Landessprache – also deutscher Dialekt und polnische Standardsprache. Kompliziert wird es für sie deshalb, weil sie Texte nach deutschem Standard schreiben müssen, den sie nicht näher kennen, weil sie ja nie eine deutsche Schule besucht haben. Zu Hause haben sie bei Eltern und Großeltern den deutschen Dialekt gehört. Aber das ist nicht die Zeitungssprache.

Ihr Name lässt erahnen, dass Sie aus Ungarn kommen. Wie war es bei Ihnen?
Ich gehöre selbst zu dieser Gruppe. Ich bin in einem donauschwäbischen Ort ebenfalls mit einem Dialekt aufgewachsen, hatte nie Deutsch in der Schule, auch nicht als Fremdsprache, sondern habe die Standardsprache durch Studium und Kontakte mit Deutschsprachigen aus Deutschland erworben. Es ist eine Frage der Definition.

Welche weiteren Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Wir haben bisher eine Reihe von Publikationen erarbeitet, in denen wir unsere Ergebnisse veröffentlicht haben. Vor allem konnten wir verschiedene sprachliche Merkmale von Regionalität (z. B. Austriazismen und Dialektismen) beschreiben. Mehrsprachigkeit und die Kontakte mit anderen Sprachen, wie deutsch-ungarisch oder deutsch-polnisch, wirken sich auf die Texte aus. Durch den expliziten Sprachkontakt werden Fremdwörter oder fremde Namen verwendet, etwa wenn die „Moskauer Deutsche Zeitung“ schreibt, dass etwas im „GUM“ gekauft wurde, dem großen Kaufhaus in Moskau. Dazu gibt es implizite Sprachkontaktphänomene: Alles ist zwar in Deutsch geschrieben, doch das Sprachkonzept bzw. die Bildlichkeit entstammt aus einer anderen Sprache. Weshalb ein Deutscher in Deutschland sagen würde: So kann man das nicht ausdrücken. Obwohl es korrektes Deutsch ist.

Sind deutschsprachige Zeitungen im Ausland auch Mittler zwischen den Kulturen und mithin zwischen dem Erscheinungsland und Deutschland?
Ja – und sie sind nicht nur eine Brücke etwa zwischen Polen oder Ungarn und Deutschen generell, sondern auch zwischen deutschen Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung in einem Ort. Und sie bilden eine Brücke zwischen den Deutschsprachigen in einem Land, die oft eine sehr heterogene Gruppe bilden. Etwa von Minderheiten, die dort seit 300 Jahren leben, und Bundesdeutschen, die dort verheiratet sind oder wegen des Berufs wohnen. Die Lektüre der gleichen Zeitung macht die Deutschsprachigen in diesen Ländern indirekt zu einer Gemeinschaft.

Wie weit steckt in ihnen möglicherweise gesellschaftliches und wirtschaftliches Potenzial für das Land, in dem sie erscheinen?
Sie tragen zu einem friedlichen Zusammenleben bei, zu gegenseitiger Information und Verständigung und gegenseitiger kultureller Bereicherung. Wirtschaftlich insofern, da es in diesen Zeitungen auch Annoncen von bundesdeutschen Unternehmen gibt. Darin geht es meist um Dienstleistungen oder Transport. Als Wirtschaftsunternehmen, also als Arbeitgeber oder Steuerzahler, sind die Zeitungen bzw. Verlage dagegen nicht sehr bedeutend.

Die MDZ erscheint in deutscher und russischer Sprache. | © IMH

Haben Sie einen Unterschied zwischen Artikeln festgestellt, die in der Zeitung oder Online erschienen sind?
Man würde erwarten, dass es größere Unterschiede gibt. Interessanterweise traten bei den drei von uns untersuchten ungarndeutschen Periodika zwischen Zeitung und Online keine signifikanten Unterschiede auf. Wahrscheinlich deshalb, weil dort auch die Online-Auftritte von Ungarndeutschen geschrieben werden. Wegen ihrer geringen journalistischen Sprachroutine unterscheiden sie nicht so stark zwischen den Medien und schreiben für die Zeitung wie im Internet. Bei der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ aus Kasachstan traten größere Unterschiede auf. Die Online-Version ist wie in Deutschland, während das Print-Produkt sehr interkulturell klingt. Vermutlich deshalb, weil Print zu einem erheblichen Teil von mehrsprachigen Kasachen geschrieben wird. Die Online-Version stammt dagegen primär von bundesdeutschen Praktikanten oder Volontären.

Sie schreiben, dass sich die Besonderheiten der deutschen Hochsprache außerhalb Deutschlands nicht in Wissenschaft und Literatur offenbaren, sondern am stärksten in der Sprache der Zeitungen. Warum gerade dort?
Angehörige deutscher Minderheiten in Mittel- und Osteuropa produzieren viel seltener deutschsprachige wissenschaftliche Publikationen und literarische Texte. Wie es um ihre gegenwärtige Schriftsprache tatsächlich bestellt ist, sieht man daher am besten an ihren Pressetexten.

Spiegeln sich darin spezielle Blickrichtungen und deren Einordnung je nach Sicht des jeweiligen Landes wider?
Tatsächlich wird ein bundesdeutscher Leser nicht den Unterschied zwischen „Mutterland“ und „Vaterland“ in der ungarndeutschen Presse verstehen. Mutterland ist für sie Deutschland und das Vaterland ist Ungarn. Das ist eine spezielle Blickrichtung. In der „Moskauer Deutschen Zeitung“ wurde 2017 über die „Heimholung der Krim“ geschrieben. Für eine deutsche Zeitung kaum vorstellbar, schon gar nicht die Verwendung des Begriffs „Heimholung“, was sehr an „Heim ins Reich“ erinnert. Das ist eine Wiedergabe der russischen Perspektive, während man in Deutschland in diesem Zusammenhang ja von Annexion spricht.

Sie wollten auch journalistische Handlungsmöglichkeiten und -formen unter den speziellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit hinterfragen. Schreiben deutsche Zeitungen im Ausland eine Reportage anders, weil die Sprache anders ist?
Das kulturelle Umfeld spielt natürlich hinein. Es handelt sich um teilweise andere Kommunikationskulturen als in Deutschland – etwa bestimmte Höflichkeitsformeln oder Titelverwendungen. Schreiber wie auch Leser sind meist nicht im deutschen Sprachraum sozialisiert, sie erwarten schlichtweg nicht solche Texte wie in Deutschland. Schon einen Lebenslauf schreibt man etwa in Tschechien anders als in Deutschland. Hinzu kommt, dass Minderheitenzeitungen für ein eher überschaubares Publikum entstehen, was auch bedeutet, dass man eine gewisse Standortgebundenheit festmachen kann.

Wie wirkt sich das in Texten aus?
Es geht ihnen oft um Ereignisse in einem kleinen begrenzten Raum. Dort greifen sie auch sehr kleine Themen für ihre Berichte auf. Die Leser erwarten, dass auch etwas über ein Nachbardorf geschrieben wird. Sie sind begeistert, wenn sie einen bekannten Namen in der Zeitung wiederfinden. Das wirkt auf bundesdeutsche Leser manchmal sehr provinziell, auch weil winzig kleine Titel zuweilen in mehreren Zeilen genannt werden: „der stellvertretende Vorsitzende der Ortsgruppe …“ Und es gibt nicht immer klare Unterscheidungen zwischen berichts- und meinungsorientierten Beitragsformen. Für die deutsche Minderheit wird oft Partei ergriffen. Jeder kennt praktisch jeden, und das beeinflusst natürlich die Texte.