Košice/Kaschau – Rückkehr in eine Stadt im Wandel

Košice/Kaschau – Rückkehr in eine Stadt im Wandel

Stadtschreiberin Kristina Forbat über ihre Zeit in der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas

18. 9. 2013 - Text: PZ

Ende März nahm ich im grauen Nieselwetter den Nachtzug von Prag nach Košice. Ich wagte ein Abenteuer in eine ferne, mir fremd-vertraute Stadt in der Slowakei. In Košice liegen meine Wurzeln, hier bin ich geboren. Im August 1989 setzten meine Eltern meine Schwester und mich auf die Rückbank unseres Škodas und auf ging es in den Westen, nach Deutschland.

Dieses Jahr ist Košice, zu Deutsch Kaschau, neben dem südfranzösischen Marseille die Europäische Kulturhauptstadt. Durch ein Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa bekam ich die Gelegenheit, für fünf Monate als Stadtschreiberin zurückzukehren und erstmals herauszufinden, wie sich das Leben in Kaschau anfühlt.

Košice – die 240.000-Seelen-Stadt, die zweitgrößte des Landes, liegt im tiefen Osten der Slowakei, ein Katzensprung ist es nach Ungarn, unweit liegt die ukrainische Grenze. Košice. Ich nenne sie die „heimliche“ Kulturhauptstadt, denn von der Existenz einer wahrlich europäischen Stadt, die ein reiches kulturelles Erbe aufweist, weiß kaum jemand.

Kassa, Kaschau, Košice blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Die unterschiedlichen Namensgebungen weisen darauf hin. Bis 1918 gehörte Kassa zu Zeiten der Donaumonarchie zum ungarischen Vielvölkerstaat, Košice heißt sie seit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik. Die Bezeichnung Kaschau geht auf die Besiedlung der Region deutscher Kaufleute im Mittelalter zurück. Auf dem Grundstock deutscher wie slawischer Siedler fand sie 1230 erstmals als „villa Cassa“ schriftliche Erwähnung.

Mehr Stadt als Staat
Viele Minderheiten, wie Ungarn, Roma, Tschechen, Juden und Ruthenen, sind hier zuhause. Sie prägen bis heute das Leben in der multiethnischen Stadt. Auf meinen täglichen Streifzügen durch die Straßen bekam ich mancherorts den Esprit einer Metropole zu spüren: in der Straßenbahn – der Električka, die man hier „brika“ nennt – lauschte ich mit gespitzten Ohren Unterhaltungen auf Romani, Ungarisch oder Ruthenisch. Auf dem Markt am Platz der Dominikaner vernahm ich viele Begriffe, deren Ursprünge den Sprachen der hier lebenden Ungarn, Roma und Karpatendeutschen entstammen.

Die besondere geographische Lage durch die Grenznähe zu Nachbarländern, die eigene lokale Mundart, die relativ weite Distanz zur Hauptstadt Bratislava, das etwas gemächliche „l’art de vie“ sowie gemeinsame Erlebnisse während politischer Umbrüche, sind Merkmale, die die Menschen hier verbinden. Viele Kaschauer identifizieren sich stärker über ihre Stadt als über ihre Staatsangehörigkeit. Multiethnische Familien sind hier nichts Ungewöhnliches. Ältere Bürger haben Zeit ihres Lebens unterschiedlichste Regime kommen und gehen sehen. Sie gehörten verschiedenen Staaten an, ohne sich dabei vom Fleck bewegt zu haben.

Kein Wunder also, dass dieses Leben in diesem Schmelztiegel Mitteleuropas eine gewisse Abgeklärtheit im Gemüt der Kaschauer bedingt. Mit einer Portion Skepsis beobachten die Einwohner, was seit Anfang des Jahres in ihrer Stadt vor sich geht. Auf übergroßen schwarzen Plakaten mit Astronautenfiguren kündigte sich im Januar unter dem pinkfarbenen Akronym EHMK (Europäische Kulturhauptstadt Košice) eine große Unbekannte an. Mit dem Titel verbanden die Einwohner zuallererst die vielen Baustellen, die die Stadt- und Geräuschkulisse seit dem vergangenen Sommer dominierten.

Im Mai 2013, zur Blütezeit des Kulturhauptstadtjahres, waren immer noch deutlich mehr Baggergeräusche als Straßenmusikanten in der Stadt zu vernehmen. Die Bürger von Košice bemerkten zähneknirschend, dass man den Touristen in dieser Kulturhauptstadt einzig Baustellen präsentieren könne. Entgegen der Erwartung wurden im Spätsommer schließlich alle Bauprojekte fertiggestellt. Die kostspieligsten Vorhaben des Kulturhauptstadtjahres waren die 7,5 Millionen Euro teure Kunsthalle und der Kasárne/Kulturpark, für den allein 24 Millionen Euro aus den Mitteln der EU-Fonds aufgebracht wurden.

Kultur statt Drill
Die neue Kunsthalle, ein ehemals marodes Schwimmbad, war bei Weitem das umstrittenste Bauvorhaben. Zwar war das Hallenbad jahrelang nicht mehr in Nutzung, die Umwandlung in eine Ausstellungshalle schmerzte dennoch viele Bürger, hatten doch die meisten von ihnen dort schwimmen gelernt. Die Startblöcke am Beckenrand sind noch erhalten geblieben. Das leere Schwimmbecken ist nun bestückt mit modernen Werken namhafter Künstler.

Das Konzept „aus alt mach neu“ wurde ebenfalls auf dem über drei Hektar großen ehemaligen Militärgelände umgesetzt. Drei alte Kasernen wurden in einen „Kulturpark“ umgewandelt. Die Rekonstruktion der Gebäude schafft Ausstellungsmöglichkeiten für Künstler, gibt Tanz-, Theater- und Musikgruppen neue Proberäume. Junge Kreative sollen dort bald in Büros und Ateliers arbeiten können.
Während des Sommerfestivals „Leto v parku“ (Sommer im Park) tummelten sich Jugendliche wie Familien auf dem frischverlegten Rollrasen unter Linden und Kastanien. – Ein Ruhepol entstand in unmittelbarer Nähe der Altstadt. Auf abendlichen Konzerten besuchten Hunderte erstmalig das Areal. Vor wenigen Monaten war es noch von einer hohen Mauer verdeckt.

Weitestgehend abgeschirmt vom kulturellen Leben sind die Wohnsiedlungen, in denen die große Mehrheit der Kaschauer lebt. Aus der Ferne wirken die Plattenbausiedlungen, die sich rings um das Stadtzentrum erstrecken, wie dicht aneinander gestellte Dominosteine. Sie türmen sich auf den bewaldeten Hügeln, den Ausläufern des östlichen slowakischen Erzgebirges und umschließen dabei den Kaschauer Talkessel wie eine Festung.

Schnelle Transformation
Die Satellitenstädte aus vorrevolutionärer Zeit gehen auf die Gründung des einst staatlichen Unternehmens „Ostslowakische Stahlwerke“ im Jahr 1959 zurück (heute U.S. Steel). Ein massiver Zuzug von Arbeitern aus der Tschechoslowakei folgte der boomenden Industrie. Zehntausende Wohneinheiten mussten schnell entstehen.

Während in den malerischen Gässchen der Altstadt das gesamte Jahr aus allen Ecken Geigen und Trompeten ertönen, im nahezu wöchentlichen Turnus in den Galerien „vernissages“ stattfinden, wirken die Plattenbausiedlungen dagegen eintönig und blass, sieht man von den schrillen Farben an den Fassaden der Wohnblöcke ab.

Die Organisation Košice 2013 griff den Gegensatz Zentrum/Peripherie auf und machte ihn zu einem starken Leitmotiv des Kulturhauptstadtjahres. Das Projekt „Interface 2013“, mit dem sich Kaschau den Titel holte, strebt eine grundlegende Transformation der Stadt an. Das Schlüsselprojekt lautet SPOTS. Es soll Wohnsiedlungen durch kulturelle Knotenpunkte wiederbeleben und das soziale Leben durch bürgerliches Engagement stärken. Die Stadt baute aus ungenutzten Wärmespeichern, die einst als Wärmeverteiler in den Wohnblocks dienten, multifunktionale Kulturzentren. In den Häusern finden nun Yogastunden und Gitarrenkurse statt. Eine Gruppe Anwohner pflanzt Kräuter im angeblich ersten kollektiven „Urban Garden“ der Ostslowakei. – Das alles ist ein Novum, eine große Unbekannte. Die Stadt verändert ihr Gesicht in diesem Jahr so rasant wie noch nie zuvor. Diese Transformationen gehen nicht ohne Skepsis und Ängste der Bürger einher. Was wird aus den Projekten im kommenden Jahr? Wie sind die vielen neuen Ausstellungsmöglichkeiten mit Leben zu füllen? Was ist ihr Konzept?

Vieles ist im Umbruch, Neues ist möglich, einiges ist noch unerprobt. Bürgerliches Engagement entwächst den Kinderschuhen. Junge, kreative Menschen vernetzen sich und nehmen verantwortungsvolle Projekte in die Hand. Im Frühsommer versammelten sich auf ihre Initiative hin Zehntausend Bürger jeden Alters und Couleur im ehemaligen Mühlengraben, einer heute vielbefahrenen Ringstraße, in der einst Wasser floss. In ausgelassener Stimmung bekundeten sie ihren Willen zur „Rückkehr des Wassers“. Die Energie der Menschen war auf engstem Raum zu spüren. Allein dafür liebe ich diese Stadt!

Für mich war es nicht nur spannend, Zeuge der Verwandlung der Kulturhauptstadt gewesen zu sein. Meine Geburtsstadt ist mir in den vergangenen Monaten wieder eine Heimat geworden. Mit Stolz kann ich sagen: „Som Košičanka!“ (Ich bin eine Kaschauerin!)

Sechs Monate in Košice
Das Stadtschreiber-Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa soll das gemeinsame kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in jenen Regionen Mittel- und Osteuropas, in denen Deutsche gelebt haben bzw. heute noch leben, in der breiten Öffentlichkeit bekannt machen. 2009 wurde es in Kooperation mit der Stadt Danzig vergeben, seitdem in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Europäischen Kulturhauptstädten Pécs (2010), Tallinn (2011) und Maribor (2012). Die diesjährige Stadtschreiberin Kristina Forbat studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie Journalismus in Münster und Lille. Sie lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Hamburg. Am Donnerstag, 26. September, 20 Uhr liest sie in der Ján-Bocatius-Bibliothek (Hviezdoslavova 5, Košice) aus ihren Blog-Texten und präsentiert ihr aktuelles Zeitzeugenprojekt mit Filmausschnitten.   (kulturforum)

Link zum Online-Tagebuch: stadtschreiber-kaschau.blogspot.de

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