(K)ein Lebensmittel
Cannabis

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Produkte in tschechischen Geschäften entfachen die Diskussion um die Hanfpflanze neu

9. 7. 2020 - Text: Klaus Hanisch

Wie gefährlich ist Cannabis? Die Pflanze gehört zu den Hanfgewächsen und enthält Dutzende von unterschiedlichen Cannabinoiden. Einige von ihnen haben eine psychoaktive Wirkung. Vor allem Tetrahydrocannabinol (THC) – die stärkste Wirksubstanz in einer Cannabis-Pflanze – kann Konsumenten in einen Rauschzustand versetzen.

Aktuell warnt die Polizei in der Oberpfalz dringend davor, Cannabisprodukte nach Deutschland mitzubringen, die in tschechischen Geschäften ganz legal gekauft werden können. Offiziell allerdings nur „zu Forschungszwecken, zur technischen Anwendung oder zu Sammlerzwecken“. Paradox: Der Konsum und das Rauchen dieser Produkte ist laut dem Verpackungshinweis ausdrücklich verboten. Sie werden in einfachen Gläsern mit Schraubverschluss angeboten, tragen unverfänglich wirkende Namen wie „Fruit Cake“, „Green Canyon“ oder „Harlequin“, enthalten Cannabisblüten – und verstoßen gegen das deutsche Betäubungsmittelgesetz.

Die Hanfblüten enthalten weniger als 0,3 Prozent THC und sind in Tschechien daher legal. | © Polizei Oberpfalz

Auf solche Gläser stießen Schleierfahnder der Polizei aus Furth im Wald, als sie ein junges Paar auf dem Heimweg von Tschechien nach Deutschland kontrollierten. Die beiden gaben an, die Waren kurz zuvor in Tschechien ohne Probleme erworben zu haben. Daraufhin ermittelten Beamte genauer und stellten fest, dass Einkaufsmärkte entlang der tschechischen Grenze neben normalen Tabakwaren und Utensilien zum Konsum von Betäubungsmitteln tatsächlich auch solche Cannabisprodukte frei anbieten. Dabei soll es sich nach Angaben des Polizeipräsidiums in Regensburg „um sogenanntes technisches Cannabis“ handeln. Weitere Marken sind „Cannatonic“ oder „Cannabis Ice Tea“, ebenso „Cannabis Bears“.

Ein Gutachten belegte, dass der in Deutschland geltende Grenzwert für THC bei diesen Produkten überschritten war. Deshalb stellt ihre Einfuhr nach deutschem Recht eine Straftat dar, mindestens aber ein Vergehen. „Wer solche Cannabisprodukte kauft, riskiert in Deutschland eine Strafanzeige“, so die Polizei in Regensburg. Sie rät besonders Touristen, achtsam zu sein, denn nach ihren Erkenntnissen werden gerade sie an der Grenze auf diese Angebote aufmerksam gemacht. Dabei sei den meisten Käufern nicht bewusst, dass sie bei der Einreise das deutsche Betäubungsmittelgesetz missachten – auch wenn der Kauf nicht gegen geltendes Recht in Tschechien verstößt.

Suchtberatern in Regensburg sind diese tschechischen Produkte nicht bekannt. Allerdings gebe es in diesem Bereich mittlerweile „eine Vielzahl an Stoffen und ständig was Neues“, sagt Christian Kreuzer, Leiter der Caritas-Fachambulanz für Suchtprobleme in Regensburg. Cannabis werde nachgebaut, synthetische Cannabinoide könnten in allen Erscheinungsformen auftreten, manchmal kämen neue dazu und andere erhielten eine neue Bezeichnung. Deshalb sei eine Fülle an Untertypen und Arten von Cannabis auf dem Markt, eine chemische Analyse für eine genauere Bestimmung jedoch aufwändig. „Und das macht es so kompliziert“, fügt der Experte aus der Oberpfalz an.

Von einem „wachsenden Vermarktungsinteresse an entsprechenden Präparaten“ berichtete auch das „Hanf Magazin“ im Oktober 2019. Der Markt für Cannabis-Präparate sei „wirtschaftlich sehr vielversprechend“. Dies hätten neue wissenschaftliche Erkenntnisse sowie „teilweise Gesetzesliberalisierungen“ bewirkt – auch wenn „die juristischen Fallstricke nach wie vor hoch“ seien.

Vor wenigen Tagen wurden in Berlin die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zur „Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland“ vorgestellt. Demnach rauchen Jugendliche so wenig wie niemals zuvor. Dafür bevorzugen sie Cannabis – mit Abstand die am meisten konsumierte illegale Substanz – deutlich mehr als früher. Dies sehe man mit Sorge, betonte Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, weil „der Konsum im Jugendalter mit besonderen Risiken für den wachsenden Organismus verbunden“ sei. Daniela Ludwig, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, kündigte an, Jugendlichen „klipp und klar zu machen, dass Kiffen nicht cool ist“. Erstmals sollen sie deshalb durch eine Kampagne in den sozialen Medien über gesundheitliche Risiken von Marihuana aufgeklärt werden.

Hanf-Eistee in einem Supermarkt an der Grenze. | © Polizei Oberpfalz

Können tschechischer „Fruit Cake“ oder „Harlequin“ zum Einstieg in den Konsum von Cannabis oder gar härteren Drogen beitragen? Christian Kreuzer schmunzelt. Praktisch „wellenförmig“ werde angeführt, dass Cannabis der Türöffner für weiteren Drogenkonsum sei. Doch es bleibe oft dabei und „passiert weiter nichts Dramatisches“. Daher müsse differenziert werden.

Kreuzer präzisiert: „Cannabis hat unterschiedliche Wirkungen und unterschiedliche Risiken, je nachdem wie alt jemand ist.“ Für Menschen, die ab 20 Jahren ab und an zu Cannabis greifen, sei es oft nur ein Genussmittel. Wer jedoch schon ab etwa zwölf Jahren damit in Kontakt komme, dadurch etwa im Freundeskreis mithalten wolle, bei dem sei die Chance größer, dass Cannabis irgendwann zum Alltag gehöre. Denn wer in relativ jungen Jahren damit beginne, etwa mit Marihuana oder in synthetischer Form, könne dies irgendwann aus Gewohnheit machen und dann möglicherweise abhängig werden – und auch Härteres probieren. „Dann wird es heikel“, so Kreuzer. Nicht richtig sei aber, generell „zu behaupten: wer kifft, der landet automatisch beim Heroin“.

Das bestätigt auch Dr. Willi Unglaub: „Von den deutschen Cannabis-Konsumenten steigen die allermeisten – nämlich 95 Prozent – nicht auf harte Drogen um.“ Er sitzt im Vorstand von DrugStop, einem seit Mai 2000 bestehenden Verein für Drogenhilfe in Regensburg. In dessen Beratungsstelle suchen die meisten Besucher Hilfe wegen Alkoholproblemen – und dann wegen Cannabis. Das war laut Dr. Unglaub freilich „schon immer so und ist es noch immer“.

Dass in letzter Zeit nicht nur von Jüngeren, sondern generell mehr Cannabis konsumiert wird, überrascht den Arzt nicht, da es nun häufiger als Medikament verschrieben und damit stärker verbreitet werde. Cannabis wird meist in Form von Marihuana aus den getrockneten Blüten und Blättern der Cannabispflanze oder in Form von Haschisch aus dem Harz der Blütenstände konsumiert. Am häufigsten als Joint, der „gekifft“ wird, also geraucht. Dabei wird das zerbröselte Haschisch oder Marihuana oft mit Tabak vermengt und zu einer Zigarette gedreht. So macht es auch Rainer P. Er ist Mitte 50 und hat im Dezember erfahren, dass er Leberkrebs hat. Diagnose: „unheilbar“. Nicht zuletzt mit Hilfe von Cannabis versucht Rainer P., seinem Leben noch möglichst viele Tage anzufügen. Wegen der Krankheit und seiner Chemotherapie hat er in den vergangenen Monaten fast 25 Kilo Gewicht verloren. „Ich habe einfach keinen Hunger mehr“, erzählte er kürzlich. Regelmäßige Joints machen ihm jedoch Appetit auf vielerlei Speisen, mittlerweile hat er diesen Gewichtsverlust wieder vollständig aufgeholt. „Wenigstens ein Jahr“ erhofft er sich nun noch.

Seit März 2017 dürfen Ärzte in Deutschland Cannabis in Form von getrockneten Blüten und Extrakten zu medizinischen Zwecken verschreiben. Suchtberater sehen darin nicht nur Vorteile. Für Dr. Unglaub war dies vor allem „eine politische Entscheidung, unabhängig vom Wirknachweis“. Nach seinen Erfahrungen wird Cannabis von manchen Ärzten „letztendlich gegen alles gegeben und soll gegen alles helfen“. Auch Christian Kreuzer ist überzeugt davon, dass Cannabis als Schmerzmittel keine Lücke schließe. „Ich höre von vielen Medizinern, dass es genügend andere Medikamente mit gleichem Effekt gegen Übelkeit oder mangelnden Appetit gibt.“ Für ihn hat Cannabis lediglich einen „Touch des Exotischen“.

Willi Unglaub erwartet dadurch sogar mehr Probleme. „Cannabis kann abhängig machen.“ Nämlich mit der Folge, dass „der Antrieb abnimmt, weniger Motivation vorhanden ist und Psychosen ausgelöst werden“. Gerade dagegen kann Cannabis wiederum nicht helfen. Dies ergab ein aktueller Report der Techniker-Krankenkasse, in dem wissenschaftliche Studien aufgearbeitet wurden. Ebenso wenig gegen Depression, Demenz oder Darmerkrankungen. „Cannabis als Medizin ist weder ein Allheilmittel, noch taugt es zur massenhaften Anwendung“, fassen die Autoren zusammen. Ärzte sollten Cannabis in pharmazeutischer Qualität nur „schwerkranken Menschen in Ausnahmefällen verordnen“.

Solche Fälle sind etwa chronische Schmerzen, multiple Sklerose oder Epilepsie – und mögliche Indikationen für Cannabis demnach Angst- oder Schlafstörungen oder das Tourette-Syndrom. Sowie eben auch Übelkeit und Erbrechen nach einer Chemotherapie oder zur Appetitsteigerung. „Und es macht mir auch Freude“, gibt Rainer P. unumwunden zu. Für Suchtberater Kreuzer nicht unlogisch. „Tatsächlich kann Cannabis in solch einem Fall angenehme Gefühle in Kopf und Magen machen“, erläutert er, „und damit bei Schwerkranken für eine gute Grundstimmung sorgen“.

Cannabis-Gummibärchen in einem tschechischen Supermarkt | © Polizei Oberpfalz

Christian Kreuzer arbeitet seit 35 Jahren in dem Job. Bevor er im Herbst in Ruhestand geht, machte er durch Corona noch eine ganz neue Erfahrung: „Während der Ausgangsbeschränkung wurde nicht nur mehr Alkohol getrunken, sondern auch mehr Cannabis konsumiert.“ Die Gründe dafür? „Langeweile, Suche nach Beschäftigung, aber auch zur Beruhigung, weil ein normales Leben in diesen Wochen nicht mehr möglich war.“ Zu viel freie Zeit habe zudem Sorgen und Ängste verstärkt, die wiederum durch mehr legale oder illegale Suchtmittel bekämpft wurden.

Erfahrungen mit tschechischen Suchtkranken hat er während seiner vielen Berufsjahre nicht gemacht. Wohl aber Dr. Unglaub. „Ich kenne Tschechen, die mittlerweile in Deutschland leben, bei uns Hilfe suchten und in Behandlung waren“, so der Mediziner. Zudem betreibt „DrugStop“ eine Hotline für Crystal Meth, die auch Tschechen nutzen können, sofern sie in Bayern leben und Deutsch sprechen.

Das könnte für die Zukunft hilfreich sein. War Tschechien früher vor allem dafür bekannt, dass Crystal dort in illegalen Laboren hergestellt und im Ausland vertrieben wurde, so ist die Droge nach Angaben von Dr. Viktor Mravčík mittlerweile im Land selbst zu einem großen Problem geworden. Dagegen konsumieren junge Tschechen im Gegensatz zu Deutschen mittlerweile weniger Cannabis – obwohl sie einst mehr Marihuana als ihre Alterskollegen in jedem anderen Land Europas rauchten. Dies hätten Studien der vergangenen Jahre gezeigt, so Mravčík, der das Nationalen Überwachungszentrum für Drogen und Sucht leitet. Und dieser Rückgang betraf vor allem Teenager.

Dr. Willi Unglaub empfing bereits eine Abordnung von Fachleuten aus Tschechien, um gegenseitig über Crystal zu informieren und Behandlungsmöglichkeiten zu erörtern. Allerdings blieb es bei „einem einmaligen Treff“. Christian Kreuzer erinnert sich noch gut an jene Jahre, als in Prag „alle möglichen Cannabis-Produkte angeboten wurden“. Auch solche, die „in Deutschland verpönt oder verboten waren“ und Prag zum „zweiten Amsterdam“ für Konsumenten und Dealer machten. Er besprach ebenfalls schon mit tschechischen Kollegen grenzüberschreitende Strategien zum Schutz vor Drogen. Doch gibt es unterschiedliche Gesetze, Sprachprobleme, verschiedene Haltungen gegenüber Drogen und Prävention. Man habe „schnell gemerkt, dass sie dazu andere Vorstellungen und Zielsetzungen haben als wir“, sagt Kreuzer – und deshalb endete auch diese Zusammenarbeit rasch.