Rundes Jubiläum

Rundes Jubiläum

Das tschechische Nationalmuseum wird 200 Jahre alt

14. 4. 2018 - Text: Josef Füllenbach

Früher konnte man gewiss sein, dass jeder Besucher von Prag das tschechische Nationalmuseum – genauer: sein mächtiges Hauptgebäude am Kopf des Wenzelsplatzes – kennt. Heute ist das nicht mehr so sicher, denn dieses Gebäude ist schon seit einigen Jahren von Gerüsten und Abdeckplanen verhüllt. Oft wird das Gerüst auch großflächig für Reklame genutzt, so dass der unkundige Flaneur vermuten könnte, vor einer Großbank oder einem Kaufhaus zu stehen. Leider haben es die Verantwortlichen nicht geschafft, dem pompösen Gebäude zum runden Geburtstag der Institution, für die es steht und mit der es meist in eins gesetzt wird, die Verkleidung abzunehmen: Das tschechische Nationalmuseum wird am 15. April 200 Jahre alt.

Fast könnte man denken, das Nationalmuseum verdanke seine Existenz einem Zufall. Als im Jahre 1816 eine katastrophale Missernte die Bevölkerung in Hunger und Elend stürzte, entstand Anfang 1817 in Böhmen unter dem Vorsitz des Grafen Franz Anton von Kolowrat-Liebsteinsky, dem Oberstburggrafen von Prag, eine private Gesellschaft, die von vermögenden Zeitgenossen die für damalige Verhältnisse ungeheure Summe von 460.000 Gulden als Anleihe für den Kauf von Getreide zusammenbrachte. Dann aber wurde wegen der reichen Ernte des Jahres 1817 das beabsichtigte Hilfsprogramm überflüssig, und es entstand die Idee, die Hälfte der Summe zur Gründung eines Landesmuseums zu verwenden. Vor allem waren es drei Vettern aus altem böhmischen Adel, die sich dann dieses Vorschlags mit Eifer annahmen: Kaspar Maria Graf von Sternberg, Franz Josef Graf von Sternberg und Franz Josef Graf von Klebelsberg.

Die treibende Kraft unter ihnen war Kaspar Maria von Sternberg, der heute als eigentlicher Gründer des Museums gilt. Er hatte in Rom studiert, war Theologe, Politiker, Mineraloge und Botaniker, befasste sich intensiv mit versteinerten Pflanzen und gilt als Mitbegründer der Phytopaläontologie. In der internationalen Welt der Wissenschaft fühlte er sich zu Hause und pflegte mit ihr engen Kontakt; gleichzeitig war er wie seine Vettern ein entschiedener Vertreter der vaterländisch gesinnten Tschechen und wirkte aktiv mit bei den Bestrebungen zur nationalen Wiedergeburt, die damals schon volle Fahrt aufgenommen hatten.

Kaspar Maria Graf Sternberg auf einer Lithographie im Jahr 1837

Im Zuge einer Reihe von Beratungen wurde eine Proklamation zur Gründung eines „Vaterländischen Museums in Böhmen“ verfasst und am 15. April 1818 vom Oberstburggrafen Kolowrat unterschrieben und veröffentlicht. Dieses Datum gilt seither als Geburtsdatum des heutigen Nationalmuseums. Damals allerdings musste sich der Plan zunächst gegen den von Josef Jungmann, einem der Begründer der modernen tschechischen Sprache, propagierten Gedanken durchsetzen, das Museum auf die nationale Geschichte und auf die tschechische Sprache und Literatur auszurichten und so zu einem Instrument der nationalen Erweckung zu machen. Stattdessen lag den Gründungsvätern des heutigen Nationalmuseums an einem den geographischen Raum der böhmischen Länder umfassenden Museum, dem sie einen übernational-fachlichen Charakter geben wollten. Da die Sternberg-Vettern zusammen mit Kolowrat über Geld und Einfluss verfügten, Jungmann und seine Gefolgsleute aber nur über Ideale, war das Ergebnis vorgezeichnet.

Nach der Proklamation von 1818 dauerte es freilich noch vier Jahre, bis die Statuten des Museums am 14. Juni 1822 von Kaiser Franz I. bestätigt wurden. Den Spiritus Rector des Museums und aller mit seinem Aufbau verbundenen Arbeiten, Kaspar Sternberg, wählte die Museumsgesellschaft noch im gleichen Jahr zu ihrem ersten Präsidenten. Von ihm stammten große Teile der ersten Sammlungen, die dem Museum übereignet wurden, unter anderem gleich am Gründungstag sein aus 20.000 Einzelstücken bestehendes wissenschaftliches Herbarium getrockneter europäischer Pflanzen und seine mineralogischen Sammlungen. Aber auch andere begeisterte Freunde des Museums trugen zum Grundstock der Exponate bei, etwa mittelalterliche Handschriften und Erstdrucke. Das Problem der Unterbringung der Exponate lösten die Gründer provisorisch durch die Nutzung von Klostergebäuden bei der Jakobskirche, dann längerfristiger durch Anmietung eines Teils des Sternberg-Palais in der Nähe der Prager Burg, das heute Teil der Nationalgalerie ist. Seit 1845 bezog das Museum das kleine Nostitzpalais (heute: Palais Sylva-Taroucca) an der Straße Zum Graben.

Anfang 1827 erschien erstmals die von František Palacký, dem Vater der tschechischen Geschichtsschreibung, redigierte „Monatsschrift der Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen“, parallel dazu in tschechischer Sprache die Vierteljahresschrift der Gesellschaft. Palacký war es auch, der das 1818 noch zur Seite gedrängte Anliegen Jungmanns wiederbelebte und die tschechisch-nationale Akzentsetzung von Zeitschrift und Museum beförderte. Zudem öffnete sich unter seinem Einfluss die ursprünglich engere naturwissenschaftliche Ausrichtung hin zur breiteren Berücksichtigung der tschechischen Geschichte, wobei er von der „Schaffung der geistigen Waffen zur Verteidigung der tschechischen Kultur und Nationalität“ sprach.

František Palacký auf einer Lithographie von Adolf Dauthage im Jahr 1855

Im Oktober 1841 legte Palacký – inzwischen zum offiziellen Historiographen des Königreichs Böhmen ernannt – dem Verwaltungsausschuss des Museums ein Memorandum „Über die Zwecke des Vaterländischen Museums in Böhmen“ vor, in dem gleich mehrmals die Bezeichnung „Nationalmuseum“ auftauchte. Als vornehmste Aufgabe des Museums schlug Palacký vor, es müsse „ein wissenschaftliches Bild des Vaterlandes“ entwickeln und sich deshalb auf heimisches, tschechisches Material konzentrieren, damit es zu einem Museum heranwachse, das sich als nationales Erziehungs- und Bildungsinstitut profiliere und so die „wirklichen geistigen Bedürfnisse des Landes und der tschechischen Nation“ erfülle. Palackýs Anregungen fanden im Ausschuss einstimmige Billigung.

Das Wachstum der Sammlungen stieß immer mehr an die Grenzen der verfügbaren Ausstellungs- und Lagerräume. Als das Museum zum Beispiel 1861 aus dem Vermächtnis des Grafen Kolowrat eine großzügige Schenkung von 35.000 Büchern in 89 Kisten erhielt, wirkte das mehr als Katastrophe denn als Wohltat. Der Gedanke eines neuen Museumsbaus kam unter diesen Umständen schon 1862 erstmals auf. Doch erst mit der Schleifung der Festungsanlagen und des „Rosstors“ 1875 am oberen Ende des heutigen Wenzelsplatzes (damals Rossmarkt) entstand ein ausreichend freier Raum in zentraler Lage, über dessen Verwendung bald entschieden war: 1883 wurde der Wettbewerb zum Bau eines neuen Museumsgebäudes auf einem Grundstück von 13.500 Quadratmetern ausgeschrieben. Architekt Josef Schulz, der nach dem Brand des Nationaltheaters von 1881 sein Können bei dessen Wiederaufbau unter Beweis gestellt hatte, bekam den Zuschlag.

Von 1885 bis 1890 entstand ein weiträumiges Gebäude mit den Außenmaßen von 104 x 74 Metern, dessen höchster Punkt 70 Meter über der Auffahrtrampe liegt. Im Gebäude gibt es mehr als 3500 Türen und 562 Fenster. Die Baukosten beliefen sich auf knapp 2 Millionen Gulden. Nach der Fertigstellung des Gebäudes dauerte es noch einige Jahre, bis auch die Einrichtung und Ausschmückung der Räume, Gänge und Treppenhäuser fertig waren. Kaiser Franz Joseph I. durfte das Museum schon im September 1891 betreten. Zum Tag des hl. Wenzel, am 28. September 1892, konnten die ersten beiden Ausstellungssäle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Am 15. Juli 1893 wurde das Museum auf Dauer geöffnet, sogar zweimal in der Woche umsonst, im Winter jedoch galten Einschränkungen wegen der Probleme mit der Beheizung und Beleuchtung: Nur im Pantheon gab es elektrisches Licht, in den anderen Räume sorgten Gaslampen für bescheidene Helligkeit. Sicher hatte man den Brand des Nationaltheaters noch frisch in Erinnerung.

Ebenso wie das Nationaltheater wurde das Museumsgebäude (erst 1922 erhielt es den Namen „Nationalmuseum“) reich geschmückt mit Ornamenten, mit allegorischen Figuren und Statuen sowie mit Büsten von Gestalten aus böhmischen Legenden und aus der Geschichte des Landes, darunter auch derjenigen Personen, die sich um das Museum besondere Verdienste erworben haben. Als zentraler Gedenkraum und Saal für Festlichkeiten dient ein Pantheon von 400 Quadratmetern. Die Wände sind mit vier Wandmalereien geschmückt: Libussas Weissagung der Gründung und des Ruhmes von Prag; der Slawenapostel Method übergibt die ins Slawische übersetzte Heilige Schrift; Gründung der Karlsuniversität; und Jan Amos Komenský in Amsterdam. Ferner sind hier Statuen und Büsten von zahlreichen tschechischen Großen aufgestellt, deren eventuell veränderte Auswahl vor dem Abschluss der laufenden umfangreichen Renovierung des Gebäudes einiges Kopfzerbrechen bereitet. Den größten Kahlschlag nahmen die Kommunisten nach 1948 vor; nach 1989 wurde manches – nicht alles – wieder rückgängig gemacht. Eine Büste des Staatsgründers Masaryk wurde 1950/51 entfernt (übrigens ebenso im Nationaltheater), 1968 im Prager Frühling wieder aufgestellt und seltsamerweise in der Zeit der „Normalisierung“ an ihrem Platz belassen. Die Kommunisten, die Morgenluft wittern, möchten die 1990 entfernte Büste von Julius Fučík wieder aufstellen lassen.

Der Volksmund gab dem Museum schon bald nach seiner Eröffnung den Beinamen „Prager Walfisch“. Als der Naturwissenschaftler Antonín Frič, der seit seiner Zeit als Student ganze 60 Jahre am Museum verbrachte, von der Gelegenheit erfuhr, das Skelett eines in Norwegen bei stürmischer See gestrandeten Walfischs zu kaufen, veranstaltete er unter den Mitgliedern einer der Prager „Tischgesellschaften“ eine Sammlung, deren Ertrag den Erwerb des Unikats ermöglichte. Die Präparierung und Installation des riesigen Skeletts war nicht einfach. Die technische Seite des Problems war nichts gegen die Aufgabe, die Knochen zu entfetten. Der erste Versuch mit heißem Dampf in den Ringhoffer-Werken in der Prager Vorstadt Smíchov scheiterte nicht zuletzt an den Protesten der Nachbarschaft und auch der Arbeiter gegen den infernalischen Gestank. Noch viele Jahre nach der Aufstellung des Skeletts im Museum tröpfelte das Fett aus den Knochen auf den Fußboden und die Besucher herab. Auch musste das Skelett bei seiner Installation gekürzt werden, da es in keinen Raum passte.  Aber trotz allem wurde es zu einer Riesenattraktion und zu einem Synonym des Museums: „Lasst uns zum Walfisch geh’n!“

Neues Gebäude des Nationalmuseums im Jahr 2011  | © Jirka23, CC BY-SA 3.0

Das Nationalmuseum verfügt heute über eine Vielzahl von Gebäuden, darunter auch einigen außerhalb von Prag (etwa das Schloss Vrchotovy Janovice, gut 60 Kilometer südlich von Prag und der Gedenkort an Sidonie Nadherny, Rainer Maria Rilke und Karl Kraus). Beliebte Ziele für Spaziergänge an Wochenenden sind etwa das Tschechische Musikmuseum auf der Kleinseite, das Náprstek-Museum am Bethlehemplatz (Betlémské náměstí), die Smetana- und Dvořák-Museen oder das Lapidarium des Nationalmuseums auf dem Ausstellungsgelände im Bezirk Prag 7. In unmittelbarer Nachbarschaft des Hauptgebäudes konnte 2009 der moderne und geräumige Bau des ehemaligen föderalen Parlaments vom Nationalmuseum für seine Zwecke übernommen werden und trägt seither die Bezeichnung „Neues Gebäude des Nationalmuseums“ – eine weitere Parallele zum Nationaltheater.

Derzeit wird das Hauptgebäude des Nationalmuseums grundlegend überholt. Seit seiner Eröffnung hat es keine wirkliche Renovierung erfahren, ist aber mehrmals beschädigt worden: 1945 während der Straßenkämpfe des Prager Aufstands, 1968 durch die Beschießung bei der Besetzung Prags durch die Truppen des Warschauer Paktes, danach durch den Bau der beiden eng am Museum entlangführenden U-Bahn-Linien und deren Umsteigestation. Der Bau der Stadtautobahn („Magistrale“), deren Nord-Süd-Fahrbahn das Museum vom Wenzelsplatz abschneidet, veranlasst immer mal wieder Diskussionen darüber, diesen Einschnitt durch eine Untertunnelung rückgängig zu machen – bislang jedoch ohne Ergebnis. Der letzte große Tunnelbau in Prag („Blanka“) ist wohl so sehr von Skandalen gezeichnet, dass der Magistrat sich an ein solches Projekt lieber nicht heranwagt. Immerhin wird im Zuge der Grunderneuerung des Museums das Hauptgebäude mit dem benachbarten „Neuen Gebäude“ durch einen Tunnel verbunden.

Das Hauptgebäude des Nationalmuseums am Vortag des großen Jubiläums  | © Josef Füllenbach

Die Renovierungsarbeiten wurden 2015 aufgenommen, das Gebäude steht aber schon seit Mitte 2011 leer. Wie oft bei so großen öffentlichen Bauvorhaben in Tschechien bereitete das Bieterverfahren zunächst größere Schwierigkeiten als die technischen Herausforderungen. Erst 2015 gab das tschechische Kartellamt in Brünn nach der Erledigung von Einsprüchen unterlegener Bieter den Weg für den Arbeitsbeginn frei. Wie schon eingangs angemerkt, verstreicht das 200. Jubiläum der Museumsgründung, ohne dass die Bevölkerung wieder das historische Gebäude betreten kann, das gleich nach seiner Eröffnung vor mehr als 120 Jahren neben dem Nationaltheater zur beliebtesten nationalen Attraktion wurde. Auch zum 100. Gründungstag der Republik (28. Oktober 2018) wird es noch nicht so weit sein. Die Angaben für die komplette Wiedereröffnung schwanken zwischen 2019 und 2010. Damit liegen die Tschechen im Vergleich zu manchen deutschen Großvorhaben noch gut im Rennen, worauf in der Presse bisweilen mit einem triumphierenden Seitenhieb auf den großen Nachbarn hingewiesen wird.

Wenigstens ist die weithin sichtbare Kuppel über dem mittleren Teil der dem Wenzelsplatz zugewandten Fassade schon nicht mehr verhüllt und erstrahlt zum Geburtstag des Museums in neuem Glanz. Der ebenfalls von Weitem erkennbare Baukran zeigt an, dass bis zum Abschluss der Arbeiten noch viele Monate ins Land gehen werden. Wenn endlich die Gerüste und Abdeckplanen verschwunden sind, werden nicht alle Schäden verschwunden sein. Die vielen Einschusslöcher, die am 21. August 1968 bei dem Beschuss durch sowjetische Soldaten verursacht wurden, sollen weiterhin zu sehen sein. Laut dem Generaldirektor des Nationalmuseums Michal Lukeš gehören diese Beschädigungen der Fassade „zu den Symbolen des gescheiterten Prager Frühlings und der Bemühungen um eine Demokratisierung der tschechoslowakischen Gesellschaft im Jahre 1968. Deshalb wollen wir die Spuren des Beschusses auf der Fassade als ein Memento dieses bedeutenden Ereignisses in unserer Geschichte bewahren“.