„Im richtigen Moment eintauchen“

„Im richtigen Moment eintauchen“

Der Münchner Musiker Michael Reiserer widmet sich einem skurrilen Hobby: Seit beinahe zwanzig Jahren fotografiert er Bushaltestellen an verschiedenen Orten Tschechiens

30. 9. 2015 - Text: Sabina PoláčekText: Sabine Poláček; Foto: Michael Reiserer

Als Michael Reiserer an einem kalten, verschneiten Apriltag mit seinem Auto vor einem Wartehäuschen bei Františkovy Lázně (Franzensbad) Halt machte, ahnte er nicht, dass ihn von nun an eine neue Leidenschaft packen würde. „Das einsame, verfallene Bushäuschen hat mich richtig angesprungen. Ich musste es einfach fotografieren“, erzählt der Musiker aus München. Das war 1997. Seitdem reist er regelmäßig nach Tschechien, unentwegt auf der Suche nach neuen Motiven. Auf diese Weise lernte er zahlreiche Orte kennen – von Železná Ruda (Markt Eisenstein), Pilsen und Strakonice (Strakonitz) bis Český Krumlov (Krummau) und Český Budějovice (Budweis). Über 200 Schwarz-Weiß-Aufnahmen zählt er inzwischen in seiner etwas skurrilen Sammlung. Die menschenleeren Wartehäuschen wirken auf den Betrachter geradezu vereinsamt und hilflos, als ob sie eine Seele hätten. „Ich möchte die Bushäuschen in ihrer Art, ihrem Material, ihrer Struktur und mit ihrer teilweise wunderschönen Ausarbeitung auf meinen Fotos festhalten. Sie erzählen mir viele Geschichten.“ Aber es gebe noch einen anderen Grund für das ungewöhnliche Hobby: „Ich beobachte gerne das Geschehen vor Ort und überlege mir, was mit mir und den anderen, die dort warten – ja sogar manchmal vergeblich warten – passiert“, erklärt der heute 53-Jährige mit seiner ruhigen, hellen Stimme.

Seine Leidenschaft ist nicht ungefährlich. „Schließlich stelle ich mich vor das Bushäuschen mitten auf die Landstraße, manchmal bis zu einer viertel Stunde lang, sowohl bei Regen als auch bei Nacht.“ Er nimmt mit seiner Vollformat-Kamera das Objekt behutsam ins Visier – manchmal auch vom Rückspiegel seines geparkten Wagens aus, um mit der Perspektive zu spielen. Seine Fotoaktionen sorgen bei Passanten und Anwohnern häufig für große Irritationen. „Manche fragen mich, was ich da mache. Oder manch Autofahrer denkt, er wurde geblitzt und drosselt beim Vorbeifahren das Tempo“, schmunzelt Reiserer, dessen Großvater als Werbefotograf arbeitete und dessen Onkel als Taucher und Unterwasserfotograf auf Ibiza lebte.

„Musik und Fotografie haben viel gemeinsam“
Seine wohl größte Leidenschaft ist jedoch die Musik, die Reiserer zu seinem Beruf machte. Seit seiner Jugend spielt er Schlagzeug, Akkordeon und Singende Säge und hat sich voll und ganz dem Swing, Rockabilly und Country verschrieben. Seit vielen Jahren tritt er mit unterschiedlichen Musikern auf – vorwiegend auf bayerischen Bühnen, im November auch im „Komödienstadel“ im Bayerischen Fernsehen. Einmal reiste er mit der tschechischen Sängerin Lucie Červený und dem Gitarristen Titus Waldenfels bis nach Ostrava (Ostrau), um dort ein Konzert zu geben. Wenn Reiserer jedoch heute auf böhmischen Landstraßen unterwegs ist, gilt seine Aufmerksamkeit allein den Bushäuschen. „Fotografie und Musik haben viel gemeinsam“, sagt der Fotograf, der eine Ausstellung und einen Bildband plant. „Bei beiden ist der Rhythmus entscheidend. Man muss den richtigen Moment erwischen und dann darin eintauchen.“ Sein neues Vorhaben: Bushaltestellen nicht mehr menschenleer, sondern mit wartenden Fahrgästen ablichten. Und er will noch diesen Winter eine Lücke in seiner Fotosammlung schließen: mit Wartehäuschen aus Prag.