Im Labyrinth des Lesens

Im Labyrinth des Lesens

Eine Begegnung mit der Schriftstellerin Jana Šrámková, Trägerin eines Literaturpreises für junge Autoren

11. 2. 2015 - Text: Maria SilenyText: Maria Sileny; Foto: Ondřej Lipár

„Wenn ich etwas wirklich gut kann, dann lesen“, sagt die junge Frau, die in einem Prager Café etwas Zucker in goldfarbenen Tee rührt. Sie hat wache graublaue Augen, lange dunkelblonde Haare und trägt ein weinrotes Shirt, das ihr kugelrundes Bäuchlein nicht zu verbergen versucht. Bald erwartet sie ihr drittes Kind. Die Frau heißt Jana Šrámková und ist Trägerin des Jiří-Orten-Preises für Literatur, der Autoren verliehen wird, die jünger als 30 Jahre sind. Den Preis erhielt sie 2009 für ihren Debütroman „Hruškadóttir“ („Birnendóttir“), für einen Buchtitel, der nordische Stimmung verbreitet. Denn „dóttir“ ist das isländische Wort für Tochter.

Es ist kurz nach acht Uhr morgens, Prag ist längst erwacht, hinter dem Fenster des Cafés, das nahe dem Theater „Divadlo na Vinohradech“ liegt, fällt leichter Schnee. Unter den Rädern der Autos und den Füßen der Passanten wird er zu Matsch. Die junge Frau hat ein Buch auf dem Cafétisch liegen, das sie gerade liest. Lesen heißt für sie, in einen Text wie in ein Labyrinth einzutreten. Sich unterschiedliche Wege darin bahnen. Mehrmals das Gleiche lesen und dabei immer Neues und Anderes entdecken.

Es gab Zeiten, erzählt Jana Šrámková, die Tochter eines evangelischen Pastors, da habe sie acht Stunden am Tag gelesen. Das war während ihres Studiums der Theologie. Damals, als sie die Bibel im Original auf Hebräisch und Griechisch las, ist ihre Liebe zur Literatur erwacht. Fasziniert von den biblischen Erzählungen wollte sie mehr und anderes lesen, entdeckte Autoren der Moderne wie Virginia Woolf oder James Joyce. Schließlich glitt die Leseleidenschaft ins Schreiben über. Denn, wie die heute 32-Jährige sagt: „Schreiben ist wie ein verlängerter Arm des Lesens, die natürliche Fortentwicklung des Leseprozesses.“ Und so folgte dem Studium der Theologie ein weiteres an der Prager Literarischen Akademie, an der Jana Šrámková nun selbst kreatives Schreiben lehrt.

Forschungsarbeit Schreiben
Es war die Bibel, aus der die Autorin das Thema ihres ersten Romans schöpfte. In „Hruška­dóttir“, mit dem Untertitel „Eine Islandnovelle“, verarbeitet sie die alttestamentarische Geschichte des Iob, des Mannes, der alles verliert: Vermögen, Gesundheit, Familie; der zutiefst leidet und am Ende aus der größten Krise doch ins Leben zurückfindet. Jana Šrámkovás Iob ist ein Vater, der seine erwachsenen Kinder bei einem Autounfall verliert. Die Autorin jedoch erzählt die Geschichte aus dem Blickwinkel einer Nebenperson – einer jungen Frau, die dem tragischen Helden und seiner Familie eng verbunden ist, die alles gibt, um dem modernen Iob auf die Beine zu helfen, und am Ende selbst mit leeren Händen zurückbleibt. Islandnovelle? Die Geschichte spielt in Tschechien und die Autorin war niemals in Island. Vermutlich auch nicht ihre Romanheldin, die sie Skandinavistik studieren lässt. Island dient in dem Werk lediglich dazu, die Heldin zu charakterisieren. Der Norden sei doch ein Ort mit viel Raum, Einsamkeit, Wind und Kälte …

Während sie spricht, blickt Jana Šrámková immer wieder auf ihr Handy, der Kindergarten könnte sich melden, Šimon oder Dora könnten etwas brauchen. Und gleich wartet ein weiterer Termin auf die Schwangere: Eine Bühnenprobe im Theater „Divadlo na Vinohradech“. Daran nimmt sie jetzt regelmäßig teil, weil sie ein weiteres Studium in Angriff genommen hat: Szenologie an der Prager Theaterakademie, wo sie auch promovieren will. Das habe sie so eingeplant, um sich auch mit einem kleinen Baby beruflich weiter eintwickeln zu können. Ihr drittes Kind, ihr drittes Studium. Gerne würde sie künftig Theaterstücke schreiben. Das reize sie sehr, sagt sie und spricht von einer Herausforderung. Ihr bisheriger Schreibstil nämlich eigne sich wenig für die Bühne, das sagt sie mit einem weichen Lächeln. Denn ein klassisches Erzählen mit einer Handlung, in die Dialoge eingefügt sind, das ist Jana Šrámkovás Sache nicht. Vielmehr kann sie mittels Sprache Bilder und Stimmungen erschaffen, meisterhaft bewegt sie sich dabei auf mehreren Zeit­ebenen, lässt ihre Figuren mehr in Erinnerungen versinken als handeln.

Mit ihrem zweiten Buch „Zázemí“ („Zuflucht“) schuf sie eine Art Tagebuch, das sie ihrer Großmutter gewidmet hat. Eigentlich wollte sie die Geschichte ihrer Großmutter als Roman verarbeiten. Doch welche Mutter mit kleinen Kindern kann kontinuierlich an einem Text weben? Aus den sporadischen Momenten, in denen sie frei hatte, um arbeiten zu können, sind Momentaufnahmen entstanden, die Erfahrungen, Erinnerungen, Wünsche, Stimmungen widerspiegeln. Jede für sich ergeben sie zusammen ein Ganzes, das davon handelt, wie es ist, ein Buch zu schreiben. Ein Experiment. Künftig aber will die junge Autorin wieder eine andere Form des Schreibens finden. Jana Šrámková sucht nicht nach einem eigenen Stil, immer gleich, so wie ihre Leser es von ihr erwarten würden. Sie will sich nicht wiederholen. „Für mich ist das Schreiben eine Forschungsarbeit. Es ist meine Suche nach einer immer neuen Form, etwas auszudrücken, was ich in mir trage“, sagt sie.

Lesen in jeder freien Minute
In ihrem Kinderbuch „Putování žabáka Filemona“ („Frosch Filemon auf Wanderschaft“) erzählt die Autorin ein Abenteuer, das glücklich machen will. Anders als in ihren Büchern für Erwachsene spielt sie in diesem Text mit einer spannenden Handlung und vielen Dialogen. Derzeit arbeitet sie an zwei weiteren Kinderbüchern, die noch dieses Jahr erscheinen sollen. Die Geschichten entwickelt sie gemeinsam mit zwei Grafikern, die den Ton angeben sollen. „Was wolltet ihr schon immer illustrieren und keiner hat es für euch geschrieben?“, hat Jana Šrámková sie gefragt.

Noch ein Blick aufs Handy, der Kindergarten meldet sich nicht, also kann die Mutter getrost zur Theaterprobe aufbrechen. Ein letzter Schluck Tee. Sie packt ihr Buch ein, das sie nicht etwa zum Vergnügen liest. Als Mitglied der Jury, die über den diesjährigen Träger des renommierten Magnesia-Litera-Preises entscheidet, ist sie nun dabei, etwa 70 Prosawerke zu lesen, die in Tschechien letztes Jahr erschienen sind. Sie liest in jeder freien Minute, vor allem am Abend, nachdem die Kinder eingeschlafen sind.