Herzliche Grüße an „Tinterl“

Herzliche Grüße an „Tinterl“

Egon Erwin Kisch wurde vor 130 Jahren geboren – und erhielt zum 50. Geburtstag eine „Laudatio“ seines Erzfeindes Emil Faktor 

22. 4. 2015 - Text: Klaus HanischText: Klaus Hanisch; Bild: Rudolf Schlichter: Bildnis des Schriftstellers Egon Erwin Kisch (1927/28), © Viola Roehr v. Alvensleben, München / Städtische Kunsthalle Mannheim

Zur Feier des Tages platzt Emil Faktor endgültig der Kragen. „Der Jubilar hat einen Groll auf mich. So was läßt man austoben, auch wenn man es für einen Theaterzorn hält“, schreibt er am 30. April 1935 im „Prager Mittag“. Doch Faktor bleibt gelassen: „Es gibt ärgerlichere Dinge.“

Der Jubilar ist Egon Erwin Kisch. Er wurde am 29. April 1885 geboren, also vor genau 130 Jahren. Als er 1935 seinen 50. Geburtstag feierte, stimmten vor allem sozialistische Autoren überschwängliche Hymnen auf den „Genossen Kisch“ an. Dies lässt sich in einer Sammlung nachlesen, die ein DDR-Verlag 1985 – zu Kischs 100. Geburtstag – herausgab.

Nur einer fiel 1935 gänzlich aus der Reihe: Emil Faktor. Schon dadurch, dass seine Zeilen pikanterweise erst einen Tag nach dem runden Ehrentag erschienen. Denn am 29. April nutzte Faktor die Spalten auf Seite 2 ganz unten im „Mittag“ lieber für die Besprechung einer Neuinszenierung von „Falstaff“ im Neuen Deutschen Theater. Einen Tag später fiel seine „Würdigung“ von Kisch dann völlig anders aus als üblich. Dass von ihm keine Lobhudelei zu erwarten war, verriet der Autor schon mit seiner ausgesprochen nüchternen Überschrift: „Gespräche und Konflikte mit Egon Erwin Kisch“.

„Weshalb soll man zur Feier eines fünfzigsten Geburtstages scheinheilig die Augen verdrehen“, fragt Faktor anfangs wenig schmeichelhaft und rein rhetorisch. In seinen weiteren Ausführungen bringt er den jahrelangen Streit zweier Intellektueller auf den Punkt, die sich in ihrem Leben oft über den Weg liefen, aber weder in Prag noch in ihrer zweiten Heimat Berlin zueinander finden konnten.

Rasender Reporter
Der eine hatte den genialen Einfall, sich selbst einen „rasenden Reporter“ zu nennen, und besonders deshalb ist Egon Erwin Kisch bis heute ein Begriff. Der andere achtete weitaus weniger auf sich und sein späteres Image, und deshalb ist Emil Faktor heute nur noch wenigen Fachleuten bekannt. Dabei übten beide den gleichen Beruf aus und konnten auf eine ähnliche Vita verweisen. „Sie gehörten zur Blüte der deutschen Literatur Prags“, befand der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann. Zwei – „Kafka und Rilke, vielleicht noch Werfel“ – zählte er zur Weltliteratur, doch daneben gab es für ihn eine Reihe weiterer bedeutender Autoren. Unter anderem Egon Erwin Kisch und Emil Faktor.

Beide wurden in Prag geboren, Faktor im August 1876 als Sohn eines Landjuden und Kisch im April 1885 als Kind eines jüdischen Tuchhändlers. Und sie schlugen eine journalistische Laufbahn ein. Deshalb trafen sie sich schon vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßig in der böhmischen Metropole.

„Meine erste Begegnung mit E.E. Kisch spielte sich vor mehr als dreißig Jahren mitten in der Nacht, in der Nähe seines auch als Baudenkmal berühmten Vaterhauses ab“, erinnert sich Faktor in seinem Artikel von 1935. Und sofort findet er wieder einen Kritikpunkt am Geburtstagskind: „Wenige Tage vorher hatte ich eine kurze, den Autor keineswegs befriedigende Anzeige seines ersten Buches (eines Bändchens Lyrik) veröffentlicht.“ Damit meint er Kischs Band „Vom Blütenzweig der Jugend“, den Faktor im Oktober 1904 in der „Bohemia“ als „Abiturientenreflexionen“ abtat. Von dessen Autor, dem er lediglich satirisches Talent konzedierte, erhoffte sich Faktor für die Zukunft „eine nicht gerade tiefe“, aber doch zumindest „witzig-kecke Weise vom Leben und Lieben“.

Zwar schrieb Kisch danach nie mehr Gedichte und wurde stattdessen ein viel gelesener Zeitungsreporter und auflagenstarker Buchautor. Bei Faktor blieb er nach Meinung seines Biographen Klaus Täubert jedoch für alle Zeiten „festgelegt auf diese erste, hoffnungslos verkitschte Jugendsünde“ – der Grundstein für eine lebenslange Feindschaft.
Tatsächlich bemerkt Faktor in seinem Geburtstagsartikel Jahre später durchaus zufrieden, dass der Autor „diesen Erstling selber zurückgezogen“ hatte. Trotzdem habe ihm Kisch wegen seiner Kritik damals keine Vorwürfe gemacht. „Er begnügte sich mit Andeutungen über unser bißchen Generationsunterschied“, mokiert sich Faktor. Zwar erkennt auch er, dass ihre Persönlichkeiten verschieden sind. Doch Faktors Definition gereicht Kisch wiederum nicht zur Ehre. „Aus seinen Worten, mit denen er mir solche Dinge erzählte, sprach die Bitterkeit einer zum Leiden entschlossenen Jugend“, urteilt Faktor hart, „wir anderen, ein wenig älteren, sehnten uns damals mehr nach dem freudigen Ereignis. Also doch Generationsunterschied.“ Das saß!

Schlechtes Zeugnis
Beide Journalisten arbeiteten für die „Bohemia“, schon 1828 gegründet und damit die älteste deutschsprachige Zeitung Prags mit einer ausgeprägt deutsch-nationalen Gesinnung. „Aufgrund ihrer Richtung räumte sie dem Feuilleton immer einen besonderen Rang“ ein, wie Walter Schmitz und Ludger Udolph in ihrem Buch „Tripolis Praga“ bemerkten.
Dieses Feuilleton prägte Emil Faktor wesentlich mit, nachdem er um 1900 in die Redaktion eingetreten war. Er rezensierte Vorstellungen im Prager Deutschen Volkstheater, schrieb Essays über die Kunst und verfasste selbst zwei Theaterstücke sowie, unterstützt vom großen Rainer Maria Rilke, mehrere Lyrikbände.

Auch Kisch stand das Feuilleton der „Bohemia“ „schon früh offen“, so Schmitz und Udolph, nachdem er zuvor ein paar Wochen lang beim liberalen „Prager Tagblatt“ volontiert hatte und ab 1906 „zunächst als Lokalreporter der ‚Bohemia‘ populär“ geworden war. Doch die Zusammenarbeit der journalistischen Alpha-Tiere verlief alles andere als reibungslos. „Es gab Zusammenstöße, wenn ich, für die Rubrik verantwortlich, nicht jede Zeile, nicht jedes Wort meines neuen Mitarbeiters E.E. Kisch drucken wollte“, notiert Faktor in seinem Geburtstagsschreiben.

Er sieht sich nach wie vor im Recht. „Der Anfänger Kisch war in der Form viel unentwickelter als andere Anfänger“, stellt Emil Faktor dem späteren Star-Reporter ein unverhohlen schlechtes Zeugnis aus. Obwohl Kisch doch „vor Ehrgeiz brannte.“ Und er drischt weiter auf den Jubilar ein: „Phantasie zählt nicht zu den Grundelementen seiner Darstellungskunst.“ Deshalb würden sich Epik oder Drama bei ihm „trotz interessanter Ansätze nicht zu Ende formen.“ Darauf erneut eine „faktorierte“ Folgerung: „Das mag in seinem Bewusstsein ein empfindlicher Punkt sein.“

Vor Jahren habe er eine Zuschrift des „Theaterdichters E.E. Kisch“ erhalten, in der sich dieser über mangelndes Interesse deutscher Bühnen „für ein allererstes Talent“ beschwerte. Dieses Schreiben hielt er „für einen scherzhaften Ausbruch der Selbstironie“, erinnert sich Emil Faktor trocken. „Das hat er mir nicht verziehen.“

„Doktor Dykschy“
Egon Erwin Kisch revanchierte sich auf seine Weise. Obwohl sich Faktor als führender Theaterkritiker Prags etablierte, nannte ihn Volontär Kisch immer nur „Doktor Dykschy“. Auf Deutsch: Dickschiss.

Dessen Arbeit kommentierte er mit den von Faktor einst erwünschten bissig-satirischen Anmerkungen. So habe Faktor seine Meinungsfreiheit vor allem durch „schärfsten Tadel der Vorstellungen“ nachweisen wollen, wie sich Kisch amüsierte. Zudem lasse er in seinen Literaturkritiken Kunst „nur das Übersprudelnd-Launische, das Traumhaft-Zerfließende, das Ungebunden-Absurde, das Sprunghaft-Unlogische oder das Irrational-Mystische“ gelten, so Kisch später in seinem Buch „Marktplatz der Sensationen“. Und völlig unverständlich sei ihm die Arbeit eines Reporters geblieben. „Doktor Dykschy fand das verächtlich, was meines Amtes war“, lästerte Kisch.

Auf Vermittlung des berühmten Kritikers Alfred Kerr ging Emil Faktor im August 1908 als „großer Redakteur“ nach Berlin, wie Max Brod in seinem Erinnerungsbuch „Der Prager Kreis“ befand. Dort machte er weiter Karriere, schloss sich im Oktober 1912 dem „Berliner Börsen-Courier“ an und amtierte ab 1917 als dessen Chefredakteur. In den folgenden Jahrzehnten wurde Faktor „zu einem der führenden Zeitungsmacher der Republik“, analysierte Wilhelm von Sternburg in seiner Biographie über Joseph Roth, der ebenfalls für den „Courier“ schrieb. Dabei sei Faktor kein einfacher Mann gewesen, jähzornig und autoritär und in seinen Rezensionen überaus subjektiv. Doch habe er seine Zeitung zu einer der größten unter den 127 Tages- und Wochenzeitungen in Berlin gemacht, so von Sternburg.

Auch Kisch siedelte im Juni 1913 nach Berlin über. In der Weltstadt blieben die beiden Prager Journalisten ihrer Feindschaft eisern treu. „Ein Abschreiber der Wirklichkeit mag auf dem Marktplatz der Tagesnachrichten handeln, hier hat er nichts zu suchen“, empfing ihn Faktor betont unfreundlich.

Nachdem Kisch ihn auch in Berlin konsequent als „Doktor Dykschy“ bezeichnete, konterte sein Rivale mit dem Ausdruck „Provinztinterl“. Für Kisch war Faktor wiederum nichts anderes als ein „Schleppenträger“ des großen Kerr.
Trotz aller Anfeindungen muss es jedoch eine gewisse Wertschätzung gegeben haben – und zwar gegenseitig. „Faktor druckte Kischs Reportagen gelegentlich und bespricht lobend seinen Erstlingsroman ,Der Mädchenhirt‘“, führte Biograph Täubert aus. Auch wenn er darin einmal mehr dessen „künstlerische Mittel anzweifelte“ und seinen „Ton journalistischer Berichterstattung“ rügte.

Umgekehrt hielt der Wiener Germanist Marcus G. Patka in seiner akribischen Kisch-Biographie über die Theatervorstellungen des Werks „Die Himmelfahrt der Galgentoni“ fest: „Unter den noch von Kisch selbst gesammelten und im Nachlaß erhaltenen Rezensionen finden sich zumindest zwei von Emil Faktor.“ Als eine Aufführung dieses Stückes in Wien der Zensur zum Opfer fiel, verwies Kisch in einem Zeitungsinterview auf angeblich ausverkaufte Häuser in Prag und Berlin und auf tolle Kritiken. Dabei nannte er gegenüber dem Interviewer doch einmal den Rezensenten Emil Faktor mit richtigem Namen.

Deutliche Sprache
Faktor musste 1931 den „Courier“ nach fast 20 Jahren wegen Differenzen mit den Herausgebern verlassen und kehrte im Herbst 1933 nach Prag zurück. Dort schrieb er ab August 1934 für den „Prager Mittag“, der von Emigranten aus Deutschland wie ein Boulevardblatt mit vier Seiten täglich gestaltet wurde und öfter für Schlagzeilen sorgte.
Denn die Autoren, die nach der Einstellung des Blattes im Oktober 1938 erneut fliehen mussten, sahen politische Entwicklungen schon über Jahre voraus. Dies geht aus den alten Bänden klar hervor, die in einer Außenstelle der Nationalbibliothek im Prager Stadtteil Hostivař gelagert werden. Und sie bevorzugten eine sehr deutliche Sprache. Auch im Feuilleton – wie Emil Faktors Worte über Kisch verraten.

Für all seine Kritik und Anschuldigungen leiste er „auch jetzt noch nicht Abbitte“, schreibt Faktor am Ende seines Geburtstagsbeitrages. Dann schlägt er doch noch etwas leisere Töne an: „Bei E.E. Kisch gleichen sich künstlerischer Willen, Gesinnung, Sensationslust und Witz mit der geistigen Größe hundertprozentig auf Originalität aus.“
Doch auch diese Erkenntnis konnte den Jubilar – erwartungsgemäß – nicht versöhnen. Faktors Erläuterungen im Jahre 1935 steckten noch „voller persönlicher Dissonanzen aus dem Prag von 1906“, schrieb sein Biograph Täubert später. Daher empfand Kisch selbst den Artikel von Faktor als ein „blödes Feuilleton“.