Geometrie der Gitter

Geometrie  der Gitter

Eine neue Publikation würdigt die Rolle des Underground-Künstlers Ivan Martin Jirous

17. 7. 2013 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: čtk

Als in der „normalisierten“ Tschechoslowakei der siebziger und achtziger Jahre der ideologische Druck zugenommen hatte, um den Betriebsunfall des „Prager Frühlings“ vergessen zu machen, gerieten nicht nur Schriftsteller, Philosophen und Künstler unter Druck. Auch die nicht-konforme Musikszene rückte bald ins Visier der Tugendwächter der kommunistischen Partei. Rockmusik und Jazz bargen geradezu naturgemäß nicht-kanalisierbare künstlerische Ausdrucksmittel. Besonders populär waren in jenen Jahren Experimente mit psychedelischer Musik und bald schon tauchte der Name Ivan Martin Jirous in dieser Szene des Underground auf.

Unermüdlicher Organisator
Ivan Martin Jirous (1944–2011) stellte in seiner Person eine Art Gesamtkunstwerk dar. Als studierter Kunsthistoriker inspirierte er Ende der sechziger Jahre die tschechische Rockgruppe „Plastic People oft the Universe“, leitete deren künstlerische Konzeption und war als unermüdlicher Organisator tätig. Ohne jeden Zweifel gab Jirous in dieser Rolle den Bürgerschreck, gerade auf der Bühne scheute er vor keiner Provokation zurück. Sehr bald auch war sich Jirous darüber im Klaren, dass er für seine Haltung teuer wird bezahlen müssen. Zwischen 1968 und 1989 verbrachte er nahezu neun Jahre in tschechischen Gefängnissen, manche davon unter erschwerten politischen Bedingungen.

Der vorliegende großformatige Band schließt eine längst überfällige Lücke. Es spricht für die Aufmerksamkeit der Herausgeber, dass sie Format und Aufmachung eng an das Layout der seinerzeit im Untergrund erscheinenden Samisdat-Zeitschrift „Vokno“(„Im Fenster“) anlehnen, die von Jirous mitinitiiert und herausgegeben wurde. Durch zahlreiche Fotos aber auch Briefe, Textauszüge sowie einer ansehnlichen Auswahl aus seinen umfangreichen Gedichtveröffentlichungen entsteht das Porträt eines lebenslustigen, widersprüchlichen und vor allem unbeugsamen Künstlers. Wer nur den pöbelnden „Magor“, den „Spinner“, wie er von seinen Freunden und Bewunderern genannt wurde, vor Augen hat, lernt in Jirous’ Briefen aus dem Gefängnis auch einen ungewöhnlich sensiblen Menschen kennen. An einer Stelle richtet der Vater von zwei kleinen Töchtern seiner Frau Juliánka eine Bitte aus: „Liebes, wenn Du es schaffst, dass unsere Mädchen nicht aufhören zu lächeln, dann ist das das Höchste, alles andere ist mir egal“.

Zahlreiche seiner Gedichte, die erst nach dem Ende des „realen Sozialismus“ in seiner Heimat erscheinen konnten, sind von den Jahren im Gefängnis geprägt: „Ihr Luderchen Kunsthistoriker, / ich werd mit Euch schon gleich! / Die Geometrie der Gitter / erforsche ich fleißig jahrelang“.

Bemerkenswert ist auch eine tiefe christliche Religiosität, deren sich Jirous nicht schämt. Einige Jahre nach der Samtenen Revolution sinniert er in einem Gedicht: „Fort die rosa Gallwespen flogen / die Schalen der Schnecken leer / mit Silber der Fluss begossen / Was hast Du vor mit uns Herr?“

In einem einleitenden Teil werden Erinnerungen an Jirous von befreundeten Künstlern und Schriftstellern wie unter anderem Václav Havel, Eugen Brikcius, Paul Wilson oder Tom Stoppard wiedergegeben. Ein sowohl analytischer wie auch dokumentarischer Teil mit Einschätzungen der Staatspolizei schließt diesen aufschlussreichen Band ab. Martin Machovec, einer der führenden Experten des tschechoslowakischen Underground, stellt in seinem Beitrag „Das Jahr 1968 und die tschechische Underground-Kultur“ einen bezeichnenden Zusammenhang her.

Vorhut der Charta 77
Die vor allem im Reformjahr 1968 erreichten kulturellen wie politischen Öffnungen waren auch nach der bewaffneten Invasion vom 21. August 1968 vor allem in den Köpfen nicht mehr rückgängig zu machen. Jirous sprach bewusst vom „Establishment“, wenn er die angepassten Funktionsträger eines spießigen Sozialismus’ aufs Korn nahm. Er politisierte die jungen Musiker des böhmischen Underground, indem er ihre kreative Entfaltung dem kritiklosen Mitmarschieren in einem sozialistischen Einheitstakt diametral entgegensetzte. Als den „Plastic People of the Universe“ 1976 unter anderem wegen ihres vulgären Sprachgebrauchs der Prozess gemacht werden sollte, bildete sich erstmals eine Formation von Kritikern, die sich in dem Verfahren weniger für die kulturelle Form kritischer Rockmusik einsetzten, als vielmehr eine elementare Bedrohung der künstlerischen Freiheit und des Prinzips autonomer Urteilskraft befürchteten. Eine Art Vorhut der Charta 77 war in dieser nicht ungefährlichen Wortmeldung von Persönlichkeiten wie Ivan Klíma, Ludvík Vaculík, Pavel Kohout, Václav Havel, Jaroslav Seifert, Václav Černý aber auch eines Philosophen wie Jan Patočka geboren.

Diese Zeiten, in denen unangepasstes Aufbegehren mit Haftstrafen, Schikanen und Berufsverboten belegt waren, sind zum Glück vorbei. Das heutige Tschechien indes scheint von Unaufrichtigkeit und Zynismus imprägniert zu sein und je genauer man sich die Verhältnisse der „Normalisierung“ in der Husák-Ära ansieht, desto weniger wundert man sich darüber.

Ivan Martin Jirous bleibt mit seinem unnachgiebigen Beharren auf eine freie Kunst eine höchst aktuelle Figur. Seine Rolle als Provokateur hat in keiner Weise ausgedient.

Abbé Libansky/Barbara Zeidler (Hsg.): „Ivan Martin Jirous – Leben, Werk, Zeit“. Braumüller Verlag, Wien 2013, 320 Seiten, 28,90 Euro, ISBN 978-3-99200-095-1