Farbchaos in der Fabrik

Farbchaos in der Fabrik

In Vršovice haben Künstler eine ehemalige Schokoladenfabrik erobert. Das Kollektiv „Petrohradská“ steht allen offen

10. 8. 2016 - Text: Milena Fritzsche, Fotos: Petrohradská kolektiv

Wer meint, Künstler findet man in Vršovice nur im Kneipenviertel rund um die Krymská-Straße, täuscht sich. Gut einen Kilometer in Richtung Ďolíček-Stadion – einer Gegend, in der die Fassaden nicht so schön verziert und die Häuser oft noch nicht einmal saniert sind – befindet sich das Künstlerkollektiv „Petro­hradská“. Hier öffnet jeden Donnerstag eine neue Ausstellung. Diesmal ist es die Vernissage von Simona Blahutová, die sich mit dem deutschen Widerstand im 20. Jahrhundert beschäftigt hat und nun das Attentat Claus von Stauffenbergs beleuchtet. Sie fasziniere der Moment, in dem ein Mensch seine Angst überwindet und einen starken Willen und Charakter beweist, sagt Blahutová. Wie Menschen auch in den dunkelsten Momenten in der Lage seien, Widerstand zu leisten. Auch wen das Kunstschaffen im Innenhof nicht interessiert, ist jederzeit willkommen. Fast immer sind hier Querköpfe anzutreffen, die sich zum Diskutieren, Filmeschauen oder zum Tischtennis zusammen­finden. Mit ein bisschen Glück führen sie durch ihre Ateliers und zeigen ihre Arbeiten.

Dass auf dem Gelände ursprünglich eine Fabrik stand, ist nicht zu übersehen. In den zwanziger Jahren wurde hier Schokolade hergestellt. Heute sind in den großen Hallen und langen Gängen Studios untergebracht. „Im Archiv konnten wir Pläne einsehen, auf denen die einzelnen Räume nach den Süßigkeiten benannt waren, die darin hergestellt wurden“, erzählt Daniel Konopáč. Der Fotograf und Werberegisseur gehört zu den Gründern des Kollektivs. „Ein Raum hieß ‚Schoko­ladenbonbons‘, ein anderer war mit ‚Karamellschokolade‘ beschriftet.“ Ab 1935 wurde die Fabrik als Bäckerei genutzt und in den fünfziger Jahren schließlich vom Staat übernommen.

Auch an der Fassade der Fabrik haben die Künstler ihre Spuren hinterlassen.

Neuer Eigentümer ist seit einigen Jahren eine Firma aus der Immobilienbranche. Verwendung für das alte Fabrikgebäude wurde aber nicht gefunden. Zumal eine grundlegende und damit teure Sanierung nötig gewesen wäre. „Für uns natürlich eine perfekte Situation. Wenn sich niemand für die Nutzung findet, werden am Ende immer die Künstler gefragt, ob sie vorüber­gehend die Räume mieten wollen“, sagt Konopáč.

Arbeiten und schlafen
Zusammen mit Edita Štrajtová, ebenfalls Fotografin und Studentin in Prag, habe er schon länger die Idee eines größeren Projekts mit vielen beteiligten Künstlern verfolgt. Doch es habe sich nie die Möglichkeit ergeben. Im Jahr 2014 mussten sie sich entscheiden, ob sie das Fabrikgebäude in der Petrohradská-Straße mieten wollen. Zeit, einen Finanzplan zu entwickeln, blieb nicht. Sie sagten trotzdem zu.

Zu Beginn war vieles improvisiert. Sie mussten etwa lernen, auf die Mietzahlungen der Mitglieder zu bestehen. Insgesamt 50 überwiegend tschechische, aber auch internationale Künstler haben hier ihr Atelier. Darin bauen sie Installationen, drehen Videos, modellieren Skulpturen oder gestalten Bilder. Bewerben können sich die Künstler mit einem Portfolio. Die Warteliste sei jedoch lang. Denn für monatlich 2.000 bis 4.000 Kronen (etwa zwischen 70 und 150 Euro) Miete sei ein Studio recht günstig zu haben.

Wer will, kann den Künstlern auch mal über die Schulter schauen.

Die Organisation des Kollektivs übernehmen sie inzwischen zu dritt. In den vergangenen Monaten kam Veronika Gabrielová dazu, die zuvor bereits ein Studio im Haus gemietet hatte. Sie zeigt gerne ihr Atelier, in dem kreatives Chaos herrscht. An den Wänden lehnen Gemälde; Stifte, Pinsel und andere Utensilien sind auf dem Boden verstreut. Eine offene Tür führt zu ihrem kleinen Schlafzimmer. Die meisten arbeiten nicht nur in der Petrohradská-Straße, sondern haben in den Räumen auch ihr Zuhause gefunden. „Am Anfang hatte ich noch eine Wohnung, aber die halbe Stunde täglich pendeln war zu viel“, sagt Konopáč. Auch Gabrielová genieße es, dass die Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben fließend sind. Die Gemeinschaft gefalle ihr sehr gut, man bekomme viel Unterstützung. Die ist wichtig, „weil man es in Tschechien als Künstler sehr schwer hat. Es gibt kaum Investoren, die zeitgenössische Kunst fördern wollen und Werke kaufen. Das Geld ist knapp“, so Gabrielová.

„Alle haben gesagt, dass es nicht funktionieren könnte und waren dann doch überrascht“, blickt Konopáč auf die Anfänge zurück. Es sei gelungen, eine Plattform für Kreative zu schaffen. Ein Ort, an dem sich junge Künstler und Studenten der Kunsthochschule ausprobieren und austauschen könnten. Der Mietvertrag werde demnächst auch über 2017 hinaus verlängert. Doch irgendwann wird die ehemalige Fabrik wohl abgerissen werden. „In der Zwischenzeit können wir hier etwas bewegen und diesen entstandenen Freiraum kreativ nutzen. Das ist, was Künstler machen“, betont Konopáč.

Was bringt die Zukunft – Abriss oder Sanierung?

Die meisten Besucher wüssten die Atmosphäre und die Kreativität zu schätzen. Die Nachbarschaft sei dagegen gespalten, sagt Konopáč. Neulich habe ihn eine jedoch etwa 75-jährige Frau angesprochen und gefragt, ob er zur Galerie gehörte. „Dann erzählte sie mir, dass es eine Versammlung im Nachbarhaus gegeben habe, um über das Kollektiv zu sprechen. Sie hätten sich schnell geeinigt, dass sie sich über unsere Aktivitäten freuen. Und die Frau hofft, dass wir so lange wie möglich hier bleiben können.“

Petrohradská kolektiv (Petrohradská 13, Prag 10), geöffnet: Mo.-Sa. 10 bis 22 Uhr, www.petrohradskakolektiv.com

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