„Es liegt uns, Außenseiter zu sein“

„Es liegt uns, Außenseiter zu sein“

Tschechiens Ex-Kapitän Miroslav Kadlec blickt auf die Europameisterschaft in Frankreich – und erinnert sich an das Finale 1996 gegen Deutschland

8. 6. 2016 - Text: Klaus HanischInterview: Klaus Hanisch; Fotos: ČTK/Michal Doležal und David Sedlecký/CC BY-SA 4.0

Miroslav Kadlec erlebte vor 20 Jahren in einem Sommer mehr als manche Fußballprofis in ihrer gesamten Karriere. Mit dem 1. FC Kaiserslautern stieg er aus der Bundesliga ab und gewann nur eine Woche später den DFB-Pokal. Danach erreichte er mit der tschechischen Nationalelf überraschend das Finale der Europameisterschaft und verlor gegen Deutschland erst in der Verlängerung mit 1:2. Kadlec war damals Kapitän der tschechischen Mannschaft. Mittlerweile ist der 51-Jährige Spielerberater für eine Prager Agentur. Bei der EM, die am Freitag in Frankreich beginnt, sieht der langjährige Nationalspieler Deutschland wieder in der Favoritenrolle, seine Landsleute dagegen als Außenseiter, wie er im Gespräch mit PZ-Reporter Klaus Hanisch erklärt.

Welche Ihrer Schützlinge sind bei der EM in Frankreich dabei?

Petr Čech, die beiden Bundesligaspieler Pavel Kadeřábek und Theo Gebre Selassie, mein Sohn Michal, zudem Jiří Skalák, der für Brighton & Hove Albion spielt, und David Pavelka von Kasımpaşa Istanbul. Und Spieler aus der tschechischen Liga. Wir haben viel zu tun, wollen viel beobachten und hoffen, dass wir auch nach der EM ein bisschen Arbeit haben …

Sie hoffen, dass Sie Spieler weitervermitteln können.

Genau. Dass der eine oder andere Spieler für ausländische Klubs interessant wird. Ich werde ein paar Tage vor Ort sein und in Saint-Étienne das Spiel Tschechien gegen Kroatien sehen.

Die Tschechen schalteten in der Qualifikation die Niederlande aus, kassierten aber die meisten Gegentore aller EM-Teilnehmer – trotz ihres Weltklasse­tor­hüters Petr Čech. Ist die offensive Spielweise ein Handicap in einer starken Gruppe mit Spanien, Kroatien und der Türkei?

Wir sind auf keinen Fall Favorit in dieser Gruppe. Dass wir Außenseiter sind, ist für uns jedoch ein Vorteil. Es entspricht unserer Mentalität. Wir können nur überraschen. Und es wäre keine Schande, wenn wir diesmal schon in der Vorrunde ausscheiden sollten – nicht einmal ein Misserfolg, denn die Gruppe ist wirklich schwer.

Tschechien kann auf den 35-jährigen Tomáš Rosický, einst in Dortmund und heute bei Arsenal London, offenbar noch immer nicht verzichten. Setzt Nationaltrainer Pavel Vrba zu wenig auf junge Spieler, etwa aus der U21, die im vergangenen Jahr bei der EM im eigenen Land durchaus gefallen hat?

Jeder Trainer hat seine eigene Philosophie. Vrba hat viel verändert und nach langer Zeit wieder mehr Spieler aus der tschechischen Liga eingeladen. Früher waren vor allem tschechische Spieler in ausländischen Klubs die entscheidenden Bausteine der Nationalelf. Natürlich wünsche ich mir, dass er mehr junge Spieler einbezieht. Aber das hängt auch von der Qualität dieser Spieler ab. Wir haben nicht so viele hochwertige junge Fußballer wie etwa Deutschland.

Viele Experten tippen darauf, dass der Weltmeister von 2014 auch Europameister wird. Ist Deutschland für Sie der Favorit?

Deutschland gehört ganz klar zu den Top-Favoriten, wie bei jedem großen Turnier. Die Mannschaft hat schon oft bewiesen, dass sie mindestens bis ins Halbfinale kommen kann, gerade in den letzten Jahren. Es ist außerdem bekannt, dass Deutschland eine ausgesprochene Turniermannschaft ist. Sie kann sich wie nur wenige während eines Turniers noch steigern.

Das EM-Finale 1996 zwischen Tschechien und Deutschland wurde durch ein Golden Goal entschieden. Das Tor zum 2:1 durch Oliver Bierhoff in der Verlängerung beendete das Spiel. Stimmt es, dass Golden Goal für Sie seitdem ein Schimpfwort ist?

Ja. Wenn man so knapp vor einem EM-Titel steht, ist das auch im Nachhinein nicht schön. Aber wir haben in guter Erinnerung, dass wir als krasser Außenseiter überhaupt ins Finale gekommen sind. Das war für uns praktisch wie ein Europameistertitel. Und wir wissen, dass wir im Finale nicht schlecht gespielt und durch zwei kleine Fehler unseres Torwarts verloren haben. Das ist auf der einen Seite traurig, auf der anderen aber bis heute auch der größte Erfolg in der jungen tschechischen Fußballgeschichte.

Hat die Mannschaft Petr Kouba damals Vorwürfe gemacht, weil ihm der entscheidende Schuss von Bierhoff durch die Hände glitt?

Nach dem Endspiel waren wir natürlich traurig und enttäuscht, aber wir haben niemandem die Schuld an der Niederlage gegeben. Man hätte die Fehler sowieso nicht rückgängig machen können. Wir waren froh, dass wir überhaupt ins Finale gekommen waren.

Oliver Bierhoff sagt heute, dass Deutschland Glück hatte. Tschechien führte schon 1:0 durch ein Tor von Patrik Berger. Hätte die Elf gewonnen, wenn die Verlängerung zu Ende gespielt worden wäre?

Hätten wir die Verlängerung überstanden und wäre es zum Elfmeterschießen gekommen, hätten wir gewonnen. Das ist eine Spezialdisziplin der Tschechen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einmal ein Elfmeterschießen verloren haben. Auch 1996 hatten wir sehr gute Schützen, die in ihren Vereinen die Elfmeter nur so reingehauen haben. Schon das Halbfinale gegen Frankreich gewannen wir ja im Elfmeterschießen (Kadlec selbst verwandelte den entscheidenden Elfmeter zum 6:5-Sieg, Anm. d. Red.).

Sie waren damals Spielführer. Was zeichnete das Team aus?

Wir hatten eine gute Mischung aus erfahrenen Spielern aus ausländischen Ligen und jungen, die noch was erreichen wollten. Zum Beispiel Patrik Berger, Pavel Nedvěd, Karel Poborský und Vladimír Šmicer waren hungrig und sehr talentiert. Natürlich hatten wir 1996 auch Glück, etwa im letzten Gruppenspiel gegen Russland, als wir fünf Minuten vor Schluss den Ausgleich zum 3:3 schafften. Aber Glück gehört zum Erfolg.

Die EM 1996 war der Beginn einer Goldenen Generation, doch die tschechische Elf erreichte danach nie mehr ein Finale. Können Sie sich das erklären?

Die Spieler von 1996 waren vor allem bei der EM 2004 in Portugal Weltklasse. Tschechien lag zu jener Zeit auf Rang zwei oder drei der Fifa-Rangliste. Daher war es eine riesige Enttäuschung, dass wir bei dieser EM das Halbfinale gegen Griechenland verloren. Wir haben damals den besten Fußball seit langem gespielt. Jetzt muss man feststellen, dass nicht mehr so viele Talente nachkommen. Es gibt immer wieder welche, aber nicht mehr in der Zahl wie früher. Wir sind in dieser Hinsicht wirklich ein kleines Land und haben nicht das Potenzial an Nachwuchsspielern, die freie Plätze einfach übernehmen. Und wir haben auch nicht das Geld wie andere, um sie zu fördern.

Kadlec ist heute Spielerberater.

Die Spieler des EM-Kaders von 1996 treffen sich heute noch regelmäßig. Auch Ihre Tochter soll dabei eine Rolle spielen.

Wir treffen uns mindestens drei bis fünf Mal im Jahr und haben gerade auf Bali ein Spiel absolviert. Am 3. Juli gibt es schon wieder eines für einen guten Zweck. Außerdem zwei, drei Golfturniere im Jahr. Meine Tochter hilft mit ihren Sprach- und Computerkenntnissen bei der Organisation und Vorbereitung, die in den Händen von Pavel Kuka liegt.

Wie Tschechien bei der EM 1996 hatte auch Kaiserslautern in der Bundesliga in den neunziger Jahren keiner auf der Rechnung, doch die Mannschaft wurde zweimal Meister und Pokal­sieger. Lag es Ihnen persönlich, eher Außenseiter als Favorit zu sein?

Auf jeden Fall. Mir hat es immer gefallen, für eine Überraschung gut zu sein. Kaiserslautern in den neunziger Jahren war jedoch eine einmalige Sache, die nur schwer zu wiederholen ist. Meisterschaft, Pokal, Supercup – dafür brauchte man starke Persönlichkeiten, die eine starke Mannschaft bildeten.

Erst der Bundesliga-Abstieg 1996, aber sofort danach der Pokalsieg für Kaiserslautern. Erst eine Niederlage im Gruppenspiel gegen Deutschland bei der EM, dann aber eine enorme Steigerung bis ins Finale für die tschechische Elf: Waren beide Mannschaften vergleichbar?

Ich denke, das kann man nicht vergleichen. Mentalität und Mannschaftsteile waren ganz anders. Ähnlich war nur, dass sich beide gesteigert haben: Erst eine Niederlage, dann zunehmender Erfolg. In Kaiserslautern ist die Mannschaft nach dem Abstieg zusammengeblieben und hat sich geschworen, sofort den Wiederaufstieg zu schaffen. Wir waren in der Saison 1995/96 keine schlechte Mannschaft, hatten aber einen Trainerwechsel, der Umstellungen und damit Probleme brachte. Trotzdem hatten wir die letzten Spiele vor dem Abstieg nicht mehr verloren. Doch es war schon einmalig, dass auch wir Nationalspieler mit in die zweite Bundesliga gingen und den Verein nicht verlassen haben. Im Nachhinein war der Abstieg ein Glücksfall, denn sonst hätte sich nicht viel geändert. Wir wären im nächsten Jahr irgendwo im Mittelfeld der Tabelle gestrandet und 1998 keines­falls Meister geworden.

Sie spielten schon bei der WM 1990 gegen Deutschland und verloren im Viertelfinale nur durch einen Elfmeter von Lothar Matthäus mit 0:1. Trotzdem trat Teamchef Franz Beckenbauer danach in der deutschen Kabine vor Wut gegen einen Plastikeimer mit Eiswürfeln und eine Holztür. Bekamen Sie von dem Lärm etwas mit?

Nein, unsere Kabine lag auf der anderen Seite. Aber ich konnte den Ärger von Beckenbauer verstehen, denn wir hatten gut gespielt. Und die Deutschen hatten am Ende Glück, weil wir nach dem Platzverweis mit zehn Spielern alles nach vorne warfen und zwei gute Chancen zum Ausgleich hatten. Das Viertel­finale war für uns ebenfalls eine einmalige Geschichte, unter die besten Acht bei einer WM kam eine tschechische Mannschaft anschließend nie mehr. Zudem war es die erste Weltmeisterschaft nach der Wende, unsere Fans konnten erstmals nach Italien und überhaupt ins Ausland fahren und uns dort unterstützen. Daher war die WM für alle ein großes Erlebnis und ein toller Erfolg.

Die Tschechoslowakei verlor damals Ľubomír Moravčík nach 70 Minuten durch einen Platzverweis. Hätte es sonst zum Einzug ins Halbfinale gereicht?
Das kann man schwer sagen. Mit elf Mann hätten wir vielleicht anders gespielt als mit zehn. So hatten wir nichts mehr zu verlieren. Oft fallen Tore in den letzten zehn Minuten, wenn einer fehlt und eine Mannschaft drückt, um einen Rückstand wettzu­machen.

Ihr Sohn Michal fühlt sich nach eigener Aussage als halber Deutscher, zumal der SV Alsenborn und Kaiserslautern in den neunziger Jahren seine ersten Fußballklubs waren. Geht es Ihnen ähnlich?

Nein, da gibt es schon wichtige Unterschiede. Natürlich habe ich viele Freunde in Deutschland. Ich mag auch die Mentalität der Deutschen. Und ich fahre sehr gerne dorthin. Aber ich bin dort nicht mehrere Jahre lang in die Schule gegangen wie mein Sohn. Deshalb ist es für ihn was ganz anders.

Bei der EM 1976 bestritten Deutsche und Tschechen (und Slowaken) das Finale, bei der EM 1996 erneut. Jetzt, 20 Jahre später, müsste es rein statistisch wieder soweit sein. Wäre ein Endspiel zwischen Deutschland und Tschechien für Sie ebenso ein Fußballwunder wie die sensationelle Meisterschaft 1998 mit Aufsteiger Kaiserslautern?

Es wäre schon ein kleines Wunder. Wir haben darüber gesprochen, dass uns ein Jahr mit einer „6“ am Ende Erfolg verspricht. Und wir haben auch ein bisschen darüber gelacht. Aber wenn es so kommen sollte, hätte ich auf keinen Fall etwas dagegen.

Meister mit den roten Teufeln
Miroslav Kadlec konnte nicht ahnen, dass ihm acht unvergess­liche Jahre bevorstehen, als er im Anschluss an die WM 1990 beim 1. FC Kaiserslautern anheuerte. Gleich in seiner ersten Saison gewann der damals 26-Jährige mit den Pfälzern die Deutsche Meisterschaft. Fünf Jahre später kamen die „roten Teufel“ in die Hölle: Zum ersten Mal musste der Verein, einst Gründungsmitglied der Bundesliga, absteigen. Doch nur sieben Tage später erwachte die Elf wieder zum Leben und holte den DFB-Pokal. Das war der Beginn eines Fußball-Märchens. Nachdem Trainer Otto Rehhagel den Klub mehrerer WM-Helden von 1954 übernommen hatte, kehrte dieser auf Anhieb in die Bundesliga zurück und gewann 1998 den Meistertitel. Ein Aufsteiger als Deutscher Meister – das gelang nie zuvor und nie mehr danach einem deutschen Verein. Miroslav Kadlec, der 1964 in Uherské Hradiště unweit von Zlín geboren wurde, hatte zuvor für RH Cheb und TJ Vítkovice gespielt. Mit diesem Klub trat er 1986 im Europapokal der Landesmeister an, wurde 1987 tschechoslowakischer Vizemeister und stand 1988 im Pokalfinale. Für Kaiserslautern bestritt der Abwehrspieler 234 Spiele und erzielte 17 Tore. Im Jahr 1998 wechselte er in die oberste tschechische Liga zum Dorfklub FK Drnovice, mit dem er sich 2000 für den Uefa-Cup qualifizierte. Anschließend spielte er noch für den FC Stavo Artikel Brünn, bevor er 2002 seine Laufbahn beendete. Freistoß-Spezialist Kadlec absolvierte für Tschechien beziehungsweise die Tschechoslowakei 64 Länder­spiele, mit den Auswahlteams erreichte er bei der WM 1990 das Viertelfinale und bei der EM 1996 das Endspiel. Auch sein Sohn Michal Kadlec, der von 2008 bis 2013 bei Bayer Leverkusen spielte, ist Nationalspieler. Er steht im aktuellen EM-Kader der Tschechen.   (khan)