Erfolgsstory mit offenem Ende

Erfolgsstory mit offenem Ende

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Tschechien haben sich in den vergangenen 20 Jahren rasant entwickelt. Das könnte so weitergehen – wenn es gelingt, Tschechiens Fachkräfteproblem zu lösen

19. 6. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Heike/pixelio.de

Willy Brandt wusste es schon im Herbst 1989. Die Berliner Mauer war gefallen und der einstige Kanzler sagte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“. Brandt dachte damit in erster Linie an Berlin und Deutschland. Heute jedoch lassen sich diese inzwischen geflügelten Worte im Allgemeinen auf ganz Europa und im Besonderen auch auf die Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik münzen. Auf der europäischen Ebene symbolisiert die Erweiterung von damals 12 auf heute 27 Mitgliedstaaten das Zusammenwachsen. Auf der deutsch-tschechischen Ebene steht auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder für das, was Brandt an jenem 10. November vorausgesagt hatte.

Wer immer sich in den letzten Monaten zu den deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen äußerte, kam an dem Label „Erfolgsstory“ nicht vorbei. Um diese Einordnung zu rechtfertigen, genügt ein Blick auf die Zahlen: Zwischen 1993 und 2012 hat sich das Handels­volumen nahezu versiebenfacht. Dabei sind die tschechischen Ausfuhren nach Deutschland deutlich stärker gestiegen als die Einfuhren, so dass Tschechien seit 1998 einen kontinuierlich steigenden Überschuss im bilateralen Austausch verzeichnet – nach vorläufigen Zahlen für 2012 nun erstmals über 10 Milliarden Euro. Damit behauptet Deutschland weiterhin unangefochten den ersten Platz unter Tschechiens Handelspartnern. Der Handel Tschechiens mit der zweitplatzierten Slowakei erreichte 2012 ein gutes Viertel des Handelsvolumens mit Deutschland.

Die Konkurrenz holt auf
Diese eindrucksvolle Bilanz relativiert sich jedoch etwas, wenn man die Entwicklung des deutschen Anteils am Gesamtaußenhandel Tschechiens betrachtet. 1999 machte der Handel mit Deutschland etwa 38 Prozent aus. Bei den tschechischen Exporten ging sogar 42 Prozent in die Bundesrepublik. Seither haben die anderen Handelspartner etwas aufgeholt. Bis 2007 waren die entsprechenden deutschen Anteile auf knapp 29 Prozent beim Gesamtvolumen und 31 Prozent bei den Ausfuhren gesunken. Das entspricht fast den Ausgangswerten von 1993. Wenn damit die deutsche Ausnahmestellung auch noch lange nicht gefährdet ist, so spiegelt sich in den Zahlen doch eine sehr vorsichtige Hinwendung der tschechischen Wirtschaft zu anderen Märkten wider; seit 2007 sind die Anteile jedoch – von geringfügigen Schwankungen abgesehen –  stabil.

Was freilich aus deutscher Sicht oft übersehen wird: Umgekehrt ist auch Tschechien für Deutschland einer der wichtigsten Handelspartner. Das relativ kleine Land nimmt in Bezug auf das Handelsvolumen den zwölften Rang ein und bewegt sich damit in derselben Größenordnung wie Russland oder Polen – hinter Tschechien liegt Spanien, und erst mit deutlichem Abstand folgen große Volkswirtschaften wie die Türkei, Japan oder Indien.

Tschechien vor Japan
Insgesamt lässt sich sagen: Die deutsche Wirtschaft hat es nach der Wende glänzend verstanden, die Chancen, die sich aus der Umorientierung der ehemaligen sowjetischen Satellitenwirtschaften nach Westen ergaben, für sich zu nutzen. Im Falle Tschechiens wird das besonders deutlich, was sicher nicht nur der unmittelbaren geographischen Nähe zu verdanken ist. Auch hat Deutschland als größter Markt innerhalb der EU und als verlässlicher Partner Tschechiens eine große Anziehungskraft für Prag.

Das zweite Rückgrat der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sind die Direktinvestitionen, zunächst nur aus Deutschland nach Tschechien, inzwischen auch und rasch wachsend in umgekehrter Richtung. Rund 4.000 deutsche Firmen haben bis heute den Schritt nach Tschechien getan, und die allermeisten – 84 Prozent – bereuen diese Entscheidung laut einer Umfrage der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer (DTIHK) nicht.

Zuletzt war das Wachstum der deutschen Investitionen in Tschechien nicht mehr so steil wie zuvor, sie erreichten Ende 2011 aber beachtliche 24 Milliarden Euro, was rund 15 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen in Tschechien ausmacht. Neben den bekannten Namen großer Firmen wie Bosch, Siemens oder Volkswagen sind es vor allem die mittelständischen deutschen Unternehmen, die mit ihren Niederlassungen in Tschechien Beschäftigung sichern, Innovationen bewirken, die Produktivität stärken und zum Exportwachstum beitragen. So hat sich der Anteil von Hochtechnologie-Erzeugnissen am Export seit 1993 verdreifacht – nicht nur, aber auch ein Ergebnis der immer intensiveren Zusammenarbeit mit Deutschland.

Sorgenkinder der Investoren
Fragt man danach, was den deutschen Investoren Sorgen bereitet, so ist traditionell die Rede von geringer Transparenz und Korruption, von Rechtsunsicherheit und von Mängeln in der öffentlichen Verwaltung oder einer unberechenbaren Wirtschaftspolitik. Ein gravierender Engpass für künftige Investitionen zeichnet sich jedoch an anderer Stelle ab: Es fehlt an qualifizierten Fachkräften. Das Hauptproblem liegt in der technischen Berufsausbildung, die von mangelnder Ausrichtung am Bedarf und fehlender Verknüpfung von theoretischer und praktischer Ausbildung gekennzeichnet ist. Die DTIHK legte im Mai 2012 in einem offenen Brief an den nunmehr ehemaligen Regierungschef Petr Nečas den Finger in die Wunde: „Es wird immer schwieriger, qualifiziertes Personal zu finden.“ Der praktische Teil der Ausbildung fände oft ohne den so wichtigen Kontakt mit einem betrieblichen Arbeits- und Leistungsumfeld statt, heißt es in dem offenen Brief weiter.

Sachtes Wetterleuchten
Nečas lud daraufhin die DTIHK zur Mitwirkung in einer Arbeitsgruppe des Schulministeriums ein. Die Arbeitsgruppe entwickelte das Projekt „Pospolu“ zur Förderung der Kooperation von Firmen und Schulen, für das sogar europäische Förderung bewilligt wurde. Ab September sollen 25 Pilotprojekte in allen Regionen Tschechiens Fachausbildung und Fachpraxis in technischen Berufen voranbringen. Aber diese Testreihen und deren Auswertung und Übertragung in dauerhafte Modelle beanspruchen Zeit, so dass mit Änderungen nicht vor 2015 zu rechnen ist. Bis die Qualitätsverbesserung bei den Absolventen spürbar wird und in den Betrieben ankommt, vergehen nochmals ein paar Jahre.

Deshalb sucht die Regierung nach Wegen, bereits parallel zum „Pospolu“-Projekt konkrete Anreize – etwa steuerliche – für eine bessere Berufsausbildung umzusetzen. Die Zeit läuft davon und mit der aktuellen Regierungskrise droht der Ausbildungsoffensive eine weitere Verzögerung. Während sich die großen Konzerne durch eigene Ausbildungsprogramme selber helfen, können sich mittelständische Unternehmen diesen Aufwand nicht leisten. Schafft die Regierung nicht rasch die Voraussetzungen für eine nachhaltige und bedarfsgerechte Berufsausbildung, entzieht sie einem wesentlichen Motor des wirtschaftlichen Fortschritts allmählich den Boden. Ein erstes Wetterleuchten war Anfang Juni zu verzeichnen: Erstmals seit acht Jahren fand sich Tschechien in der regelmäßigen Umfrage unter deutschen Investoren in Ostmitteleuropa auf Platz zwei der bevorzugten Standorte wieder, Polen hat knapp die Führung übernommen.