Einsamer Kämpfer am Rande der Stadt
Im Roman „Nationalstraße“ schildert Jaroslav Rudiš schonungslos das andere Prag. Nun erscheint die deutsche Übersetzung
24. 2. 2016 - Text: Petr JerabekText: Petr Jerabek; Fotos: Rafał Komorowski/CC BY-SA 4.0, Tim/CC BY-NC-ND 2.0
Gleich zu Beginn ein Satz wie ein Schlag in die Magengrube. „Adolf Hitler hat mir das Leben gerettet.“ Vandam, der einsame und frustrierte Verlierer aus einer Plattenbausiedlung in der Prager Nordstadt, verstört den Leser vom ersten Satz an. Das Leben hat es selten gut mit ihm gemeint. Und so gibt es wenige, mit denen er es gut meint. Gern erteilt er anderen eine Lektion darüber, wie das Leben läuft – durch Schläge ins Gesicht oder in die Magengrube.
Hatte Jaroslav Rudiš die Leser mit seinem Roman „Die Stille in Prag“ (2007, deutsch 2012) ins Prager Zentrum, in die Welt von Geschäftsleuten, Musikern und Nachtschwärmern mitgenommen, so zeigt er nun in „Nationalstraße“ eine ganz andere Seite der tschechischen Hauptstadt: die Plattenbausiedlungen der Peripherie, die grauen Betonburgen, die Welt der Verdrossenen und Abgehängten.
Seinen Spitznamen Vandam erhielt der tragische Antiheld nach dem Action-Star Jean-Claude Van Damme. „Man nennt mich Vandam. Man nennt mich so, weil ich zweihundert Liegestütze am Stück mache.“ Er arbeitet als Dachlackierer auf Plattenbauten, liest Bücher über Kriege; seine Freizeit verbringt er in der örtlichen Kneipe Severka, wo viel getrunken und über jeden und alles geschimpft wird.
Der Aufbruch nach der Samtenen Revolution, die Chancen und Versprechen der Nachwendezeit sind an dieser Hochhausburg vorübergegangen. Hier regieren Politikverdrossenheit, Wut und Vorurteile. Dabei war Vandam im November 1989 mit dabei, unten im Zentrum auf der Nationalstraße, als eine neue Zeit eingeläutet wurde. Mehr noch: Er stand in der ersten Reihe, er war es, der richtig Bewegung in die Sache brachte, zum ersten Schlag ausholte und alles lostrat. Für sein Leben brachte der Umbruch keine Wende zum Besseren. Vandams Platz bleibt zwischen tristen Plattenbauten. „Mann, Vandam, da hast du was Feines erkämpft, damals auf der Nationalstraße“, sagt Saufkumpan Froster. „So hast du dir das damals nicht träumen lassen, was? Dass es ein so beschissenes Ende nimmt.“
Überzeugend versetzt sich Rudiš in seinen Protagonisten und dessen Alltag. Das Buch besteht fast ausschließlich aus einem Monolog Vandams. Es ist ein Vermächtnis an seinen Sohn, den er nur selten zu Gesicht bekommt. Vandams Sätze sind kurz und plakativ. Sie kreisen immer um die gleichen Gedanken, Motive und Grundsätze, die ihm Halt geben.
Vandam formuliert eine Art weltliches Credo der Vorstadt, Gebote der rauen Plattenbauwelt („Du solltest trainieren. Du solltest nicht auf andere hören.“), betet mehrfach eine Litanei des Verdrusses und der Intoleranz herunter. „Nein, ich bin kein Nazi. Mich stören Penner nicht, solange sie kein Remmidemmi machen. Mich stören Zigos nicht, solange sie kein Remmidemmi machen. (…) Mich stören Junkies nicht, solange sie kein Remmidemmi machen. Mich stören Sozialschmarotzer nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.“ Wehe dem, der gegen Vandams Regeln verstößt. „Dann muss ich das mit ihm klären. Ich mag Anstand und Ordnung.“ In Zeiten von Pegida und AfD ein Duktus von beklemmender Aktualität.
Scheinbar beiläufig gibt Rudiš dem Leser einen pointierten Einblick in das Selbst- und Geschichtsverständnis vieler Tschechen, ihre Fremdenfeindlichkeit und Euroskepsis. Für die deutschen Leser hat der Autor sein Buch überarbeitet und etwas erweitert, den einen oder anderen geschichtlichen Bezug erläutert, Motive, Sätze und Passagen hinzugefügt. Die Übersetzung liest sich über weite Strecken flüssig, weist aber leider auch klare Schwächen auf, insbesondere bei umgangssprachlichen Formulierungen. Auch vereinzelte Ausdrucksfehler wären vermeidbar gewesen.
Der Autor schlägt in „Nationalstraße“ ein hohes Tempo an. Die kurze, dichte Prosa ist hart und schonungslos. Trotz des Plaudertons, in dem Vandams Lebensbeichte daherkommt, ist das Buch sorgfältig durchkomponiert – mit zahlreichen Wiederholungen und Variationen der gleichen Sätze und Motive. Rudiš verknüpft gekonnt das Kunstvolle, scheinbar Beiläufige eines Bohumil Hrabal mit Elementen des absurden Theaters à la Václav Havel. Noch bevor „Národní třída“ 2013 auf Tschechisch erschien, hatte es in Brünn schon als Theaterstück Premiere.
Nur einmal wird Vandams Erzählstrom unterbrochen, durch das Kapitel „Narben“ in der Mitte des Buchs. Dort schildert ein auktorialer Erzähler, wie der Protagonist die Kneipenwirtin Sylva mit zu sich nach Hause nimmt. Es ist ein Schlüsselkapitel, mit dem Vandams Fassade zu bröckeln beginnt. Sylva hält ihm in einem langen Dialog den Spiegel vor, konfrontiert ihn mit dem, was er beschönigt, verschweigt, verdrängt. Und doch muss der Leser von „Nationalstraße“ bis zum Ende warten, bis er den ersten Satz des Kurzromans versteht, bis sich die bittere Wahrheit hinter den kraftstrotzenden Sprüchen Vandams herausschält.
Jarolav Rudiš: Nationalstraße. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Luchterhand, München 2016, 160 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-630-87442-5
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?