Ein wichtiger Schritt

Ein wichtiger Schritt

Neuer Grundsatz: Sudetendeutsche verzichten auf „Wiedergewinnung der Heimat“

4. 3. 2015 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: APZ

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) hat den „Rechtsanspruch auf die Heimat und deren Wiedergewinnung“ aufgegeben. Auch das nach dem Zweiten Weltkrieg von der damaligen Tschechoslowakei beschlagnahmte Eigentum will sie nicht länger zurückfordern.

Dafür änderte der Vertriebenenverband am Wochenende auf der 15. Bundesversammlung in München seine Satzung und verabschiedete zudem eine neue Grundsatzerklärung. Demnach übernimmt die Sudetendeutsche Volksgruppe unter anderem „die Mitverantwortung für die Verfolgung und Ermordung von Sudetendeutschen und Tschechen, die dem nationalsozialistischen Regime missliebig waren, sowie für den Holocaust an den Juden in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien“. Außerdem bedauert sie darin „die Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Sudetendeutsche Volksgruppe durch das nationalsozialistische Deutsche Reich“.

Bernd Posselt, seit sechs Jahren Sprecher der Volksgruppe und damit deren wichtigster Repräsentant, gilt als federführend für die politische Neuausrichtung. Die aktuellen Beschlüsse stärkten seiner Ansicht nach die Rolle der Sudetendeutschen im deutsch-tschechischen Dialog und machten seinen Verband „zukunftsfest“. In der Satzung wird nun ausdrücklich auf die EU-Grundrechtecharta verwiesen. Die SL beabsichtigt, „an einer gerechten Völker- und Staatenordnung mitzuwirken, in der die Menschen- und Grundrechte, das Recht auf die Heimat und das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Volksgruppen für alle gewahrt und garantiert werden“. Auf dieser Grundlage ächtet der Verband unter anderem „Völkermord, Vertreibungen (…), Enteignungen sowie Diskriminierungen“ auf der ganzen Welt, wie es in der am vergangenen Samstag beschlossenen Satzungsänderung heißt. Dort, wo gegen das Menschen- und Völkerrecht verstoßen werde, soll ein „gerechter Ausgleich“ für „Heilung“ sorgen.

Tschechische Politiker begrüßten den Verzicht auf die „Wiedergewinnung der Heimat“, gleichwohl sich die meisten von ihnen wenig überrascht zeigten. So erklärte Außenminister Lubomír Zaorálek (ČSSD), dass „wir mehrmals gesagt haben, dass dieser Paragraph einer Kommunikation, die auf größerem Vertrauen basiert, im Wege steht“. Nun sei der Zeitpunkt gekommen, „an dem wir keine Angst mehr vor der Zukunft haben müssen“.

Für den Vorsitzenden der Bürgerdemokraten (ODS), die zwischen 2006 und 2013 den Premierminister stellten, ist der Beschluss „ein Schritt in die richtige Richtung, den man nur gutheißen kann“. Laut Petr Fiala könnten vor allem diejenigen aufatmen, die das Eigentum der Sudetendeutschen nach deren Vertreibung übernommen hatten. Deren Sorgen seien nun kleiner geworden, glaubt der ODS-Vorsitzende. Allerdings können Einzelpersonen weiterhin den Rechtsweg einschlagen und vor einem tschechischen Gericht auf Rückgabe ihres Eigentums klagen.

Kritik aus eigenen Reihen
Während die Streichung der Paragraphen in Tschechien ein positives Echo hervorruft, fühlen sich einige Regionalverbände der Sudetendeutschen Landsmannschaft übergangen. Die Vorsitzenden der Bezirksgruppen Oberbayern und Schwaben sprachen am Dienstag von einer „überfallartig beschlossenen Satzungsänderung“, zu der die Basis nicht befragt worden sei. Bereits zuvor hatten sich einzelne Mitglieder beschwert, den Delegierten des Bundesverbandes wäre nicht genügend Zeit für eine Diskussion über die Satzungsänderung eingeräumt worden. Dabei sagte Posselt vor kurzem gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, er habe den Kurswechsel „in einem langen Prozess“ vorbereitet und sogar Änderungsanträge einarbeiten lassen.

Kritiker aus den eigenen Reihen beanstandeten außerdem, für eine Satzungsänderung sei laut Bürgerlichem Gesetzbuch eine Dreiviertelmehrheit notwendig gewesen, dem neuen Wortlaut hätten allerdings lediglich 71,8 Prozent der Delegierten zugestimmt. Doch auch in diesem Punkt gibt es Gegenargumente: Die Sudetendeutsche Landsmannschaft hat für Beschlüsse jeglicher Art eine einfache Mehrheit festgelegt.

Doch die Skepsis gegenüber Posselts Neuausrichtung findet damit kein Ende. Einige Verbandsmitglieder fürchten, die SL werde nun auch von ihrem offiziellen Standpunkt zu den Beneš-Dekreten abrücken. Die „Dekrete des Präsidenten der Republik“, so die offizielle Bezeichnung, regelten unter anderem die Enteignung und Abschiebung der etwa 2,5 Millionen Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei und bilden seit Jahrzehnten den Hauptstreitpunkt zwischen Vertriebenenverbänden und der Regierung in Prag. Ist die Sorge, dass der Ruf nach einer Aufhebung der Dekrete verklingen wird, berechtigt?

Wahrscheinlich nicht. Denn auch in der neuen Grundsatzerklärung heißt es, „die Sudetendeutsche Landsmannschaft arbeitet darauf hin, dass die Tschechische Republik die in den Jahren 1945/46 erlassenen und fortwirkenden Dekrete, (…) die Unrechtstatbestände – kollektive Entrechtung, Enteignung, Zwangsarbeit, Vertreibung und Ermordung – anordneten bzw. legalisierten, außer Kraft setzt“. Um Lösungen für dieses Ziel zu finden, fordert die SL direkte Gespräche mit „Repräsentanten des tschechischen Volkes und Vertretern der Sudetendeutschen Volksgruppe“, wobei sie auch die Unterstützung der deutschen Politik fordert.

Abgesehen von diesem Zankapfel lassen die neuen Erklärungen des Vertriebenenverbandes keinen Raum für Streitigkeiten zu. Ein zentrales Ziel der Sudetendeutschen bleibt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Tschechien. Die deutsche und tschechische Zivilgesellschaft, darin sind sich die Sudetendeutschen laut dem Dokument einig, hätten insbesondere seit dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union den „Weg der Verständigung und Versöhnung“ eingeschlagen. Heute, „70 Jahre nach Krieg und Vertreibung, nach Phasen des Stillstands und der Rückschläge“, bestünde die begründete Hoffnung, dass sich auch „auf oberer Ebene ein Dialog zwischen Tschechen und Sudetendeutschen abzuzeichnen beginnt“.

Die seit Januar 2014 amtierende Regierung von Bohuslav Sobotka (ČSSD) hält zwar an den Beneš-Dekreten fest, setzte jedoch wenige Tage nach ihrem Antritt ein Zeichen. Unmittelbar nach der ersten Sitzung des neuen Kabinetts erklärte Menschenrechtsminister Jiří Dienstbier (ČSSD), auf die von Václav Klaus durchgesetzte Ausnahmeregelung im Ende 2009 geschlossenen Lissabon-Vertrag zu verzichten.

Der ehemalige tschechische Staatspräsident hatte befürchtet, dass die im Vertrag verankerte EU-Grundrechtecharta die Beneš-Dekrete außer Kraft setzen und damit eine Welle von Eigentumsrückforderungen von Seiten der Sudetendeutschen auslösen könnte. Die Abschaffung der sogenannten Opt-out-Regelung nannte Dienstbier damals einen „außerordentlich wichtigen und symbolischen Schritt“. Ein solcher ist am Wochenende auch der Sudetendeutschen Landsmannschaft gelungen.