Ein erfundenes Genie

Ein erfundenes Genie

Vor einem halben Jahrhundert entstand die Kunstfigur Jára Cimrman. Damit begann auch die Geschichte einer der erfolgreichsten Theaterbühnen Tschechiens

6. 1. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Foto: Zdeněk Svěrák (2.v.l.) und Ladislav Smoljak (3.v.l.) in „Tschechischer Himmel“ im Herbst 2008/ČTK/Tomáš Zezulka

Prag 1966. In der Atmosphäre des politischen Tauwetters trifft sich in der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei eine Gruppe von Freunden. Der Rundfunk­redakteur Jiří Šebánek präsentiert seinen künftigen Kollegen Miloň Čepelka, Ladislav Smoljak und Zdeněk Svěrák seine Idee, in Prag ein neues Theater zu gründen. Sie alle lachen nur darüber. Denn dass sie selbst in diesem Theater als Schauspieler tätig sein sollten, kann sich kaum jemand von ihnen vorstellen. Keiner der Beteiligten verfügt über schauspielerische Erfahrung, Čepelka und Svěrák sind beide Tschechischlehrer, Smoljak unterrichtet Mathematik und Physik. Doch zu fortgeschrittener Stunde und nach einigen Gläsern Schnaps sieht die Sache schon anders aus: Gemeinsam überlegen sie, wo man denn am besten einen Theatervorhang kaufen könnte.

Ein paar Monate später, zu Weihnachten, erwähnt Šebánek in der Satire-Sendung des Tschechoslowakischen Rundfunks „Nealkoholická vinárna U Pavouka“ (deutsch: „Alkoholfreie Weinstube Zur Spinne“) zum ersten Mal öffentlich den Namen des mysteriösen Universalgenies Jára Cimrman. Damit beginnt die Mystifizierung der Geschichte des vermeintlich „größten Tschechen“ und die Erfolgsgeschichte des ein Jahr später gegründeten Theaters, das dessen Namen trägt.

Das Repertoire des Theaters fällt im Vergleich zu anderen Schauspielhäusern relativ bescheiden aus. Insgesamt wurden auf der Cimrman-Bühne seit ihrem Bestehen 16 Theaterstücke aufgeführt. Außerdem ist das Ensemble in die Jahre gekommen. Viele der Protagonisten haben schon das 80. Lebensjahr erreicht, Mitbegründer Ladislav Smoljak starb 2010. Um die Besucherzahlen müssen sich die Schauspieler trotzdem keine Sorgen machen. Die Karten für eine Cimrman-Vorstellung sind in der Regel binnen weniger Stunden ausverkauft.

Fakt oder Fiktion?
Ursprünglich wollten die Freunde mit ihrem Projekt an die mystifizierende Art Humor anknüpfen, mit der die erwähnte „Vinárna U Pavouka“ gearbeitet hat. In der Satire-Sendung wurde Jára Cimrman als unbekannter Erfinder vorgestellt. Der Moderator verkündete, er habe in seinem Wochenendhaus eine Kiste mit Handschriften eines vergessenen Genies gefunden, der neben seiner erfinderischen Tätigkeit auch Theaterstücke schrieb, die nun in dem nach ihm benannten Theater aufgeführt werden sollten.

Aus dem eigentlichen Plan, dass Svěrák und Šebánek jeweils einen Einakter schreiben, die dann zusammen an einem Abend aufgeführt werden, wurde nichts. Denn Šebánek hatte seine Arbeit bis zum abgesprochenen Termin nicht erledigt. Also entschieden sich die Schauspieler, den Einakter mit einer pseudowissenschaftlichen Einführung über das Leben und das Schaffen des fiktiven Helden zu begleiten.

Die „Cimrmanologen“, wie sie sich seitdem nannten, versahen sich mit Doktortiteln und hielten „Seminare“ über ihre neuesten Entdeckungen in der heiteren Cimrman-Wissenschaft. So wird etwa in der „wissenschaftlichen Einführung“ vor der „Untersuchung über das Verschwinden des Klassenbuches“ über Cimrmans herausragende Fortschritte auf dem Gebiet der Pädagogik berichtet, vor dem Stück „Afrika“ über seine Reisen und Entdeckungen auf dem Schwarzen Kontinent.

Das Schema Theaterstück und pseudowissenschaftliche Einführung haben die Autoren des Theaters  beibehalten. Durch das Täuschungselement verstärkte sich unter den Zuschauern die Annahme, es könne eine reale Gestalt gegeben haben, aus der das Phänomen Cimrman entstand. In den sechziger und siebziger Jahren war es tatsächlich so, dass sich das Publikum ganz und gar unsicher war. Gab es dieses mysteriöse Universalgenie, diesen Helden und Alleskönner denn wirklich? Hatten ihn die Geschichtsschreiber schlicht übersehen oder ignoriert?

Der größte Tscheche
An die ersten Geschichten schlossen sich weitere an und aus dem Namen Cimrman wurde ein Phänomen, dass nahezu jeder Tscheche kennt. In einer Sendung des Tschechischen Fernsehens, in der die bedeutendste Persönlichkeit der nationalen Geschichte gesucht wurde, kämpfte Jára Cimrman sogar um den ersten Platz. Am Ende wurde er jedoch als fiktive Figur vom Wettbewerb ausgeschlossen und den Titel „Größter Tscheche“ dem böhmischen König und römisch-deutschen Kaiser Karl IV. überlassen.

Als typisch tschechisch kann auch die Art von Humor bezeichnet werden, mit der die Autoren des Theaters arbeiten. Erstens weil er sehr oft auf Sprachwitz basiert (im Ensemble sind schließlich mehrere Tschechischlehrer tätig). Und zweitens weil den Humor kaum jemand verstehen kann, der das tschechische beziehungsweise tschechoslowakische Schulsystem nicht erlebt hat. Die Autoren arbeiten gezielt mit diesem Hintergrundwissen und machen viele nationale Mythen zum Thema ihrer Witze – am stärksten tritt das in den Stücken „Tschechischer Himmel“ und „Blaník“ zum Vorschein. „Blaník“ behandelt die böhmische Variante der Kyffhäusersage, laut der im südöstlich von Prag gelegenen Berg der heilige Wenzel mit seiner Ritterarmee auf die schwerste Stunde der tschechischen Nation wartet, um sie zu retten.

In dem Stück können sich die Ritter nicht entscheiden, ob denn diese schwerste Stunde schon gekommen sei und streiten darüber, ob sie vielleicht nicht bereits im Jahr 1620, 1939 oder 1968 hätten herausreiten sollen. Der „Tschechische Himmel“ thematisiert das Leben in der tschechischen „Abteilung“ des Paradieses, in der sich die bedeutendsten Persönlichkeiten der böhmischen Geschichte versammelt haben. Gegenseitig werfen sie sich vor, dass sie nichts im Garten Eden verloren hätten. Man muss kein Geschichtsprofessor sein, um über Cimrman-Witze zu lachen. Denn dabei geht es weniger um Geschichtswissen, sondern eher um historische Anekdoten, die sich – im Unterschied zu Jahreszahlen – fast jeder Schüler merken konnte.

Tschechisch ist der Cimrman-Humor außerdem, weil er immer wieder den tragischen, mit einer Prise Resignation gewürzten Beigeschmack hat, der auch die Geschichte der kleinen Nation so oft prägte. Das macht Cimr­man neben Schwejk vielleicht zum authentischsten tschechischen Helden, man könnte sogar sagen zum Superhelden. Zwar mag er nicht so stark oder tapfer sein wie Superman oder Batman. Doch seine Waffe ist der Humor, um den die Tschechen von ihren Nachbarn beneidet, und wegen dem sie auch kritisiert werden. Jára Cimrman ist ein Held für alle Fälle und für alle Zeiten, auch für die, in denen man keine Helden hatte oder haben durfte.