Doppelexistenz in der Ersten Republik

Doppelexistenz in der Ersten Republik

Der Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch begann zunächst als Verfasser eindringlicher Sozialreportagen

17. 11. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: ČTK

„Die hohen Ehrungen, die unserem Kollegen vor wenigen Wochen aus Anlass seines 70. Geburtstages vom Herrn Bundespräsidenten und der Bundesregierung, von seinen Parteifreunden und von unzähligen ihm nahestehenden Menschen zuteil wurden, sind nun durch seinen unerwarteten Tod zum Zeichen eines wehmütigen Abschieds geworden. (…) Seine parlamentarische Arbeit galt in erster Linie dem Schicksal und der Eingliederung der Heimatvertriebenen, ferner den Fragen des Verhältnisses zu unseren ost- und südosteuropäischen Nachbarstaaten. Ich spreche der Gattin unseres verstorbenen Kollegen, seinen Angehörigen und der Fraktion der Sozial­demokratischen Partei Deutschlands die tiefe Anteilnahme des Hauses aus.“

Mit diesen Worten eröffnete vor 50 Jahren, am 30. November 1966, der damalige Vizepräsident des Deutschen Bundestages Erwin Schoettle (SPD) die Sitzung. Sie galten Wenzel Jaksch, dem sozialdemokratischen Politiker in der Tschechoslowakischen Republik der zwanziger und dreißiger Jahre sowie – nach zehnjährigem Exil in Großbritannien – in der Bundesrepublik Deutschland.

Am 27. November 1966 war Jaksch in seinem Wohnort Wiesbaden bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Der plötzliche Tod riss ihn auch aus den noch laufenden Verhandlungen über die Bildung der ersten Großen Koalition in Bonn, an denen er beteiligt war. Tags darauf hielt Willy Brandt, gerade zum Außenminister ernannt, am Grabe von Jaksch die Trauerrede, vermutlich seine erste Rede überhaupt in seiner neuen Funktion.

Das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren hat zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung aus Anlass von Jakschs 50. Todestag, aber auch zur Feier seines 120. Geburtstages, einen gemeinsamen ­Gedenkabend veranstaltet. Dabei stand weniger der Politiker Jaksch im Vordergrund, denn als solcher dürfte er vielen, die sich für die deutsch-tschechische Vergangenheit in der jüngeren Geschichte interessieren, ein Begriff sein (die „Prager Zeitung“ berichtete im April 2012 ausführlich über das politische Wirken von Jaksch vor allem während der Ersten Republik und im Londoner Exil). Stattdessen stellten Ulrich Miksch, Journalist in Berlin, und Thomas Oellermann, Historiker in Prag, den zahlreich erschienenen Zuhörern den weitgehend in Vergessenheit geratenen Reporter und Publizisten Jaksch vor.

Das Elend der Ärmsten
1896 im äußersten Süden Böhmens, an der späteren Grenze zu Österreich in eine ärmliche Handwerkerfamilie geboren, gelangte der erst 14-jährige, aber aufgeweckte Wenzel 1910 nach Wien, wo er das Maurerhandwerk erlernte und insoweit in die Fußstapfen von Vater und Bruder trat. Noch vor dem Krieg schloss er sich der sozialdemokratischen Jugendbewegung an und schlug damit eine politische Orientierung ein, der er zeitlebens treu blieb.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann er im nordböhmischen Komotau (Chomutov) eine neue Laufbahn als Redakteur bei der sozialdemokratischen „Volks­zeitung“, eines der vielen lokalen sozialdemokratischen Blätter in den Sudeten. Aus den drei Jahren (1921-1924), die Jaksch dort verbrachte, sind allerdings keine Beiträge überliefert, die eindeutig aus seiner Feder stammen, denn bei fast allen Artikeln in der „Volkszeitung“ fehlte die ­Angabe des Verfassers. Das änderte sich erst, als er ab 1924 bis 1938 als Redakteur des „Sozialdemokrat – Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschecho­slowakischen Republik“ in Prag arbeitete.

In den 14 Jahren seiner journalistischen Tätigkeit zeichnete sich Jaksch als Verfasser einer Vielzahl von ausführlichen Reportagen aus, in denen er die soziale Lage der „kleinen Leute“, der Arbeiter und Bauern in den Sudeten schilderte. Sein großes Vorbild war der österreichische Publizist und Politiker Max Winter, der als Pionier des Genres der Sozialreportagen im deutschsprachigen Raum gilt. Ebenso wie Winter war Jaksch bestrebt, auf seinen zahlreichen Reisen durch die Sudetengebiete dem Elend der Ärmsten auf die Spur zu kommen und ihre Nöte in realitätsnahen und detail­reichen Schilderungen dem Leser vorzustellen.

Während jedoch Winters Sozialreportagen schon zu seinen Lebzeiten als Sammlungen in Buchform weitere Verbreitung fanden, gerieten die Früchte von Jakschs Schreiben nach 1938 in Vergessenheit. Im Prager Literaturhaus konnte man sich jetzt davon überzeugen, dass sie nur vergessen, aber nicht verloren waren. Ulrich Miksch hat über 30 Reportagen von Jaksch in den Archiven aufgespürt und zwei davon aus der auf vergilbten Blättern schwer lesbaren Fraktur in eine lesbare Datei übertragen. Der erste Artikel handelte von den Instrumentenbauern im Erzgebirge, der zweite von der Wohnungsnot der Arbeiterfamilien in Teplitz (siehe unten).

Unerwartete Hürden
Dass bislang nur zwei der Reportagen mühsam in eine lesbare Form gebracht wurden, hat einen Grund: Noch hat sich kein deutscher Verlag gefunden, der bereit wäre, sie zu veröffentlichen. Anders in Tschechien. Der Verlag Academia wird 2017 die Reportagensammlung in tschechischer Sprache herausbringen. Die Übersetzerin Zuzana Schwarzová berichtete im Literaturhaus anhand der Reportage über die Instrumentenbauer über die unerwarteten Hürden, wenn spezifische sudetendeutsche Vokabeln ins Tschechische übersetzt werden müssen (zum Beispiel „stifteln“ oder „hefteln“). Aber auch veraltete Ausdrücke wie „sekkieren“ und besonders die nicht mehr gebräuchlichen Berufsbezeichnungen wie Wirbel­drechsler, Adermacher und Flickschneider mussten ihren Weg ins Tschechische finden.

Dass der Publizist Jaksch in Vergessenheit geriet, hängt wohl auch mit seiner Doppelexistenz zusammen, die er seit den zwanziger Jahren führte. Neben seiner journalistischen Tätigkeit engagierte er sich immer stärker in der sudetendeutschen Sozial­demokratie, in der er es 1938 zum Vorsitzenden brachte. Und nach seiner Übersiedelung 1949 aus dem Londoner Exil nach Deutschland setzte er seine politische Arbeit in der SPD, für die er seit 1953 Mitglied des Bundestages war, und an führender Stelle in der Vertriebenenpolitik fort. Somit blieb für die Reportagen immer weniger Zeit.

Laut dem Historiker Friedrich Prinz meinte Jaksch in den sechziger Jahren einmal: „Wenn es uns nicht gelingt, unsere sudetendeutschen Landsleute wieder in die Heimat zurückzubringen, ist unser Leben umsonst gewesen.“ Sein plötzlicher Tod 1966 hatte ihn davor bewahrt, sich so wie andere – etwa der Schlesier und SPD-Abgeordnete Herbert Hupka – später gedrängt zu fühlen, wegen Brandts Ostpolitik auch seine politische Heimat zu verlassen. Und Jaksch hätte die Wende von 1989 wohl kaum noch erlebt, um danach wie der jüngere Hupka zu Versöhnung und Begegnung mit den neuen Bewohnern in seiner alten Heimat finden zu können.


In den Krallen der Wohnungsnot | Bilder vom Wohnungselend im Teplitzer Industriebezirk

Von Wenzel Jaksch

Lässt man von der Königshöhe aus den Blick über das Stadtbild gleiten, so gewinnt man den Eindruck, eine der schönsten Mittelstädte unseres Landes vor sich zu haben. Eine alte Kultur des Feudaladels und des Bürgertums hat sich in der alten durch reges industrielles und kommerzielles Leben verjüngten Badestadt prächtige Denkmäler gesetzt. Die schlanken Türme der Kirchen, die Kuppel des jüdischen Großtempels, der markante Turm des Gymnasiums, im Vordergrunde der Kolossalbau des neuen Stadttheaters, alles durchwirkt von künstlerisch gestalteten Park- und Kuranlagen, dazu die Umrahmung einer selten schönen Erzgebirgslandschaft – das liefert ein packendes Gemälde, das immer wieder auf den Beschauer die stärkste Anziehungskraft ausübt. Darum sind die Teplitzer stolz auf ihre Stadt und auch die zahlreichen fremden Besucher zollen den Schönheiten des Kurortes ehrliche Bewunderung. Selten erfährt aber der flüchtig durchreisende Gast, was der Einheimische zwar weiß, jedoch in der Hast des Alltags längst nicht mehr beachtet: Dass im Herzen der Stadt hinter verkehrsdurchfluteten Straßenzügen, wenige hundert Meter von wundervollen Parkanlagen und stolzen Baudenkmälern ein Stück finsteres Mittelalter bis in unsere Tage erhalten blieb. Wir meinen das Judenviertel, die interessanteste Sehenswürdigkeit und zugleich die Schande von Teplitz.

Ein proletarisches Ghetto
Genosse Dr. Max Beck, der Arzt dieses Armeleuteviertels, stellte seine reiche Orts- und Personenkenntnis für den Rundgang zur Verfügung. Ein merkwürdiges Gefühl gewinnt bei der Wanderung durch die engen, winkeligen, von Schmutz und Gestank erfüllten Gassen die Oberhand. Da war einmal das Ghetto der jüdischen Händler und Geschäftsleute, die in der Umgebung der Vollbürger nicht geduldet wurden und die, gedrückt von Ausnahmevorschriften und finsteren Vorurteilen, in die quälende Enge eines Strassenviertels zusammenrücken mussten, das ihnen als Wohnplatz zugewiesen war. Der soziale Umschichtungsprozess der kapitalistischen Entwicklung hat die Ureinwohner des Judenviertels in lichtere, breitere Strassenzüge hinausgeführt. Ihnen ist eine neue Schicht der Ausgestossenen nachgerückt: das besitzlose, heimatlose Proletariat, das heute das Hauptkontingent der Einwohnerschaft des Teplitzer Ghettos stellt. Die Wohnungsnot der Jahre vor und nach dem Kriege hat es bewirkt, dass die ungesündesten, vom baulichen wie vom sanitären Standpunkte gleich unzulänglichen Behausungen am stärksten überfüllt sind. Nach dem Vorhergesehenen in den anderen Orten, war man kaum noch auf Überraschungen gefasst. Und doch wirkten die Bilder des proletarischen Wohnungselends im Teplitzer Judenviertel schon wegen der Lage und Umgebung aufreizender als alle anderen.

So wohnen arbeitende Menschen
In der Karlsgasse zeigt Genosse Dr. Beck zunächst die einfenstri­ge Kammer eines alten baufälligen Hauses. Die Tür ist durch ein Kinder­bett verstellt. Der Raum bietet kaum Platz für ein weiteres Bett und einen eisernen Ofen. Ein Ehepaar mit 2 Kindern wohnt darin. Die Frau schwanger; der Arzt muss ihr zureden, dass sie hier doch nicht entbinden kann. Ein Kind war krank im Spital, als es herauskam ist es im Bett durch das hereinströmende Regenwasser wieder durchnässt. Der Hausherr lebt irgendwo in Wien, lässt nichts mehr richten, schert sich überhaupt nicht um die Parteien, soweit er sie nicht mit Zinssteigerungen beglücken kann.

In der Badegasse: Im trostlos dunklen Zimmer und einem „Küche“ genannten Vorraum drängen sich 10 Personen. Die einzigen Fenster auf den Hof hinaus, das heisst in ein lichtloses Gewinkel, das Schutthaufen und Schmutzlachen umschliesst. Bei der schlechten Kanalisation sind Überschwemmungen mit Jauche an der Tagesordnung. Soll man da fleissiges Lüften empfehlen? Auf die Frage, ob es auch hier hineinregnet: „Heute gerade nicht, aber in den letzten Tagen hätte es uns bald fortgeschwemmt.“ (…)

Kurgäste des Todes
Wollte man die weiteren Wohnungsbesuche der Reihe nach aufzählen, verfiele der Bericht der Gefahr der Langweiligkeit. Finstere Gänge, gebrechliche Holzstiegen führen immer wieder zu neuen Stätten proletarischer Wohnungsnot. Immer wieder die lichtlosen Räume, überfüllt mit Kindern, Erwachsenen, Alten, Kranken. Ja, die Krankheit ist in diesen Wohnkerkern ein treuer und beständiger Gast; Kinderkrankheiten, Tuberkulose, Bleichsucht, Rheumatismus gehen durch die schmalen Türen aus und ein. Nicht immer wird der Arzt gerufen. Doch wenn er kommt, wie kann er helfen? Die einzige Rettung in vielen Fällen wäre: Heraus aus dem Bazillenloch! Und zwar nicht für einige Wochen Krankenhausbehandlung, sondern dauernd. Kann ein Arzt diese Medizin verordnen? (…)

Kampf der Wohnungsschande!
Wie könnte man diesen Bericht anders abschliessen, als mit einem Appell zum Kampfe gegen die Wohnungsschande unserer Zeit? Da helfen nicht Worte, Tröstungen, Versprechungen. Nur die Tat kann den Opfern des Wohnungselends Hilfe und Linderung bringen. Blutwenig ist bisher in dieser Richtung geschehen, noch weniger geschieht heute. Wohl haben unsere Genossen in den Gemeindestuben redlich an der Abwehr der Wohnungsnot gearbeitet. In Turn sind über sozialdemokratische Initiativen drei grosse Wohnhäuser mit Staatsgarantie erbaut worden; ein über unser Drängen gefasster Beschluss auf Erbauung weiterer dreier Wohnhäuser harrt noch der Ausführung. (…) Aber alles, was da unter grossen Mühen und Opfern, im Kampf gegen finanzielle Schwierigkeiten, stattliche Einsichtslosigkeit und bürgerliche Gegnerschaft geschaffen wurde, ist wenig oder gar nichts gemessen an der Riesenhaftigkeit und Unerträglichkeit der Wohnungsnot. (…) Immer mehr müssen gemeinnützige Hilfsmittel und Massnahmen eingesetzt werden, um dem Volke gesunde und preiswerte Wohnungen und damit auch Glück und Gesundheit zu geben, bis das allgemeine Wohnrecht aller im Interesse der Gesamtheit tätigen Menschen anerkannt und befriedigt ist.
Dafür muss die Arbeiterschaft einen unerschrockenen und unermüdlichen Kampf führen.

Der Text erschien am 14. Juli 1926 im „Sozialdemokrat“ (Prag, Nr. 163). Aus dem Original transkribiert von Ulrich Miksch