Die zwei Türme
Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 8: Die Türme des Altstädter und Neustädter Rathauses
22. 12. 2016 - Text: Josef Füllenbach, Titelfoto: seregalsv/fotolia.com
Mit der „Prager Zeitung“ findet leider auch die Serie über die schönsten Prager Aussichtspunkte ihr vorzeitiges Ende. Deshalb werden zum Schluss zwei Türme vorgestellt, die auf keinen Fall in der Serie fehlen sollten: die beiden Rathaustürme in der Altstadt und der Neustadt. Sie haben manches gemeinsam: etwa eine umlaufende Galerie mit herrlicher Aussicht auf die Stadt in etwa 40 Metern Höhe. Zu ihren Füßen fanden bedeutende geschichtliche Ereignisse statt. Auf beiden Galerien achteten Wächter auf Feuersbrünste oder heranrückende Heere und läuteten notfalls Sturm. In beiden Türmen waren von Anfang an Kapellen eingerichtet, in denen die Ratsherren vor ihren Beratungen geistlichen Beistand einholen konnten, mitunter sogar mussten. Und sie überschauen den jeweils größten Platz in ihrem Stadtteil.
Der Altstädter Rathausturm ist gut neunzig Jahre älter als sein Bruder in der Neustadt. Er verdankt seine Entstehung noch dem Vater von Karl IV., König Johann von Luxemburg, der 1338 der Altstadt das Privileg erteilte, ein Rathaus zu erbauen. 1364 war der Turm unter Karl IV. fertiggestellt.
Bald nach der Gründung der Neustadt (1348) begann auch der Bau des Neustädter Rathauses am Viehmarkt, dem heutigen Karlsplatz. Sein Ostflügel an der Vodičkova-Gasse wurde 1377 vollendet und 1419 Schauplatz des ersten und blutigsten Prager Fenstersturzes. Der Turm allerdings konnte erst nach den Hussitenwirren in kurzer Zeit von 1451 bis 1456 errichtet werden.
Unerwünschtes Spektakel
Trotz mancher Gemeinsamkeiten sticht der Turm in der Altstadt seinen nur wenige Straßenzüge entfernten Konkurrenten in vieler Hinsicht aus. Schon von unten ist leicht zu erkennen, dass auf der Galerie fast zu allen Tageszeiten ein dichtes Gedränge herrscht, während man am Karlsplatz nur wenige Neugierige erspähen kann. Neben dem Heinrichsturm (vorgestellt in der PZ Nr. 30/31-2016) verfügt nämlich nur der Altstädter Turm über einen Aufzug, der dem vom Prager Kopfsteinpflaster ermüdeten Flaneur das Treppensteigen erspart. Zur Galerie des Neustädter Turms gelangt man erst nach 221 Stufen.
Zudem steht der Altstädter Turm mitten im historischen Zentrum von Prag, unmittelbar an dem vom Touristenstrom heimgesuchten Krönungsweg der böhmischen Könige und nur einen Steinwurf entfernt von vielen anderen Attraktionen. Dagegen ist sein neustädtisches Pendant ein wenig ins Abseits geraten: Nach den Vorstellungen Karls IV. sollte der Karlsplatz – damals als größter städtischer Platz in Europa angelegt – pulsierendes Zentrum der Neustadt werden; in diese Rolle ist stattdessen der Wenzelsplatz hineingewachsen, so dass sich nur wenige Prag-Besucher zum Karlsplatz verlieren.
Schließlich ist der Turm in der Altstadt mit seiner weltberühmten astronomischen Uhr, dem Prager „Orloj“, selbst eine Attraktion ersten Ranges. Vor der Uhr versammelt sich tagsüber zu jeder vollen Stunde eine je nach Wetter große bis sehr große Menschenmenge, um den Gang der Apostel zu beobachten, von denen je sechs in den sonst durch Läden verschlossenen Fenstern über den Ziffernblättern der Uhr erscheinen und den unten Stehenden die Ehre erweisen, während ein Sensenmann das Totenglöcklein läutet. Mit dem danach zu hörenden Hahnenschrei geht man vergnügt auseinander. Doch sind diese mechanischen Figuren, die erst im 19. Jahrhundert hinzugefügt wurden, der jüngste und bei Weitem am wenigsten bewundernswerte Teil des Gesamtkunstwerks. Früher waren die Prager und vor allem die an der Herstellung oder an den späteren häufigen Reparaturen beteiligten Uhrmeister und Astronomen stolz darauf, dass sich der „Orloj“ ausschließlich auf die astronomische Kunst beschränkte und ihm keine überflüssigen Belustigungen fürs Fußvolk beigemischt waren.
Die Uhr besteht mit ihren kompliziertesten Teilen, nämlich den oberen Zifferblättern, seit 1410. Der Uhrmachermeister Mikuláš aus Kadaň (Kaaden) fertigte sie zusammen mit dem Astronomen Jan Šindel von der Prager Universität. Um 1490 wurde dieser Teil durch weitere Anzeigen ergänzt, unter anderem durch ein Ziffernblatt, das die sogenannten böhmischen Stunden mit gotischen Zahlen von 1 bis 24 anzeigt: Die erste Stunde beginnt eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang. Die wichtigste Ergänzung war als ein neuer unterster Teil der astronomischen Uhr das Kalendarium, zuletzt neu bemalt von Josef Mánes. Nach einer Legende soll Meister Hanuš, der diese Arbeiten ausführte, danach auf Geheiß der Ratsherren geblendet worden sein. Sie wollten Hanuš daran hindern, anderen Städten zu einem ähnlichen Meisterwerk zu verhelfen.
Gähnende Leere
Turm und Uhr sind im Laufe der Zeit immer wieder beschädigt worden. Die schlimmste Katastrophe ereignete sich Anfang Mai 1945 während des Prager Aufstands, als Turm und Rathaus nach dem Beschuss durch deutsche Panzer in Brand gerieten und teilweise zerstört wurden. Der ehemalige im neugotischen Stil um die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaute mächtige Nordflügel wurde nach dem Krieg ganz abgerissen. Seither klafft zwischen dem Rathausturm und der Nikolauskirche eine gähnende Leere. Es gibt verschiedene Pläne, die Lücke durch einen Neubau oder eine Rekonstruktion zu schließen, um dem Altstädter Ring wieder seine historischen Ausmaße zurückzugeben. Keiner der Vorschläge konnte bislang überzeugen.
Ein kleiner Rest der Mauern des verschwundenen Flügels ist noch zu sehen. Er hat vor allem die Funktion, den Turm zu stützen. Da das Gelände ursprünglich Schwemmland war, hat der Untergrund schon früh etwas nachgegeben. Der Turm musste im 15. Jahrhundert durch Untermauerung stabilisiert werden. Der Anbau der Kapelle soll dem Turm ebenso Halt geben wie die Stützpfeiler auf beiden Seiten der Uhr. Mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist die leichte Neigung: In der Spitze beträgt die Abweichung von der Senkrechten 23 Zentimeter nach Süden (also der staunenden Menge entgegen, die auf die Apostel warten!) und 15 Zentimeter nach Westen.
Vor der Ostseite des Turms war am 21. Juni 1621 eine große hölzerne Bühne aufgebaut, auf der, weithin sichtbar für die gaffende Menge auf dem Altstädter Ring, die 27 zum Tode verurteilten böhmischen Herren hingerichtet wurden, die als die Rädelsführer des Aufstands von 1618 galten. Im Pflaster des Gehsteigs sind zum Gedenken 27 Kreuze eingelassen. Der Legende nach versammeln die Herren sich jedes Jahr am 21. Juni um Mitternacht vor der astronomischen Uhr und prüfen deren Gang. Hat alles seine Ordnung, soll es den Tschechen gut ergehen und sie verschwinden zufrieden und leise wieder in ihren Grüften. Geht die Uhr falsch oder steht sie sogar, dann kündet das schwere Zeiten für das Land an, und die 27 Herren müssen ein Jahr lang bis zum nächsten 21. Juni durch die dunklen Prager Gassen irren. Und hoffen, dass jemand die Uhr repariert.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ