„Die Wahlen rütteln am Fundament der tschechischen Politik“

„Die Wahlen rütteln am Fundament der tschechischen Politik“

Meinungsforscher Daniel Kunštát über Nichtwähler und den nächsten Angriff auf den Glauben in das System

23. 10. 2013 - Interview: Martin Nejezchleba, Titelbild: CEVRO Institut

Daniel Kunštát weiß, wie der tschechische Wähler tickt. Seit Jahren analysiert der Politologe das Wählerverhalten für das Zentrum für Meinungsforschung am Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (CVVM). Im Gespräch mit PZ-Redakteur Martin Nejezchleba erklärt Kunštát, warum mehr Parteien nicht gleich mehr Demokratie bedeuten und warum die Tschechen zu einem knappen Drittel notorische Nichtwähler sind.

Herr Kunsštát, die Mitte-Rechts-Regierung ist nach zahlreichen Skandalen an einer spekatulären Bestechungs- und Geheimdienstaffäre zerbrochen. Wie wird sich das auf das Wählerverhalten auswirken?

Daniel Kunštát: Das wird große Auswirkungen haben. Einmal wird die Diskreditierung der Mitte-Rechts-Parteien und der liberalen Politik als solcher zu einem Wahlerfolg der Linken und vermutlich zu einer Links- beziehungsweise Mitte-Links-Koalition führen. Zum anderen werden auch in diesen Wahlen viele Wähler Alternativen zu den traditionellen Parteien suchen. Auch die Umfragen lassen vermuten, dass es neue oder bislang marginale Parteien ins Parlament schaffen. Und das trotz der schlechten Erfahrungen mit der Partei „Öffentliche Angelegenheiten” in der vergangenen Amtszeit. Trotz allem scheint die Nachfrage nach neuen Namen und neuen Parteien, nach dem Austausch der politischen Elite, weiterhin sehr groß zu sein.

Werden diesmal mehr Wähler als sonst zuhause bleiben?

Kunštát: Ich glaube nicht. Den soziologischen Studien nach zu urteilen wird die Wahlbeteiligung bei etwa 60 Prozent liegen. Das entspricht in etwa den Zahlen der vergangenen Parlamentswahlen.

Das sind immerhin 40 Prozent, die nicht wählen. Wie erklären Sie sich diesen hohen Wert – zumindest ist er im Vergleich zu Deutschland oder Österreich relativ hoch.

Kunštát: Das stimmt. Auf der anderen Seite ist er vergleichbar mit einer Reihe anderer, ja sogar mit dem Großteil der EU-Mitgliedstaaten. Ein spezifischer Faktor, der die Wahlbeteiligung in Tschechien und in anderen postsozialistischen Staaten negativ beeinflusst, ist die Unterbrechung in der demokratischen Entwicklung. Bei vielen Leuten – und das gilt auch für ganze Familien und soziale Gruppierungen – ist die Ansicht, dass die Teilnahme an Wahlen zur guten demokratischen Tradition gehört, einfach nicht tief genug verwurzelt. Mindestens 30 Prozent der Bevölkerung sind notorische Nichtwähler. Das sind zum einen sozial marginalisierte Menschen. Aber auch ein entscheidender Anteil der jungen Generation, die jegliche politische Teilnahme als überflüssig begreift. Etwa weil sie das Gefühl haben, dass Wählen nichts bringt, dass es zu keiner positiven Veränderung führt, aber auch weil Politik in ihrem Leben einfach keine Rolle spielt.

Wir wirkt sich die niedrige Wahlbeteiligung auf die tschechische Politik aus?

Kunštát: Nicht besonders. Auch wenn Nichtwähler tendenziell weniger gebildet und ärmer sind und eher in kleinen Gemeinden leben, was die politische Ausrichtung anbelangt, weichen die Nichtwähler kaum vom Durchschnitt der Wähler ab. Anders gesagt: Auch wenn wir die Wahlpflicht einführen würden, dürfte das die Wahlergebnisse nicht groß verändern.

In diesem Jahr stehen die Wähler vor einer ungewohnt großen Auswahl. Bis zu zehn Parteien werden Chancen eingeräumt, die Fünf-Prozent-Hürde zu schaffen. Wie wirkt sich die Zersplitterung des Wahlspektrums auf den Wähler aus?

Kunštát: Das allgemeine Misstrauen in die bisherigen Politeliten veranlasst – gemeinsam mit der tiefen Enttäuschung durch die Mitte-Rechts-Regierungen nach 2006 – zur Suche nach politischen Alternativen. Deshalb stehen bei vielen ANO, Okamuras „Úsvit příme demokracie“ („Morgendämmerung der direkten Demokratie“), die Zeman-Partei SPOZ oder die Piraten hoch im Kurs. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die bevorstehenden Wahlen die einstigen Fundamente der tschechischen Politik, die traditionellen Parteien, stark erschüttern werden – vor allem die ODS.

Was wird das für Auswirkungen haben?

Kunštát: Im Parlament werden mehr Parteien vertreten sein. Objektiv gesehen muss das aber keine positive Entwicklung darstellen. Zum einen wird bei einem zersplitterten Parteiensystem die Suche nach handlungsfähigen und ideologisch kohärenten Koalitionen deutlich schwieriger. Zum anderen muss man auch mit Blick auf die Entstehung dieser politischen Bewegungen skeptisch sein. Es handelt sich um Parteien ohne Geschichte, ohne klare politische und ideologische Basis, ohne organisatorischen Background. Die Wahllisten sind mehr oder weniger zufällig entstanden. Es handelt sich auch um Gruppierungen, die vor allem auf eine markante Persönlichkeit bauen – sei es ein faktischer Leader, oder einer, der im Hintergrund die Fäden zieht. Ihre politischen Ziele, ihre Finanzierung und ihre Werte liegen völlig im Unklaren. Bei solchen Parteien kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass es sehr bald zu großen innerparteilichen Konflikten kommt. Dann zerfällt die Partei und gefährdet die Koalition. Aus einem möglicherweise gut gemeinten Versuch der Wähler, die tschechische Politik wiederzubeleben, kann sehr schnell der nächste Angriff auf ihren Glauben an die politischen Eliten oder gar an das politische System als solches werden.