Der weltberühmte Unbekannte

Der weltberühmte Unbekannte

Der international gefeierte tschechische Schriftsteller Milan Kundera wird 85. Den Tschechen ist ein großer Teil seines Werks nicht zugänglich

26. 3. 2014 - Text: Petr JerabekText: Petr Jerabek; Foto: Gallimard

Aus der großen Rückkehr in die endlich befreite Heimat wird nichts. Es ist fremd geworden dieses Land, das einmal die Heimat war. Fremd geworden sind die Menschen, die dort leben, fremd geworden ist sogar die Sprache: „Was war in diesen zwei armseligen Jahrzehnten mit dem Tschechischen geschehen? Hatte sich die Betonung verändert?“ Seine Muttersprache hatte sich gewandelt zu „einer unbekannten Sprache, von der er fast jedes Wort verstand“.

In Milan Kunderas Roman „Die Unwissenheit“ (2000) erleben die Exil-Tschechen Josef und Irena den „Schrecken der Rückkehr“. Nach 20 Jahren im Exil sind sie entwurzelte Fremde – und bleiben es auch. Es gibt wohl kein anderes Buch, das so viel aussagt über das komplizierte Verhältnis des großen Romanautors Milan Kundera zu dem Land, das er 1975 verlassen musste. Dieser schmale Roman könnte der tschechischen Leserschaft wie kein anderer erklären, warum Kundera nach dem Umsturz in der Tschechoslowakei nicht zurückkehrte, sondern für immer in Frankreich blieb.

Die meisten Tschechen kennen das Buch aber bis heute nicht: Es ist nie auf Tschechisch erschienen. Während von anderen großen Exil-Autoren wie Josef Škvorecký längst Werkausgaben vorliegen, sind auch 25 Jahre nach dem Ende des Regimes noch nicht einmal alle sieben auf Tschechisch verfassten Romane Kunderas in seiner alten Heimat veröffentlicht worden – von den französisch geschriebenen Werken ganz zu schweigen.

Trotz der sehr ambivalenten Beziehung der tschechischen Öffentlichkeit zu Kundera, ist das Interesse an seinem Werk groß: Als im Jahr 2006 endlich „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ in Tschechien erschien, war die erste Auflage innerhalb weniger Tage vergriffen. Seither ist kein weiteres Kundera-Buch mehr in die tschechischen Buchhandlungen gekommen. Eine Anfrage beim Brünner Atlantis-Verlag, ob eine weitere Veröffentlichung absehbar ist, bleibt unbeantwortet.

Neue Projekte haben Vorrang
Kunderas in Tschechien vielfach kritisierte Veröffentlichungspolitik ist in erster Linie Folge seines Perfektionismus: Der Schriftsteller wacht peinlich genau über sein Werk. Seine frühen Gedichte und Theaterstücke hat er weitgehend aus dem Verkehr gezogen. Er will selbst bestimmen, was und in welcher Form Bestand haben wird.

Nach schlechten Erfahrungen mit den ersten Übersetzungen seiner Romane überwacht Kundera sogar die diversen anderssprachigen Ausgaben: Egal ob die deutsche, die englische oder die italienische Fassung – alle gehen sie über Kunderas Tisch. Im Nachwort zur tschechischen Ausgabe des Romans „Die Unsterblichkeit“ berichtet der Autor, er habe weniger Zeit zum Schreiben des Buchs gebraucht, als er der Kontrolle der Übersetzungen gewidmet habe.

Dieselbe Sorgfalt will Kundera dafür aufbringen, dass seine Romane auch auf Tschechisch in einer durchgesehenen endgültigen Fassung erscheinen. Doch das braucht Zeit. Denn von den tschechisch verfassten Romanen gibt es laut Kundera drei Versionen: die Handschrift, die in Škvoreckýs kanadischem Exil-Verlag „Sixty Eight Publishers“ erschienene gedruckte Ausgabe und schließlich die von Kundera in den achtziger Jahren überarbeitete französische Fassung. Aus diesen drei Versionen gilt es nun, Satz für Satz die „definitive Ordnung“ zu erarbeiten. Kundera hat aber klargestellt, dass für ihn angesichts seines Alters neue Projekte Vorrang haben.

Die französisch geschriebenen Romane und Essay-Bände wiederum will Kundera auf keinen Fall übersetzen lassen, sondern es selbst tun. Man muss kein Pessimist sein, um Zweifel daran zu haben, dass ein bald 85-Jähriger noch die Kraft und Zeit aufbringen wird, mehr als ein halbes Dutzend Bücher zu übersetzen. Das tschechische Autorengesetz schützt die Rechte des Autors an seinem Werk auch noch 70 Jahre nach dessen Tod. Es könnte also noch Jahrzehnte dauern, bis die „Unwissenheit“ auch auf Tschechisch erscheint.

So überrascht es wenig, dass im Internet illegale tschechische Übersetzungen von Kundera-Romanen kursieren – und in den tschechischen Medien sogar den Applaus prominenter Persönlichkeiten finden.

Auch sonst ist Kundera für die Tschechen wenig greifbar. Während beispielsweise sein Altersgenosse Pavel Kohout seit der Wende aktiv versucht, im tschechischen Kulturleben wieder eine Rolle zu spielen, meidet Kundera die Öffentlichkeit. Der Autor lebt völlig zurückgezogen, lehnt öffentliche Auftritte und Interviews gleichermaßen ab. Einzig seine Bücher sollen für ihn sprechen. „Flaubert zufolge ist ein Romancier jemand, der hinter seinem Werk verschwindet“, schreibt Kundera im Essay-Band „Die Kunst des Romans“. „Hinter einem Werk verschwinden, heißt, auf die Rolle einer öffentlichen Person zu verzichten.“ Ein Romancier, der sich dafür hergebe, eine öffentliche Rolle zu spielen, müsse damit rechnen, dass sein Werk nur noch als Anhängsel seiner Erklärungen und Stellungnahmen betrachtet werde.

Kundera am Pranger
Im Herbst 2008 aber wurde der Autor in Tschechien hinter seinem Werk hervorgezogen und ins Rampenlicht – oder eher: an den Pranger – gestellt: In der Zeitschrift „Respekt“ wurde der Schriftsteller beschuldigt, 1950 noch als Student einen Anti-Kommunisten und West-Agenten angezeigt und für viele Jahre hinter Gitter gebracht zu haben. Um sich zu verteidigen, brach Kundera mit seinen Prinzipien und gab ein Telefoninterview, in dem er die Anschuldigungen zurückwies und von einem „Atten­tat“ auf ihn als Autor sprach. Schriftsteller aus aller Welt stellten sich öffentlich hinter Kundera. Bis heute gibt es Zweifel an der historischen Beweiskraft des Dokuments, in dem Kunderas Name genannt wird.

Das ohnehin zwiespältige Verhältnis zwischen Tschechien und seinem international bekanntesten Schriftsteller hat durch diese Debatte weiter gelitten. Schon zuvor hatte die Autorin Tereza Brdečková beklagt, Kundera sei ein Beispiel für das Sprichwort, dass der Prophet im eigenen Land nichts gelte. „Die Tschechen sind wahrscheinlich irritiert, dass sich Kunderas Erzählung nicht vor allem an sie, sondern an das internationale Publikum wendet.“

Am Dienstag wird Kundera 85 Jahre alt. Wenige Tage später erscheint im französischen Original sein elfter Roman: „La fête de l’insignifiance“. Eine italienische Übersetzung dieses ersten Kundera-Romans seit fast eineinhalb Jahrzehnten gibt es schon, eine deutsche Ausgabe soll voraussichtlich im Frühjahr 2015 in die Buchhandlungen kommen, wie es beim Hanser-Verlag auf Anfrage heißt. Wann die tschechischen Leser den Roman in ihrer und Kunderas Muttersprache in die Hände bekommen, steht in den Sternen.

Wissenswertes zu Milan Kundera

-Geboren am 1. April 1929 in Brünn

-In den fünfziger Jahren schrieb Kundera zunächst Gedichte, in den Sechzigern folgten Theaterstücke, Erzählungen und sein erster Roman „Der Scherz“.

-Ende 1968/Anfang 1969 lieferte sich Kundera mit Václav Havel einen scharfen Disput über den Sinn des Prager Frühlings.

-1975 emigrierte Kundera nach Frankreich, drei Jahre später wurde ihm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt.

-Kundera veröffentlichte bisher elf Romane und mehrere Essay-Bände. Allein in Deutschland wurden fast vier Millionen Kundera-Bücher verkauft.

-Sein Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ wurde mit Daniel Day-Lewis und Juliette Binoche in den Hauptrollen verfilmt. Kundera gefiel der Film nicht, seither vergibt er grundsätzlich keine Filmrechte für seine Romane mehr.

-„Die Unsterblichkeit“ (1990) war sein bisher letztes auf Tschechisch verfasstes Buch. Seither schreibt Kundera ausschließlich auf Französisch.

-Für seine Werke wurde Kundera mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft, der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur, der Jaroslav-Seifert-Preis, der Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik und der Prix mondial Cino Del Duca.