Der Löwenzahnhimmel über Lanškroun
Genius Loci

Der Löwenzahnhimmel über Lanškroun

Eine Reise in das Schönhengster Land (Hřebečsko) mit geistlichem Beistand

2. 12. 2019 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Teichlandschaft bei Lanškroun (Lanškrounské rybníky - Dlouhý rybník)

Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“

Die Stadt Lanškroun (Landskron) liegt nur ein Stück hinter einem Hügel in östlicher Richtung von Česká Třebová (Böhmisch Trübau), wo wir nach alter Gewohnheit auf dem Bahnhof unseren Treffpunkt hatten. Zdeněk Jančařík, ein katholischer Priester ohne den üblichen römischen Kragen, war schon nicht mehr wie bislang üblich mit dem Škoda gekommen, sondern in einem Ford, und ich fragte ihn, ob die Mitglieder seiner Pfarrei das Geld für den Wagen zusammengelegt hätten. Aber Zdeněk erwiderte, mit seinen Brünner Salesianern besäße er das Auto gemeinschaftlich; zudem sei die Karre schon gebraucht, so dass sie mit Rabatt zu haben war.

Ich habe mich nicht weiter über ihn lustig gemacht, sondern mich ehrerbietig verhalten, wie es sich geziemt. Und dabei blieb ich auch, als ich feststellte, dass Zdeněk Löwenzahnstängel fraß, womit er sich angeblich das Blut reinigt. Er führte es mir auf den Wiesen rund um den Aussichtsturm auf dem Berg Lázek [mit 714 Meter die höchste Erhebung des Hohenstädter Berglandes / Zábřežská vrchovina; Anm. PZ] vor, den wir später von Lanškroun aus mit dem Ford erreichten. Der Aussichtsturm war geschlossen, die Touristenhütte Reichlova chata verwahrlost und möglicherweise ausgeraubt, jedenfalls irgendwie heruntergekommen, die Umgebung in Unordnung, als ob jemand unaufhörlich dort etwas anfinge, aber nie zu Ende führte. Das war jedoch der einzige ungünstige Eindruck von der Reise in das Schönhengster Land.

Blick auf den Lázek | © Jklamo, CC BY-SA 3.0

Lanškroun ist nämlich eine ziemlich schöne Stadt oder eher ein Städtchen, sogar ausnehmend schön, wenn wir es mit anderen Städten mit ähnlicher Nachkriegsgeschichte vergleichen, etwa im Erzgebirge. Es handelt sich um eine Stadt in den Sudeten, und zwar im Wortsinne, denn der Begriff bezeichnet im geographischen Sinne genau diesen Gebirgszug vom Erzgebirge bis zu den Höhen der Jeseníky (Gesenke). Unterhalb dieser Berge befindet sich eine gewellte Landschaft, die man früher einmal Hřebečsko nannte, was aber jetzt kaum noch jemand weiß; vor Ort habe ich das aber nicht überprüft. Das Schönhengster Land, wie die Mehrheitsbevölkerung diese Gegend einmal nannte, war die größte deutsche Sprachinsel in den böhmischen Ländern – größer als diejenige von Iglau (Jihlava) – und die Stadt Lanškroun beziehungsweise Landskron, also Krone des Landes, war ihr Zentrum, auch wenn Moravská Třebová (Mährisch Trübau) oder Svitavy (Zwittau) auf diesen Titel Anspruch erheben mögen.

Wir sind etwa gegen elf Uhr in dieses Lanškroun gekommen, stellten den Ford in einer Straße in der Nähe des Marktplatzes ab und standen vor dem Rathaus, offensichtlich einem Renaissancebau mit einem Barockturm. Der Platz war geräumig und quadratförmig, in der Mitte das Rathaus mit seinen zwei schönen und mit den Wappen der einstigen Inhaber der Herrschaft versehenen Portalen (sogleich haben wir die Pernštejner (Bärensteiner) und die Lichtenštejner (Liechtensteiner) aus der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg erkannt), so dass ich mich sofort über diese typische Erscheinung auslassen konnte, für welche die Historiker den Begriff Emphyteuse haben …

Rathaus-Portal in Lanškroun | © JP

Das ist nicht irgendeine Krankheit, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern ein Terminus aus dem deutschen Stadtrecht, wonach Städte oft dadurch entstanden, dass sie ein Lokator, der in eine kaum besiedelte Gegend kam, vermaß, einen Weiler auf der grünen Wiese gründete und in die Mitte ein Rathaus setzte, wo er selbst Bürgermeister wurde.

Sodann gab er dem Ganzen einen zugkräftigen Namen, wie das die Stadtentwickler auch heute machen, und diesem Ort hier gab er den Namen Landeskrone, was gewiss schon im 13. Jahrhundert ganz anziehend klang, als unter Přemysl Ottokar II. die Gegend kolonisiert wurde, die bis dahin von undurchdringlichen Wäldern bewachsen und nur spärlich von Slawen besiedelt war. Dazu aber brauchte man eine bereitwillige Bevölkerung, die der König ohne zu zögern aus der Fremde herbeiholte, hierhin wohl aus der Meißener Umgebung, aber sicher auch aus Brandenburg, nun ja, eben aus deutschen Landen. Diese historische Tat bewirkte, dass der Landstrich fortan rund siebenhundert Jahre lang von Menschen deutscher Zunge besiedelt wurde, wobei es freilich erst nach dem Dreißigjährigen Krieg zur vollständigen Germanisierung kam.

Rathaus in Lanškroun | © APZ

Irgendwo hier an der Mauer des Rathauses fanden diese siebenhundert Jahre ihr Ende. Auf diesem ruhigen und jetzt am Samstagnachmittag menschenleeren Platz fand am 17. und 18. Mai 1945 das sogenannte Partisanengericht von Lanškroun statt, zwei Tage brutaler Vergeltung auf öffentlichem Grund. Der Historiker Tomáš Staněk schreibt darüber in seinem Buch Perzekuce 1945 (Verfolgung 1945) in nüchternen Sätzen:

„Mit der Roten Armee kamen die Partisanen des Kommandos J. Hýbl-Brodecký hier an, zunächst 80, dann 350 Männer [wo kamen bloß plötzlich so viele Partisanen her? Anm. JP], die damit begannen, die Deutschen in Haft zu nehmen, die der Kollaboration mit den Nazis verdächtig waren. Auf der Grundlage von Informationen einheimischer Tschechen und von Erkenntnissen von Widerstandskämpfern ließ der Mühlen- und Sägewerksbesitzer J. Hrabáček aus Výprachtice (Weipersdorf) bestimmte Personen verhaften. (…) Am 17. Mai wurden die Deutschen aus Lanškroun und aus den umliegenden Orten auf dem Markt vor dem Rathaus versammelt. Hier saß unter dem Vorsitz von J. Hrabáček unter freiem Himmel das Revolutionstribunal zu Gericht und verurteilte die vorab ausgewählten oder an Ort und Stelle von Tschechen benannten Deutschen, die sich während der Besatzung angeblich irgendetwas hatten zu Schulden kommen lassen, zu grausamen Strafen: zu Schlägen, Erhängen und Erschießen. Die Verurteilten und verhafteten Personen wurden brutal misshandelt, unter anderem durch Ertränken im nahegelegenen Löschteich.“

Denkmal für die Opfer des „Blutgerichts“ auf dem Friedhof

Die Angaben über die Anzahl der Hingerichteten oder Erschlagenen gehen auseinander: Tschechische Quellen führen zwanzig Hingerichtete an, die deutschen Quellen sprechen von an die Hundert zu Tode Gekommenen, wobei sie offenbar auch diejenigen mitrechnen, die den Freitod gewählt haben.

Einen dramatischen Abschied vom Leben nahm eine Deutsche, die sich in ihrem Haus am Marktplatz, das sie kurz zuvor angezündet hatte, selbst erhängte. Der Brand soll die Sitzung des Revolutionstribunals beendet haben. Nach späteren Erinnerungen von J. Hrabáček, eines wirklichen Widerständlers und des ersten Nachkriegsbürgermeisters von Lanškroun, der 1951 zum politischen Häftling wurde (das Urteil lautete auf 24 Jahre Haft), „geriet das Tribunal außer Kontrolle“ und verwandelte sich in drastische Lynchjustiz. Einige hundert Deutsche standen zwei Tage lang mit erhobenen Armen auf dem Marktplatz. Wer sie heruntersinken ließ, wurde geschlagen und gequält, musste Bilder von Adolf Hitler tragen, auf die die Tschechen spuckten, wonach die Deutschen den Speichel ablecken mussten; mindestens zwei Deutsche wurden buchstäblich zertrampelt, und andere wurden im Löschteich ertränkt, dessen Mauer wenige Meter vom Rathaus entfernt war und auf der man heute friedlich sitzen kann …

Daniela Kubičková beschreibt in ihrer Diplomarbeit (2016, Karlsuniversität) diese zweitägige Lynchorgie in ihren Einzelheiten; man kann die Arbeit im Internet einsehen. Und ich schreibe hier lieber gleich ganz klar, dass ich weiß, was dem vorausging, dass es davor die Anhänger von Henlein gab und das Münchner Abkommen und die Abtrennung der Sudeten und die Besetzung des Rests von Böhmen und Mähren und dass eines aus dem anderen hervorgeht. Aber schon damals wurden diese Taten von mutigen Leuten, Tschechen, als „tschechischer Gestapismus“ bezeichnet, und sie wurden wahrgenommen als Vorboten eines Unrechts, dessen nächste Opfer schon die Tschechen selbst sein werden.

Inschrift am 2001 enthüllten Denkmal auf dem Friedhof Lanškroun

Da stand ich also mit Zdeněk am 18. Mai, genau am Jahrestag, doch kamen wir nicht darauf, denn der Marktplatz war instand gesetzt und menschenleer. Das Informationsbüro war am Samstag logischerweise geschlossen. Wir setzten also unsere Besichtigungstour fort und zogen zuerst Richtung Bahnhof, betrachteten durch ein Gitter die im Empirestil gebaute Maria-Magdalena-Kirche und gingen weiter, bis wir nach einer Weile zu einer beachtenswerten Villa vom Ende des 19. Jahrhunderts kamen (die Langer-Villa, benannt nach dem Unternehmer Rudolf Emil Langer, 1847-1915). Sie glänzte nach ihrer Renovierung wie neu, und an ihrer Seite war ein sehr moderner Anbau entstanden, nämlich das erst Anfang April 2019 fertiggestellte Kulturzentrum, das über hervorragende Referenzen hinsichtlich seiner Akustik und überhaupt wegen seiner Ausstattung verfügt.

Maria-Magdalena-Kirche | © JP

Danach machten wir uns wieder auf den Rückweg, und ein teuflischer Versucher führte uns an dem verstaubten Schaufenster eines Sex-Shops vorbei, wo ich gemeinsam mit dem katholischen Geistlichen zu erraten versuchte, wozu die seltsamen Dinge wohl gut sein könnten (die Geißeln und Latexkleidung haben wir noch verstanden, aber irgendwelche kuriosen Plüschschnecken schon nicht mehr).

Dobrovský-Straße in Lanškroun | © Pavel Vlach, CC BY-SA 4.0

Weiter ging es zu dem Denkmal des berühmtesten Sohnes der Stadt, Jan Marek Marků z Kronlandu (Johannes Marcus Marci de Cronland, 1595-1667), Rektor der Prager Universität, Erforscher des Regenbogens und Tüftler an der Quadratur des Kreises. Sodann führte uns der Weg auf einen Platz, der jetzt nach Jirásek [Alois Jirásek, 1851-1930, tschechischer Schriftsteller, Historiker und Politiker; Anm. PZ] benannt ist; früher hieß er Josefsplatz. Dort standen in kleinen Gruppen festlich gekleidete Leute herum, die wir zutreffend als Hochzeitsgesellschaft errieten. Hier stand ein Augustinerkloster, das 1377 der Bischof von Litomyšl (Leitomischel) mit dem sympathischen Namen Petr Jelito (Peter Wurst) gründete. Allerdings wurde das Kloster bereits 1421 nach den damaligen Rezepten des Fortschritts von den Hussiten niedergebrannt. Einige Augustiner kehrten erst in der Barockzeit zurück, als die Liechtensteiner ihnen die Verwaltung der Pfarrkirche St. Václav übertrugen, in die wir nun demütig eintraten.

Grabplatte für Peter Wurst | © APZ

Mit flinken Schritten ging ein Mann von geckenhaftem Aussehen durch die Sakristei. „Ist das nicht Vater Zbigniew?“ fragte Zdeněk so vor sich hin. – „Na klar, das ist doch Czendlik, der Priester und Fernsehstar“ [Zbigniew Czendlik, ein Priester polnischen Ursprungs und Dekan von Lanškroun, tritt häufig in Fernsehsendungen auf und wird in ganz Tschechien zu den verschiedensten Anlässen engagiert; zum Beispiel sprach er erst vor wenigen Wochen bei der Trauerfeier für Karel Gott im Veitsdom; Anm. PZ], bemerkte ich nun, „was macht der denn hier?“ – „Genau, er ist doch Dekan hier in Lanškroun“, erinnerte sich Zdeněk, und wunderte sich, wie er das nur vergessen konnte. – „Verstehe ich auch nicht, so ein tschechischer katholischer Superstar, da haben wir Glück!“ – „Vater Zbigniew, grüß Gott!“, sprach ihn jetzt Zdeněk an. – „Gott segne Euch“, entgegnete Dekan Zbigniew mit Teschener Akzent, und wir machten uns miteinander bekannt.

Kirche des Heiligen Wenzel (Kostel sv. Václava) | © JP

Die Kollegen Zbigniew und Zdeněk, beide Priester ohne römischen Kragen, fanden rasch heraus, dass sie sich eigentlich schon einige Male gesehen hatten und sich selbstverständlich aus dem Katholischen Wochenblatt kannten, in dem Zdeněk regelmäßig publiziert. Auf meine Frage, wie lange er schon hier in Lanškroun sei, erwiderte Dekan Czendlik augenzwinkernd, bereits über zwanzig Jahre „verderbe“ er hier die Leute. Ich wünschte ihm, er möge dieses Werk des „Verderbens“ mit Nachdruck fortsetzen, worauf wir herzlich lachten. Dann aber entschuldigte er sich, er müsse gehen und sich umkleiden, denn gleich werde er eine Trauung vornehmen. Wir gingen um das Gotteshaus herum, und als wir zum Portal zurückkehrten, war die Kirche voll und vor Zbigniew Czendlik knieten schon Braut und Bräutigam. Wir machten uns auf in die Berge zum Löwenzahn.

Schloss Landskron wurde an der Stelle des zerstörten Klosters errichtet. | © JP

Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Pampeliškové nebe nad Lanškrounem“ in der Ausgabe 22 vom 30. Mai 2019 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.

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