Der kritische Essayist
Gespräch

Der kritische Essayist

Milan Kundera wird 90. Literaturwissenschaftler Tomáš Kubíček über Schuldfragen, literarische Vorfahren und die Sehnsucht nach dem Kitsch

1. 4. 2019 - Interview: Peter Lange, Titelbild: Elisa Cabot, CC-BY-SA 2.0 (1980)

PZ: Sie kennen Milan Kundera recht gut, als sein Biograf und auch persönlich. Wie würden Sie ihn charakterisieren?
Tomáš Kubíček: Er entspricht dem Bild, das man von ihm auch als Schriftsteller durch seine Werke bekommt. Er ist ein kritischer, ironischer Intellektueller.

Welche Bedeutung haben Kundera und sein Werk heute?
Sein literarisches Werk hat eine sehr große Bedeutung. Wir bereiten zur Zeit mit anderen Kollegen eine Bibliographie von Milan Kundera vor. Dabei haben wir die Zahl der Übersetzungen und Ausgaben seiner Werke in aller Welt gezählt. Wir sind auf mehr als 3000 gekommen. Im vergangenen Dezember ist der Roman „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ auf Malayalam erschienen. Das ist eine Sprache in Indien, die dort von 38 Millionen Menschen gesprochen wird. Allein daran kann man sehen, welche Bedeutung Kundera hat.

In seiner Generation gibt es ja eine Kategorie von Intellektuellen, die alle einen ähnlichen Weg gegangen sind: vom idealistischen Kommunisten in der Stalinzeit über den Reformkommunisten von 1968 zum Nicht-Kommunisten oder Anti-Kommunisten danach. Gehört Kundera auch in diese Kategorie?
Nein, zu Kundera passt keines dieser Klischees. Schon seine erste Gedichtsammlung war sehr kritisch gegenüber der kommunistischen Gesellschaft. Er spricht dort über die Kommunisten, die sich in Glastürme eingeschlossen hätten. Er hat auch die Schauprozesse in den fünfziger Jahren in den Gedichten thematisiert und zwar eindeutig negativ.

Wenn man sich ein paar seiner wichtigsten Werke anschaut, etwa „Der Scherz“ oder „Das Buch der lächerlichen Liebe“ oder das „Buch vom Lachen und Vergessen“ oder „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“: Gibt es in seinem Werk eine Klammer oder einen gemeinsamen Nenner?
Es geht bei ihm immer um das gleiche Thema: um Fragen der Identität, um die Verantwortung des Menschen für sein Tun, um das Verhältnis des Menschen zur Geschichte, zu seiner Geschichte. Die eigentliche Handlung, das Geschehen, ist für ihn immer Oberfläche und gar nicht so wichtig. Es muss etwas passieren, aber das ist unwichtig. Wenn Sie sich „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ anschauen, weiß der Leser schon in der Mitte des Romans, dass beide Helden sterben werden. Und Kundera sagt: Es ist unwichtig. Wichtig ist das Denken in dieser Situation, in diesem Moment, über den ich schreibe. Und wichtig ist, was dahinter und darunter stattfindet. Die Wahrnehmung der Realität enthält immer auch ein Gefallen für den Leser. Um es konkret zu machen: Sie erinnern sich vielleicht an den Essay über den Kitsch. Der Kitsch sei ein Übel im System der Welt, das man ablehnen müsse, weil es falsch ist. Und dann gibt es zum Beispiel in einem Roman einen Hund. Der stirbt auf einmal, sehr lange und über viele Seiten und sehr schmerzhaft. Kein Leser bleibt ohne Tränen. Kundera sagt damit: Sehen Sie, Sie lehnen rational den Kitsch ab. Aber Sie brauchen ihn emotional.

Milan Kunderas Werk gehört heute unbestritten zur Weltliteratur. Was macht ihren Wert und ihre Bedeutung aus?
Die Fragen, um die es ihm geht, sind die Fragen an die menschliche Existenz. Und die sind überall dieselben. Das ist interessant und wichtig, ob in Frankreich, in China, in Korea oder anderswo. Die wichtigste Frage bei Kundera lautet: Bin ich verantwortlich für das, was ich tue, und bin ich auch dann noch verantwortlich, wenn das, was ich getan habe, in der Welt ist und auf den Kontext reagiert? Und auch dann, wenn ich nichts mehr daran ändern kann? Und die Antwort ist: Ja. Du bist immer verantwortlich, für alles, was aus deinem Tun entsteht. Auch wenn du die Situation nicht verändern oder moderieren kannst. Das ist das Zentrum der Tragödie bei Kundera. Die Menschen sind immer verantwortlich für das, was sie getan haben. Niemand ist schuldlos.

Und wen würden Sie als seine literarischen Vorfahren sehen? Goethe – Thomas Mann – Kundera?
Nein, das ist eine andere Linie: Cervantes, Hermann Broch, James Joyce, Robert Musil. Der Roman als ein Werkzeug der Selbsterkenntnis, um sich selbst besser zu verstehen, oder auch nicht. Ich nenne das eine Ethik der Moderne. Das kann man bei Joyce finden oder bei Virginia Woolf. Und ein ganz wichtiges Werkzeug für Kundera ist der Essay, der essayistische Roman, das ist das, woran er immer arbeitet.

Juliette Binoche und Daniel Day-Lewis in „The Unbearable Lightness of Being“ (1988)

Viele kennen Kundera überhaupt nur durch die Verfilmung von der „Unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Er gilt häufig als ein Film über die Niederschlagung des Prager Frühlings. Manche stoßen sich heute an dem Frauenbild, das der Film transportiert. Wie sehen Sie diesen Film?
Das ist ein schlechter Film. Denn er reduziert Kundera auf die politische Ebene. Das ist komisch: In seinen Romanen war er nie ein politischer Kommentator. Politik ist nur eine Oberfläche. Es geht um die Ebene der Existenz.

Gegen Milan Kundera sind vor einigen Jahren Vorwürfe erhoben worden, wonach er in den Fünfzigern einen Studenten bei den Sicherheitsbehörden denunziert haben soll. Was er immer strikt zurückgewiesen hat. Wie sehen Sie diese Geschichte heute?
In Tschechien wurde der Fall damals natürlich heftig diskutiert. Aber aus meiner Sicht ist sein Anteil an der Geschichte nie bewiesen worden. Im Gegenteil: Der Literaturhistoriker Zdeněk Pešat hat glaubwürdig bezeugt, dass Kundera nichts damit zu tun hatte. Pešat hat sich nach seiner eigenen Aussage mit dem Menschen getroffen, der damals tatsächlich diesen Studenten denunziert hat. Als er das öffentlich klarstellen wollte, hat sich aber von den Zeitungen, die über den angeblichen Fall vorher groß berichtet hatten, niemand mehr interessiert.

Allerdings hat das Milan Kundera so sehr verletzt, dass er seither Interviews mit Journalisten ablehnt …
Das hat nicht mit diesem Fall zu tun. 1985 hatte Kundera einer französischen Zeitung ein Interview gegeben und hinterher mitbekommen, dass etwas völlig anderes gedruckt wurde, als was er erzählt hatte. Seitdem weigert er sich, als öffentliche Person aufzutreten.

Kundera hat sich ja eigentlich nicht als Exilant gesehen. Was ist er nun: Ein Auswanderer?
Milan Kundera ist 1975 nach Frankreich gegangen, um dort an einer Universität zu lehren. Als er sein Visum durch die Behörden der ČSSR verlängern lassen wollte, wurde das abgelehnt. Er müsse zuerst zurückkehren und dann werde sein Visum vielleicht verlängert. Nach der Erfahrung anderer Exilanten war für ihn die Bedeutung ganz klar: Wenn ich zurückkehre, werden sie mich nicht mehr nach Frankreich reisen lassen. Also ist er dort geblieben. Er hat sich geweigert zurückzukehren und deshalb wurde ihm später die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt.

Wie ist sein Verhältnis zu Tschechien heute?
Kundera hat ein sehr gutes Verhältnis zu Tschechien, auch wenn er zu offiziellen Anlässen nie hier war. Aber er ist mehrere Male in seiner Heimatstadt Brünn gewesen. Und wir bereiten dort jetzt mit ihm zusammen eine Ausstellung zu seinem Werk vor, die später auch in Prag zu sehen sein wird.

Verfolgt Kundera auch das aktuelle Geschehen in seiner „alten“ Heimat?
Wenn wir uns unterhalten, dann weiß er Bescheid, was hier passiert und kommentiert das auch. Aber er ist Teil der Weltkultur und ein Weltbürger. Wenn ich aus diesem mental geschlossenen Raum zu ihm komme, dann ist es nicht unüblich, dass er mich informiert, wie bestimmte Entwicklungen in Frankreich, in Amerika und sogar in Deutschland im Kontext zu sehen sind. Er kennt sich da besser aus als ich.

Seine letzten Romane hat er auf Französisch geschrieben, und viele finden es befremdlich, dass sie nicht ins Tschechische übertragen werden. Will er das wirklich nicht?
Das stimmt so nicht. Im vorigen Jahr ist hier sein Roman „Das Leben ist anderswo“ erschienen. Aber er hat mir einmal gesagt: Weißt Du, wenn ich einen Roman von mir übersetze, kostet es mich ein ganzes Jahr. Ich habe nicht so viel Zeit.

Und es geht nicht, die Übersetzung jemand anderem zu überlassen?
Nein. Für die erwähnte Ausstellung habe ich einen Auszug aus einem noch nicht übersetzten Roman ins Tschechische übertragen. Das war eine riesige Arbeit. Denn jedes Wort hat seinen Sinn. Das hat mich drei Tage gekostet. Ich sagte: Milan, dieses Wort bedeutet vielleicht etwas anderes. Er widersprach mir und sagte: Es bedeutet das, was ich mir gerade denke. Und ich: Aber wirklich Milan, das ist etwas zu alt. Nein, sagt er, das ist nicht zu alt. Nur in diesem Sinn hat es einen Sinn. Es ist schwer, die Romane von Kundera zu übersetzen. Es ist kein Egoismus, dass er die Romane auch auf der Wortebene kontrollieren möchte. Das kennen Sie von Martin Luther, der vor der Frage stand, ob er die Bibel verdeutschen oder übersetzen sollte. Er hat sie verdeutscht. Das Problem kennt jeder Übersetzer. Es ist Kunderas Verständnis von Verantwortung für die Wörter. Bei ihm ist das sehr stark ausgesprägt. Es ist ein Ringen um die Semantik, um die Bedeutung des Wortes in der jeweiligen Sprache und im jeweiligen Kontext. Und das ist der Grund, warum das kaum jemand übersetzen kann.

Wissen Sie, ob er noch an einem neuen Werk arbeitet?
Es gibt nur wenige Autoren, die sagen: Ich schreibe etwas, ich bereite etwas vor. Kundera gehört nicht zu dieser Gruppe. Wenn er etwas macht, dann macht er das in Ruhe, und ohne dass Journalisten davon etwas wissen.

Kubíček am Eingang der Mährischen Landesbibliothek | © Pavel Charousek

TOMÁŠ KUBÍČEK
Der 1966 in Brünn geborene Literaturwissenschaftler und Historiker lehrt seit 2003 an der Karls-Universität Prag. Im Jahr 2014 trat Tomáš Kubíček die Stelle des Direktors der Mährische Landesbibliothek in Brünn (Moravská zemská knihovna) an – und führt damit die Arbeit seines Vaters Jaromír Kubíček fort, der die zweitgrößte Bibliothek Tschechiens über 30 Jahre lang leitete. Kubíček veröffentlichte zahlreiche Monografien, Sammelbände und Fachartikel zur tschechischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Im März 2019 verantwortete er als Projektleiter den Auftritt Tschechiens als Gastland auf der Leipziger Buchmesse.

Milan Kundera | © Gallimard

MILAN KUNDERA

Geboren am 1. April 1929 in Brünn

In den fünfziger Jahren schrieb Kundera zunächst Gedichte, in den Sechzigern folgten Theaterstücke, Erzählungen und sein erster Roman Der Scherz.

Ende 1968/Anfang 1969 lieferte sich Kundera mit Václav Havel einen scharfen Disput über den Sinn des Prager Frühlings.

1975 emigrierte Kundera nach Frankreich, drei Jahre später wurde ihm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt.

Kundera veröffentlichte bisher elf Romane und mehrere Essay-Bände. Allein in Deutschland wurden fast vier Millionen Kundera-Bücher verkauft.

Sein Welterfolg Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins wurde mit Daniel Day-Lewis und Juliette Binoche in den Hauptrollen verfilmt. Kundera gefiel der Film nicht, seither vergibt er grundsätzlich keine Filmrechte für seine Romane mehr.

Die Unsterblichkeit (1990) war sein bisher letztes auf Tschechisch verfasstes Buch. Seither schreibt Kundera ausschließlich auf Französisch.

Im Jahr 2014 erschien Kunderas bisher letzter Roman Das Fest der Bedeutungslosigkeit (zur Rezension).

Kommentare

Netiquette
  1. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich, nach einem Artikel über den Verrat, den Kundera angeblich verübt hatte, von ihm abgewandt. Und ich habe ihn zuvor wirklich extremst verehrt. Für mich war er einer der Größten. Aber gerade, wenn man Romane mit so hohem moralischen Anspruch schreibt, muß man selbst eine, zumindest relativ, weiße Weste haben. Und einen Menschen für 14 Jahre (eigentlich 22) ins Gefängnis zu bringen, dazu gehört schon etwas! Das ist nicht hinnehmbar, im Sinne, ihn weiterhin zu verehren.
    Wenn nun hier behauptet wird, Kundera habe das gar nicht getan……..Also, das macht mich sprachlos. Kundera gilt jetzt weltweit als Verräter und da ist es die Sache nicht wert, korrigiert zu werden? Das ist für mich unverständlich, gerade in einer Sache von derart extremer Schwere.
    Warum hat Kundera nicht um seine Entlastung gekämpft? Gerade das läßt ihn als Schwächling, oder aber eben Täter dastehen. Und wenn jemand wirklich etwas über diese Sache w e i ß, dafür soll sich niemand mehr interessieren? Kein Journalist? Niemand? Oh, mein Gott, dann leben wir wirklich in einer Zeit ÄUßERSTER BELANGLOSIGKEIT.





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