„Das Problem gibt es schon ewig“
Interview

„Das Problem gibt es schon ewig“

Die Sozialarbeiterin Carina Brauer über ihre Erfahrungen mit Crystal und alternative Ansätze der Drogenbekämpfung

6. 2. 2013 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Find Rehab Centers, CC BY 2.0

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) kündigte Ende letzten Jahres nochmals an, Drogenküchen in Tschechien stärker bekämpfen zu wollen. Auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) wies erneut auf die stark wachsende Einfuhr von Crystal über die deutsch-tschechische Grenze hin. Im Gegensatz zu Politik und Polizei wünschen sich Drogenberater eine differenziertere Einschätzung der Problematik. Dies erläutert Carina Brauer (33), die bei der Nürnberger Drogenhilfe Mudra arbeitet und vor einigen Jahren selbst Crystal konsumierte, im Interview mit Klaus Hanisch.

Zwei Schüler, 15 und 16 Jahre alt, fuhren letzthin an einem schulfreien Tag mit dem Zug von Fürth zu einer Einkaufstour nach Cheb. Bei der Rückkehr fand die Polizei in ihren Unterhosen zwei Gramm Crystal. Ist das bayerisch-böhmische Grenzgebiet endgültig zum „neuen Amsterdam“ geworden?
Brauer: Ja, wahrscheinlich schon. Es ist viel zu einfach und wird auch in Medien anhand von Bildern oft deutlich gezeigt, dass man auf die asiatischen Märkte in Tschechien fahren und dort diesen Stoff kaufen kann. Das ist überhaupt kein Problem, das kann jeder, eben auch 15- und 16-Jährige.

Wie läuft das auf den Märkten ab?
Brauer: Man geht einfach an einen Stand und verlangt „Piko“. Dann geht der Verkäufer hinter den Tisch und kramt den Stoff hervor. Das geht per Zeichensprache: ein Finger – ein Gramm, zwei Finger – zwei Gramm. Dafür braucht man kein Tschechisch oder Vietnamesisch zu können.

Bayern galt lange als Transitland für Crystal. Nach neuesten Aufgriffen in Nürnberg fürchtet die Polizei nun, dass die Droge auch die Großstädte erreicht. Können Sie das bestätigen?
Brauer: Auf jeden Fall. 70 bis 80 Prozent der Neuaufnahmen bei uns sind Crystal-Leute. Allerdings kommen einige auch aus Bad Staffelstein oder Unterfranken, weil es ja nur wenige Beratungsstellen wie unsere gibt.

Crystal soll bereits in geringen Mengen und schon nach einmaligem Konsum abhängig machen. Und es soll verheerende gesundheitliche Folgen haben.
Brauer: Ich kann nicht bestätigen, dass es schon beim ersten Mal abhängig macht. Das ist Panikmache – auch wenn der Stoff wirklich nicht ungefährlich ist! Man muss dabei aber auch zwischen einem problematischen Konsum und Abhängigkeit unterscheiden.

Was ist der Unterschied?
Brauer: Wenn man die Droge in Zusammenhang mit einer bestimmten Absicht nimmt – zum Beispiel längeres Feiern, längeres Arbeiten, weniger Angst vor dem Chef –, dann kann man von einem problematischen Konsum sprechen. Bei einer Abhängigkeit müssen dagegen bestimmte Kriterien erfüllt sein, vor allem muss man über eine gewisse Zeit täglich konsumieren. Crystal macht nicht körperlich abhängig, sondern psychisch. Doch die Psyche „gaukelt“ dem Körper Erschöpfung, Antriebslosigkeit, auch Muskelkrämpfe vor. Deshalb spricht man auch von einer körperlichen Abhängigkeit, was aber so nicht stimmt.

Als Folgen werden oft unheilbare Psychosen, Halluzinationen sowie starke körperliche Abhängigkeit schon nach kurzer Zeit angeführt.
Brauer: Wenn man sieben Tage lang hintereinander konsumiert, nicht richtig isst und trinkt und kaum Schlaf hat, dann kann man natürlich auch Halluzinationen erleben. Oder Psychosen. Wenn man den Konsum einstellt, gegessen und geschlafen hat, mildern sie sich jedoch wieder ab und verschwinden nach gewisser Zeit. Wo sie bleiben, sind Konsumenten oft familiär oder genetisch mit entsprechend höherem Risiko vorbelastet.

Kürzlich wurde der Fahrgast eines Taxis mit fünf Gramm Crystal gestellt. Die Taxifahrerin selbst fuhr ebenfalls unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln. Ist das ein neuer Trend, zum Konsum von Crystal nach Tschechien zu fahren, um die Droge gleich vor Ort einzunehmen?
Brauer: Ich hatte kürzlich auch einen Klienten, der Angst hatte, drüben erwischt zu werden. Deshalb hat er das ganze Paket geschluckt und musste wegen einer Überdosis ins Krankenhaus. Als Ex-Konsument weiß ich: Wenn man gierig auf das Zeug ist, dann zieht man natürlich eine „Line“ gleich vor Ort und wartet nicht bis man zuhause ist. Wenn man das Zeug konsumiert, fühlt man sich gut, stark. Und wenn man es nicht hat, ist genau das Gegenteil der Fall.

Die Polizei registriert immer mehr Erstkonsumenten, und das sind nicht nur Jugendliche, sondern auch zahlungskräftige Konsumenten, die bereits Erfahrungen mit Drogen haben.
Brauer: Es gibt auch bei uns „Stammklienten“, die von Heroin auf Crystal umsteigen. Aus einem einfachen Grund: Wenn sie Crystal intravenös konsumieren, dann ist die Wirkung ähnlich wie bei Heroin. Man ist ähnlich „geflasht“, hat einen extremen Kick, der ganze Körper vibriert. Crystal ist zudem extrem verfügbar und ergiebig. Ein Gramm Crystal ergibt mehr Kicks als ein Gramm Heroin, weil davon auf der Straße meist auch schlechtere Qualität angeboten wird.

Am Landgericht Gera wurden zwei Frauen angeklagt, die Crystal aus Tschechien importiert und in Gera verkauft hatten, weil sie sich angeblich über hohe Drogenpreise in Thüringen ärgerten. Wie groß sind die Preisunterschiede?
Brauer: Auf den Märkten in Tschechien zahlt man für ein Gramm Crystal zwischen 45 und 50 Euro, und je mehr man kauft, umso billiger wird es. Der Verkaufswert in Deutschland liegt zwischen 70 und 100 Euro. Da kann man sich die Gewinnspanne leicht ausrechnen.

Man spricht immer von Küchenlaboren im Grenzgebiet, in denen Crystal hergestellt werden soll. Steckt hinter einem solchen Geschäft auch organisiertes Verbrechen?
Brauer: Wir beraten meist Kleinkonsumenten, die eventuell nur deshalb dealen, um den eigenen Konsum zu finanzieren. Über Großverdiener oder eine Mafia weiß ich nichts. Ich weiß aber, dass Crystal quasi schon ewig in Tschechien „gekocht“ wird. Und dass sich Familien damit gleichsam ihren Lebensunterhalt verdienen, die sonst keine Möglichkeit hätten, an Geld zu kommen und ihre Kinder zu ernähren.

Das klingt ja wie bei Koka-Bauern in Südamerika. Wie kommen Sie darauf?
Brauer: Aus persönlicher Erfahrung. Ich bin selbst vor elf Jahren zweimal nach Tschechien zu solch einer Küche gefahren und habe mit dem Verkäufer gesprochen. Er sagte, es gebe für ihn keine andere Möglichkeit, dort zu arbeiten. Ob es stimmte, weiß ich nicht. Aber seine Behausung war unter aller Sau. Drei kleine Kinder liefen mit verdreckter Kleidung herum, und er behauptete, sie anders nicht satt zu bekommen. Zwei Kampfhunde vor der Tür sicherten sein „Geschäft“.

War das ein Vietnamese? Vor allem ihnen wird nachgesagt, Crystal herzustellen und zu verbreiten.
Brauer: Nein, es war ein Tscheche.

Sie arbeiten seit einem Jahr für Mudra in der Drogenberatung. Wieso waren Sie damals schon in Tschechien?
Brauer: Ich habe mit 15, 16 Jahren selbst angefangen, Drogen zu konsumieren. Damals war ich eine Techno-Maus und ein paar Jahre lang Konsument von sogenannten Party-Drogen. Einige Zeit auch von Crystal.

Was unterscheidet die Crystal-Szene von anderen Drogen-Cliquen?
Brauer: Diese Szene trifft sich nicht draußen auf der Straße und lungert herum, sondern es spielt sich alles in privaten Wohnungen ab. Dabei sind es ganz normale Typen vom Lehrling bis zum Abteilungsleiter bei einer Bank.

Was hat Sie an Crystal begeistert?
Brauer: Ich hatte damit kein Problem, tagsüber zwei Jobs zu erledigen und abends auch noch in der Szene unterwegs zu sein. Je nachdem wie ich es konsumiert habe, hatte es immer eine andere Wirkung. Leistung, Aufmerksamkeit und Konzentration stiegen, ungeliebte Arbeit fiel leichter. Aber ich wurde auch depressiv, schläfrig, hatte keine Kraft mehr, nahm extrem ab bis auf 45 Kilo.

Was hat sie davon weggebracht?
Brauer: Um unseren Konsum zu finanzieren, haben mein damaliger Freund und ich irgendwann auch die Hälfte unseres Einkaufs weiterverkauft. Bis die Polizei kam und mein Anwalt mir dringend zu einer Therapie riet, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Diese Therapie zeigte mir, dass ich viel verloren hatte, meine schönen Möbel, mein Auto und anderes. Diese Erfahrungen wollte ich positiv nutzen, indem ich das Fachabitur nachholte, Sozialpädagogik studierte und nun bei Mudra hauptberuflich arbeite.

In Tschechien erhöht sich die Zahl der Süchtigen, die zu harten Drogen greifen, besonders zu Crystal. In Bayern steigt die Menge an sichergestelltem Crystal deutlich an. Hat die Politik das Problem zu spät erkannt?
Brauer: Richtig ist, dass sich das Problem innerhalb der letzten zwei, drei Jahre weiter ausbreitet und jetzt tief ins bayerische Fleisch vorarbeitet. Aber das Problem selbst gibt es seit Ewigkeiten. Schon die Nazis glaubten, dass „Arier“ dadurch noch stärker und leistungsfähiger würden. Bekannt wurde Crystal beziehungsweise Pervitin spätestens durch seine Verwendung bei Soldaten im Zweiten Weltkrieg und war sogar lange auch als Medikament zugelassen. Wobei in Tschechien unter Eingeweihten eben auch der Begriff „Piko“ für den Stoff kursiert.

Die bayerische Staatsregierung will im Grenzgebiet nun noch schärfere Kontrollen durchführen. Hilft das weiter?
Brauer: Ich kann mir nicht vorstellen, dass mehr Leute als früher nach Tschechien fahren und dort den Stoff einkaufen. Dass mehr Erstkonsumenten entdeckt werden, hängt vielmehr auch damit zusammen, dass schon jetzt mehr kontrolliert wird.

Bayerische Politiker machen vor allem die tschechische Drogenpolitik dafür verantwortlich, dass sich Crystal so stark ausbreitet. Tragen auch aus Ihrer Sicht die dortigen liberaleren Drogengesetze die Hauptschuld?
Brauer: Man macht es sich vielleicht zu einfach, andere Gesetze zu fordern und zu denken, die Probleme würden dadurch verschwinden.

Anders gefragt: Hätten Sie weniger Klienten, wenn es schärfere Gesetze in Tschechien gäbe?
Brauer: Das glaube ich nicht. Meiner Einschätzung nach kann die tschechische Regierung mit dem Drogenproblem besser umgehen, wenn sie höheren Einzelbedarf zugesteht und Kapseln verteilt – als Schaden minimierende Maßnahme. Gleichzeitig achtet sie ja auch verstärkt auf den Einkauf der Grundstoffe, die zur Herstellung der Drogen gebraucht werden, und will die Einfuhr aus dem Ausland verhindern, etwa aus Deutschland oder Polen.

Wie ist das Crystal-Problem Ihrer Meinung nach zu lösen?
Brauer: Dafür muss man auch die gesellschaftliche Ebene betrachten, den Leistungsdruck mit immer höheren Anforderungen. Ich habe hier ganz viele Bäcker, Köche, Lager- und Schichtarbeiter, bei denen der Chef offensichtlich weiß, dass sie Crystal konsumieren. Das wird von ihm toleriert, solange sie bis zu 18 Stunden am Tag arbeiten ohne umzufallen. Es gibt ganz verschiedene Konsumenten. Facharbeiter, die Tausende Euro für Crystal ausgeben, aber auch Hartz-IV-Empfänger. Diese speziellen Zielgruppen brauchen auch spezifische Angebote. Dafür arbeiten wir gerade an Konzepten.

Wie könnte ein solches aussehen?
Brauer: Das klassische Rezept „Drogenberatung und stationäre Therapie“ schlage ich in diesem Fall nicht vor. Man muss die Leute frühzeitig ansprechen, auch wieder mehr präventiv in der Club-Szene arbeiten und das Internet verstärkt nutzen. Dort gibt es im Ausland schon das Programm „Snow-Control“, wo Leute viel über Konsum, Reduktionsmöglichkeiten oder alternative Handlungsstrategien erfahren, ohne zu einer Beratungsstelle gehen zu müssen. Damit könnte man auch mehr Leute auf dem Land erreichen, wo laut einer Studie im Schnitt mehr konsumiert wird als in der Stadt.

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